Warum ich allergisch auf Prophezeiungen bin

Warum ich allergisch auf Prophezeiungen bin

Unsichere Zeiten sind Blütezeiten für Trendforscher, Prognostiker und andere Propheten. Dabei kommt oft viel Müll raus, weil wir angesichts glitzernder Visionen zu wenig Augenmerk auf die banalen logischen Entscheidungen legen, die den Weg zu all diesem Glitzer ermöglichen. Dabei sind das die eigentlich relevanten Momente.

Trends sind eine dankbare Angelegenheit. Sie betreffen immer die Zukunft, sie verändern sich, manchmal sind sie eine langwierige Angelegenheit, andere verpuffen, kaum wurden sie diagnostiziert. Bewegte Zeiten sind noch bessere Zeiten für Trenddiagnostiker: Es liegt auf der Hand, dass sich etwas ändern könnte, Trends beschreiben Veränderung – also bricht hier ihre Blütezeit an. Und die Welt hungert in bewegten Zeiten nach Trends, wenn alles in Bewegung und nichts mehr selbstverständlich erscheint, dann ist auch die kryptischste Prophezeiung willkommen. Sie könnte einen Hinweis darauf geben, was man tun kann oder soll, wie man Ungewissheiten begegnet. Auch wenn sie kaum schlüssiger ist als ein Horoskop. Irgendwas wird in den Raum gestellt. Es könnte plausibel sein, wenn man denn möchte, dass es plausibel ist. Aber es ist dennoch – mindestens ebenso beliebig.  Ich entwickle zunehmend eine Allergie gegen diese Arten von Zukunftsdiagnostik und Prophezeiungen. Das hat mehrere Gründe. Ein ganz banaler und auf den ersten Blick auch widersprüchlicher Grund ist: Ich bin immer auf der Suche nach Optionen und Lösungen. Als Selbstständiger, der jede Entscheidung, die er trifft, auch umsetzen muss, ist es essenziell, handeln zu können. Auch in unklaren Zeiten. Trendprognosen und Prophezeiungen leben zwar von dem Nimbus, solche Handlungsanleitungen geben zu können, sind aber das genaue Gegenteil. Sie beschreiben Optionen, die sich vielleicht eines Tages in undefinierten Zeitplänen materialisieren werden. Man kann versuchen, daraus Richtlinien für eigene Entscheidungen zu treffen und darauf hinarbeiten, dafür gerüstet zu sein. Vielleicht materialisieren sie sich aber auch nicht so. Dann hat man halt Pech gehabt.

Das mit dem Pech ist normaler unternehmerischer Alltag. Nicht alles funktioniert, nicht alles bringt Geld. In kreativen oder innovativen Branchen gilt das umso mehr.  Deshalb ist es bei aller Schönheit, die gut formulierte weitsichtige Trendprognosen an sich haben, umso wichtiger, kurzfristig zu handeln. Es ist schön, zwanzig Jahre später festzustellen, dass man recht hatte – aber was hat man in diesen zwanzig Jahren gemacht, wovon hat man gelebt? In zwanzig Jahren hatte man üblicherweise überdies so viele Ideen, dass irgendeine davon schon richtig gewesen sein wird – aber das kann sich ja auch in sehr unterschiedlicher Intensität auswirken, von „Hab ich mir auch schon mal gedacht“ bis „Ich hab damit Millionen verdient“.

Diese beiden Punkte, die Schönheit und die Diversität von Prognosen und Prophezeiungen, sind das nächste Problem. Prophezeiungen nehmen Verwirrung zum Anlass, Klarheit zu schaffen. Aus einem Gewirr von Informationen destillieren sie ein paar Punkte heraus, die zu verfolgen sich lohnen soll. Je unspezifischer und vager die Ausgangslage ist, desto bessere Zeiten sind es für Prophezeiungen; das Vage, Ungewisse ist der beste Freund des Propheten, der sich in die Lage versetzt, es zu entschlüsseln und den anderen zu übersetzen – ganz so wie alte Propheten Gebote und Testamente empfangen haben.

Auch die solide argumentierten Prophezeiungen sind Kinder dieser Ungewissheit. Sie müssen irgendwo ansetzen, sich selbst ein Fundament schaffen. Von dort aus können sie dann wieder mit Logik anderen nachvollziehbaren Techniken arbeiten. Es kommen sogar Argumente, eine an sich in Vergessenheit geratene Kulturtechnik, wieder ins Spiel.  Trotzdem bleiben nüchtern betrachtet zwei große Schwächen erhalten. Die erste: Der Ausgangspunkt ist selbst geschaffen. Prognosen und Prophezeiungen setzen irgendwo an – sie müssen eine willkürliche Entscheidung treffen, um sich ein Fundament zu schaffen. Bevor man dann von dort aus argumentieren kann, muss auch noch eine Werteentscheidung getroffen werden. Die gibt die Richtung vor. Prognosen und Prophezeiungen funktionieren schließlich nach dem Muster: Wir sind, wo wir nicht bleiben wollen, also wollen wir anderswo hin. Eine Variante wäre noch: Auf uns kommen Entwicklungen zu, die das, was wir haben, nicht mehr wünschenswert erscheinen lassen. Oder: Wenn wir so weitermachen, entfernen wir uns von dem, was wir eigentlich haben sollen.

Und wo ist jetzt das Problem?

Prognosen und Prophezeiungen sind unterhaltsam; allerdings verleiten sie oft dazu, uns mit dem falschen Teil zu beschäftigen. Der spektakuläre Teil von Prophezeiungen, mit dem man sich gern beschäftigt, ist der, nachdem die zwei beschriebenen Schwächen überwunden wurden. Danach entwerfen sie bunte, verlockende, beängstigende, spektakuläre oder beeindruckende Bilder, die uns in ihren Bann ziehen. Über die können wir diskutieren, wir können uns fürchten, freuen, inspirieren lassen oder in Angst erstarren.

Das ist allerdings so, als würde man einen Lottogewinn verplanen oder gar schon ausgeben, noch bevor man überhaupt einen Lottoschein ausgefüllt hat.  Denn der relevante Teil, der, den man analysieren und bewerten kann, das sind die Entscheidungen davor, die Standortbestimmung und das Werturteil, das die Richtung vorgibt. Das sind Entscheidungen, deren zugrundeliegenden Fakten man annähernd kennt und über die man sich ein Bild machen kann. Trotzdem kann man sie auch für falsch halten, trotzdem beruhen sie zu einem guten Teil auch auf Meinungen.  Und es sind die Entscheidungen, die ganz praktisch im Alltag getroffen werden müssen.

Aus ganz praktischer Sicht „sinnvoller“ wäre es also, sich mit diesen ersten beiden Entscheidungen zu beschäftigen. Aber das ist im Vergleich zu Visionen und großen Entwürfen natürlich langweilig und unspektakulär.  Blöd, dass ich kaum anders kann.  Immer, wenn ich tolle Visionen, Prognosen und Prophezeiungen höre, kann ich nicht anders, als nach diesen zwei Entscheidungen zu suchen. Und diese Entscheidungen sind es dann auch, die darüber bestimmen, ob ich Prognose und Prophezeiung relevant finde. Oder ob ich zu dem Schluss komme, dass sich hier jemand in ein buntes Bild, eine spektakuläre Vision verliebt hat, und nun nach Krücken sucht, mit denen diese sich stützen ließe. Unterhaltsam kann das ja trotzdem sein, aber man könnte es dann ja auch schlicht Unterhaltung nennen …

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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