11 Dinge über die Stadt nach 12 Jahren auf dem Land

11 Dinge über die Stadt nach 12 Jahren auf dem Land

Über Fahrradschlösser, Ampeln, Wartezeiten und den Himmel und ein paar andere Dinge…

#1 Strafen

Friedhof

Ok, der Platz ist enger, jede Handlung wirkt sich direkter aus, es ist mehr Aufsichtspersonal aller Arten unterwegs und man begegnet diesem öfter. Egal ob Parkplatzwächter, U-Bahn-Kontrollore oder Polizei. Schon in den ersten Wochen habe ich eine imposante Menge an Strafen für überschrittene Parkdauer, falsch ausgefüllte Parkscheine, am Monatsdritten abgelaufene Vormonats-Monatskarten in den Öffentlichen oder auf den Gehsteig übergreifende Autoreifen (es war kein Gehsteig – zumindest keiner mit Gehsteigkante) gesammelt.
Foucault lässt grüßen, denke ich mir halt, und zahl das alles.

#2 Dreck

Dirt

Nein, dabei geht es nicht um Hundstrümmerl. Im Gegenteil – Hunde in der Stadt sind immer noch ein Zeichen von Freiheit. Sie sind ein Gradmesser dafür, wieviel Freiraum eine Stadt noch bietet, wieviel Freizeit die Menschen sich noch nehmen können, und ob es noch gefahrlos nutzbare Flächen gibt.
Dreck sehe ich eher in am Samstag- oder Sonntagmorgen vollgekotzten Strassenbahnhaltestellen, überquellenden Mistkübeln, improvisierten Mistabladeflächen in Parks, und eben dem kollektiven Strassendreck.
Auf dem Land begegnen dir ein bisschen Staub und ein bisschen Erde, gern auch größere Gatschmengen, aber du kennst die Geschichte des Drecks. Anonymisierter Stadtdreck, egal ob an den Schuhen, am Fahrrad, an den Händen, ist etwas, das du wirklich nicht haben willst. Auch daran gewöhnt man sich.

#3 Menschen

Kebap

Sie stehen auf Rolltreppen, drängeln an Kreuzungen, fotografieren in der Innenstadt oder beim Hundertwasserhaus und sind einfach da. Grundsätzlich etwas nettes. Ich höre von überfüllten Plätzen, die man meiden sollte, von lästigen Sehen- und Gesehen-Werden-Locations, von Beobachtungen und der Tendenz, die Stadt zum Dorf zurückzuentwickeln.
Sozialer Stress ist etwas, das ich noch nie empfunden habe – nach zwölf Jahren an einer dünn besiedelten Strassenkreuzung mitten in Feldern umso weniger. Jetzt höre ich wieder davon, wundere ich mich ein wenig, und fange doch auch manchmal an, mich manchmal von Bobo-, Hipster-, oder was auch immer-Horden belästigt zu fühlen, die Donaukanal oder Naschmarkt bevölkern und einander von mehr oder weniger spannenden Erlebnissen auf dem Weg zur Steuerberater- oder Wirtschaftsprüfer-Karriere erzählen. Kinder, denk ich mir dann manchmal, wenn ihr eh nur Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer werden wollt, dann macht das doch einfach, redet nicht so viel drüber und lasst mich hier in Ruhe in der Sonne sitzen.

#4 Wochenenden

Board

Das führt gleich zum nächsten Punkt. Wochenenden in der Stadt sind eine Fehlkonstruktion. Unter der Woche friedliche Plätze werden an Wochenenden zu hoffnungslos overcrowdeten Hotspots. Die naive Annahme, an Wochenenden auch das tun zu können, was unter der Woche angenehm ist, erweist sich schnell als Irrtum. Das kollektive „Wir sollten/wollen und können nicht“ äussert sich in überfüllten Terrassen, Wiesen und Donaustränden, an denen jene, die raus wollen, aber sich nicht zu weit bewegen wollen, ihr Glück suchen.
Einfach mal nichts tun oder das tun, was anliegt, fällt in den eigenen vier Wänden oder Zäunen schon deutlich leichter, wenn diese größer gesteckt sind. Und wer gewohnt war, schnell mal allein in den Urwald am nächsten Fluss abzutauchen und dort das Mountainbike oder das Paddelboard auszupacken, tut sich ein bisschen schwer damit, wenn die gleichen Aktivitäten, nur weil sie jetzt auf einem Parkplatz stattfinden, erstaunte Blicke auf sich ziehen. Nein Leute, es hat nicht mit Gesehenwerden zu tun, wenn ich in Boardshorts vor euch rumlaufe. Ich will einfach nur aufs Wasser. Und ihr seid mir dabei herzlich egal.

#5 Raunzen

Raunzen

Und noch ein Punkt aus der gleichen Ecke. Ich bin zur Zeit öfter mal allein unterwegs. Was dabei am meisten auffällt: Wie sehr die Leute, die das nicht sind, einander anraunzen. Nein, damit ist nicht das angeblich typisch wienerische Raunzen gemeint, sondern die schlicht generell weit verbreitete Raunzerei, die dir wahrscheinlich gar nicht mehr wirklich auffällt, wenn du nicht wieder eine Zeit allein warst. Frauen raunzen ihre Männer an, die dann relativ schnell innerlich explodieren, was sich in einem expressiven Grunzen äussert, bis sie dann ebenfalls zu raunzen anfangen, Eltern raunzen ihre Kinder an, Hundebesitzer (oder ebenfalls Eltern) raunzen einander über abwesende Dritte oder globale Mysterien an – und wenn du dir vielleicht vor ein paar Minuten noch gedacht hast, es wäre durchaus ok, jetzt auch nicht allein unterwegs zu sein, lernst du sehr schnell wieder bescheidene Zufriedenheit. Hat was durchaus therapeutisches.

#6 Outdoor Offices

Office3er

Aber bevor ich selber ins Raunzen kippe: Outdoor Offices im Frühling sind etwas Großartiges. Als noch nicht sesshafter Neugründer mit Laptop, Smartphone und Notizbuch unterwegs zu sein, ausreichende Wlan-Dichte in Terrassen und Gastgärten zu finden und die Zeit zwischen Terminen zugleich produktiv und angenehm nutzen zu können, ist einer der wirklich großartigen Vorteile von Städten wie Wien. Ja, ich kann dabei wirklich arbeiten; der Ablenkungs- und Lärmpegel ist nichts im Vergleich zu den Vorteilen, die der Wegfall von Festnetztelefonen, Großraumbüros und der ständigen direkten Verfügbarkeit für andere bringt.
Und die Chance, dem Arbeitstag dank Freunden, die kurz (oder länger) vorbeikommen, einen fliessenden Übergang in den Abend zu verpassen, entschädigt für den Wochendstress. An Wochenenden kann man schliesslich auch zuhause arbeiten. Oder einfach rausfahren.

#7 Mobilität

Bikes

Städte sind viel besser für die Mobilität, sagt man. Nur: Menschen in den Stadt bewegen sich kaum. Während der durchschnittliche Aktionsradius des Pendlers wohl bei 50 Kilometern (one way) liegt, habe ich manchmal den Eindruck, der des Städters liegt bei eher 50 Metern, den täglichen Weg ins Büro vielleicht ausgenommen. „Schon weit draussen“, heisst es, wenn eine Strecke ein paar U-Bahn-Stationen weit ist, und Stadtbewohner kennen ihre Stadt meist weniger, als die, die ihr täglich als zu durchquerendes Hindernis begegnen.
Es ist ja nicht notwendig, lautet das Gegenargument, und ausserdem ökologisch wertvoller. Stimmt. Aber auch eine Frage des Horizonts. Demonstrative Weltläufigkeit bleibt farblos, wenn sie zwar den Flughafen von Dubai, die Fussgängerzonen von Singapur oder den Strand von Los Angeles einschliesst, aber Simmering, Donaustadt oder den Praterstern ausschliesst.
Und die fehlende Mobilität führt dann auch wieder zu den Wochenend-Zusammenrottungen. Siehe oben.

#8 Warten

Gasse

Warten ist auch eine Qualität, die dem Landmenschen abhanden kommt. Draussen packst du deine Sachen, machst dich auf den Weg, und es hält dich praktisch nichts auf. In der Stadt sind es Ampeln, öffentliche Verkehrsmittel, Schlangen vor Supermarktkassen und sogar überfüllte Postämter, die den täglichen Flow sehr unvermittelt bremsen. Die ersten Wochen war das sehr überraschend und gewöhnungsbedürftig, danach tritt das wieder in den Hintergrund, wahrscheinlich auch des schleichend abnehmenden Aktionsradius wegen.
Schnell ist in der Stadt entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil aber erst mal gar nichts. Und das hat denke ich erst mal gar nichts mit Wien zu tun.

#9 Fahrräder

Fisch

Kaum ein Ding funktioniert in beiden Umgebungen – Stadt und Land – so gleich und ändert sich dennoch vollkommen. Ein Wald und Wiesen gewöhntes Bike auf Fahrradwegen zu bewegen, ist fast so, wie einen alten Hund vom Garten in die Stadt zu übersiedeln. Wirkt unangebracht, passt nicht wirklich – und du hast auch immer das Gefühl, du würdest etwas falsch machen. Machst du auch: Fahrradschlösser sind in der Stadt etwas sehr praktisches, stellst du gleich beim ersten Mal fest. (Und ja, ich hab das Fahrrad noch…)

#10 Kultur

Garage

Ja, wahrscheinlich sollte ich jetzt auch etwas über Kultur sagen. Städte werden als kulturelle Zentren betrachtet. Ich halte das aber nur für ökonomischen Zufall: Hier begegnen einander mehr Menschen auf engerem Raum, und es ist leichter, Publikum zu finden. Und es ist leichter, sich auf anderes zu konzentrieren, wenn das Leben weniger banale Anforderungen stellt, wie auf den Terminplan der Müllabfuhr zu achten, den Gehsteig sauber zu halten oder nach jedem gröberen Sturm den Dachdecker anzurufen.
Das Problem an Kultur ist nur, dass sie meistens etwas bewahrendes hat. Das macht sie umso langweiliger, je größer sie ist.

#11 Himmel

Himmel

Tagsüber ist das ja ok. Es gibt genug Plätze für den Blick ins Freie; Donau, Kanal und diverse Aussichten. Was aber wirklich fehlt, ist nachts die große Finsternis. Alle paar Meter irgendwo Laternen, eine Lichtglocke über der Stadt  – und kein Blick ins Schwarz, kaum Sterne, und kaum Gelegenheit, einfach mal ruhig stehen zu bleiben und zu warten, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben und die Sterne klar und hell leuchten.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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