Helen Pluckrose, James Lindsay: Zynische Theorien

Helen Pluckrose, James Lindsay: Zynische Theorien

Eine detaillierte Analyse des postmodernen Aktivismus hinter Queer, Gender, Ableismus oder Fat Studies scheitert letztlich daran, diesem Aktivismus mit Liberalismus begegnen zu wollen.

Als Student in den 90er-Jahren habe ich mit viel Begeisterung und wenig Verständnis Derrida und Deleuze/Guattari gelesen. Foucault habe ich erst später für mich entdeckt, der war mir damals zu politisch. Baudrillard war mir zu technokratisch, Lyotard stand mir schon damals unter leichtem Esoterikverdacht. 30 Jahre später habe ich die Erfahrung und das Selbstbewusstsein, zu sagen: Mehr als das wenige Verständnis ist auch nicht dran. Wenn man postmoderne Prinzipien der Dekonstruktion einmal verstanden hat, gibt es keinen Grund, sie immer wieder aufs neue ritualisiert zu inszenieren. Stattdessen wäre die Frage zu stellen: Und wie kommen wir weg von hier?

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das schmälert nicht die Relevanz von Dekonstruktion oder Diskursanalyse. Die grundlegende Erkenntnis ist: Alles könnte auch anders sein, und wir sollten uns mit den Mechanismen beschäftigen, die dazu geführt haben, dass unsere Welt ist wie sie ist. Damit gewinnen wir Handlungs- und Entscheidungsspielraum.

Diese Erkenntnis ist für eine demokratische Gesellschaft essenziell. Allerdings kann man von hier aus in unterschiedlichste Richtungen abbiegen. Das zelebrieren aktivistische postmoderne TheoretikerInnen. Deren KritikerInnen konstruieren daraus Gegensätze zwischen Liberalismus, Demokratie und Aktivismus – und schaden damit beiden Seiten.

Letzteres ist auch in „Zynische Theorien“ der Fall.

Postmoderne Theorie ist wie Science & Technology Studies: Wenn das Prinzip klar ist, bringt es keinen Erkenntnisgewinn mehr, wenn es laufend wiederholt wird. Ausnahme sind manchmal detaillierte historische oder fachwissenschaftliche Studien.

In beiden Bereichen wurden – weitere Gemeinsamkeit – gute Konzepte zu geistig flachen Kampfbegriffen pervertiert. Das ist im übrigen keine neue Entwicklung. „Dieses soziale Gepräge des wissenschaftlichen Betriebes bleibt nicht ohne inhaltliche Folgen. Worte, früher schlichte Benennungen, werden Schlagworte; Sätze, früher schlichte Feststellungen, werden Kampfrufe”, schrieb Ludwik Fleck in seiner „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ 1935.

In der rückblickenden Analyse der Postmoderne, wie Pluckrose und Lindsay sie betreiben, kommt einiges durcheinander. Relativismus, Konstruktivismus, Strukturalismus, deren Überschneidungen und Post-ismen bieten in der Vermischung die größten Angriffsflächen. Und damit werden an sich vernünftige Konzepte zu Lachnummern. Pluckrose und Lindsay sind sich denn auch nocht sicher, ob sie etwa Richard Rorty zustimmen würden, wenn dieser sagt, dass es einen großen Unterschied gibt, ob wir glauben, dass die Welt dort draußen ist (was nur mit Kunstgriffen bestreitbar wäre), oder dass die Wahrheit dort draußen ist (was für manche nach nüchterner Rationalität klingt, aber das Motto der Mystery Serie X Files ist).

Lindsay und Pluckrose zeichnen mächtige Nachwirkungen der Postmoderne nach, während sie zugleich immer wieder in den Raum stellen, dass die Postmoderne eigentlich tot ist. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass die Linien nicht ganz so direkt gezogen werden können. Postmoderne Theorien, die heute gepredigt werden, überspringen genau den eigentlichen Punkt, dass wir eigentlich keine Gewissheiten mehr voraussetzen können, und kommen von dort aus zu dogmatischem Aktivismus. Dieser Dogmatismus ersetzt den eigentlich zentralen Zweifel – und das ist natürlcih ein Problem. Social Justice, Postkolonialismus, Standpoint Theory oder Critical Race sind praktische Anwendungen der postmodernen Prinzipien, die intellektuell in einem Satz auserzählt sind aber dennoch natürlich praktische Relevanz besitzen.

Lösungen der in diesen Theorien angesprochenen Probleme sind allerdings Ergebnis pragmatisch-politischer Prozesse. Eine ewig zweifelnde Postmoderne kann Fragen stellen. Natürlich kann man mit einfachen rhetorischen Kniffen Fragen als auch als Behauptungen oder Unterstellungen formulieren, das habe ich in Ahnungslos als Kulturtechnik des Behauptens ausgeführt. Das ist dann allerdings Politik und weder Theorie noch Philosophie.

Lindsay und Puckrose sind in ihrer Kritik und deren Ausweitung auf die klassische Postmoderne, in der sie die Ahnen der Antipoden zu Vernunft und Wissenschaft sehen, etwas zu eindimensional rationalitätsorientiert. Das ist keine gute Idee, das hat David Bloor in seiner Wissenssoziologie dargelegt (stark vereinfachte Kurzfassung: Wir meinen, unerwünschte EInflüsse von einer puren Rationalität fernhalten zu müssen, um besser erkennen zu können. Wir können sie aber gar nicht loswerden und es ist – historischen, kulturellen, politischen oder praktisch durch die verfügbaren Instrumente bedingten – Einflüssen unterworfen, was wir als unerwünscht betrachten und was nicht. Physik-Nobelpreisträger Werner Heisenberg hat das noch etwas weiter zugespitzt: Zeitgeist sei ein ebenso objektiver Fakt wie andere wissenschaftliche Fakten.

Die in der PoMo-Theorie oft praktizierte Vermischung von Wissenschaft und Aktivismus ist natürlich ein Problem; eine solide postmoderne Grundbildung böte allerdings genau das Handwerkszeug, dem entgegenzutreten.

Lindsay und Pluckrose besprechen ihre Sicht von Postkolonialismus, Queer, Trans und Gender Studies, Intersektionalität, Fat Studies und bemühen sich dabei stets, postmoderne Wurzeln freizulegen. Frantz Fanon oder W.E.B DuBois werden da ungefragt implizit und fälschlicherweise in postmoderne Ecken gestellt. Judith Butler hat in den letzten Jahren hart daran gearbeitet, sich diese Ecke noch mehr zu verdienen. Aber viele zeitenössische Critical Race-Aktivisten lernen postmoderne Identitätstheorie ausdrücklich ab und konzentrieren ihren Aktivismus stattdessen auf klar politische und ökonomische Perspektiven.

Andere Diagnosen von Pluckrose und Lindsay sind weitaus treffsicherer. Die Vervielfältigung von Diskriminierung und Marginalisierung durch Intersektionalität (man ist nicht mehr nur Arbeiter oder Frau, sondern nichtakademische Trans-PoC) ersetzt ökonomische Unterschiede oder Unfreiheiten durch unterschiedliche Privilegierungsgrade, die reflektiert werden müssen und Privilegierte dabei behindern, den Wert der postmodern-aktivistischen Theorie zu erkennen. Ebenfalls zutreffend ist die Beobachtung, dass diese Entwicklung Gruppen bildet, Individuen in den Hintergrund rückt, Gruppensolidarität fordert und damit dem Individuum Handungsspielräume wegnimmt. Unterschiede und Privilegien werden für Gruppen diagnostiziert – ob sie auf das Individuum zutreffen, ist der Theorie gleich. Mit solchen Manövern schafft sich die Theorie zusätzliche Komplexität und ist auf immer wieder neue Themenbereiche anwendbar. Es kann immer etwas problematisiert werden, es kann immer neue Gruppennivellierungen geben. Beispiele für diese Komplexitätserhöhung sind der Eintritt von Trans-Themen in Genderdebatten oder als neueste Betätigungsfelder postmoderner Theorie: Fat Studies und Ableismus. Beide framen negative Aspekte von Übergewicht oder körperlichen Einschränkungen als Konstrukte eines herrschenden Diskurses, der Normalität und Anpassung fordert und Abweichungen in die Nähe von Krankheitsbildern rückt. Medizinische Empfehlungen oder Hinweise auf möglicherweise negative Folgen von Übergewicht sind die Speerspitze dieser unterdrückerischen Diskurse.

Nach diesen treffsicheren Diagnosen führen Pluckrose und Lindsay einige Beispiele solcher Entwicklungen aus “amerikanischen Universitäten” an. Üblicherweise ist das bei Kritik an postmoderner Theorie ein Alarmsignal, das hellhörig macht. Pluckrose und Lindsay rerferieren allerdings keine anonymisierten und aggregierten Cancel-Culture-Legenden und deren vermeintlich dramatischen Folgen, sie illustrieren Wirkweise und Auftreten der postmodernen Theorie und ihrer Ausprägungen. Nach Queers for Palestine, antisemitischen Ausfällen an eben solchen UnNiversitäten und Unwissen demonstrierenden Pro-Gaza-Demonstrationen überraschen diese Erzählungen weniger.

Dennoch verliert “Zynische Theorien” gegen Ende etwas. Pluckrose und Lindsay schließen an ihre Diagnosen einen programmatischen Teil an, in dem sie ausgerechnet den Liberalismus als Gegenspieler des postmodernen Aktivismus ins Feld führen. Liberalismus eigne sich vor allem deshalb, weil er auf objektives Wissen setze.

Für Wissenschaftstheoretiker schrillen auch hier die Alarmglocken. Die unreflektierte und undefinierter Verwendung eines vagen Containerbegriffs wie “objektiv” ist an sich bereits ein Problem. Die Postulierung objektiven Wissens als Grundpfeiler ist eine doppelt schwierige Wendung, die sich vorwerfen lassen muss, viel von dem vorauszusetzen, was sie eigentich beweisen möchte. Damit wird sie dem kritisierten Aktivismus schrittweise ähnlicher. Größtes Verdienst des Liberalismus ist es, die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass Alternativen möglich sind (hier gibt es Überschneidungen mit der frühen Postmoderne) und dass Entscheidungen nachvollziehbar begründet werden sollten. Nachvollziehbarkeit klingt auf den ersten Blick ähnlich wie Objektivität, hat aber nichts damit zu tun. Auch egoistische, politische oder machtorientierte Entscheidungen können nachvollziehbar sein, sie sind aber alles andere als objektiv.

Eine weitere gewagte Behauptung von Pluckrose und Lindsay ist, dass Liberalismus der Korrespondenztheorie der Wahrheit anhänge. Ich kann nicht nachvollziehen, wie sich diese pauschale Diagnose begründen ließe. Die Korrespondenztheorie geht davon aus, dass wahr ist, was der Realität entspricht. Das klingt nach einem Zirkelschluss. Es ist eine auf den ersten Blick leicht verständliche und überzeugend klingende Theorie, die bei näherer Betrachtung aber überaus wenig aussagt. Denn im allgemeinen bleibt offen, wie über die Richtigkeit der richtigen Übereinstimmung entschieden werden kann. Damit bleibt übrig: Richtig ist, was richtig ist.

Die Korrespondenztheorie war unter den frühen Positivisten und den Vorläufern des Wiener Kreises beliebt. Sie klingt manchen Interpretationen nach in Wittgensteins “Die Welt ist alles, was der Fall ist”, nach. Spätere sehr fakten- und logikorientierte Vertreter des Wiener Kreises wie Rudolf Carnap kritisierten eben diesen Kurzschluss, setzten eher Regeln und Prozesse als relevante Wahrheitskriterien an und bewegten sich so von der Korrespondenz- zur Kohärenztheorie der Wahrheit. Wahr ist demnach, was kohärent zu dem ist, was wir sonst als wahr empfinden, was also zu unserm bisherigen Wissen passt und unseren Regeln nicht widerspricht. Das ist unter anderem eine Kurzfassung wissenschaftichen Arbeitens und damit ein mindestens ebenso chancenreicher Kandidat für den populärsten liberalen Wahrheitsbegriff.

Liberale argumentieren gern mit Evidenz und Daten. Beides eignet sich nur dann als Beweis für etwas, wenn der Kontext, in dem Daten die Ursache von oder der Beleg für etwas sein können, schon vorher hergestellt ist. Schmerzhaft für Wissensphilosophen und Wissenschaftstheoretiker ist in dieser Diskussion immer, dass diese nüchterne und selbst sehr faktenorientierte Feststellung so leicht in die Nähe der postmodernen Relativierungs-Absolutierungsspiele gerückt werden kann. Solche Dataparadoxa sind aber bereits gut erforschte Fakten.

Zustimmen kann man Pluckrose und Lindsay bei der Feststellung, dass die Betonung des Individuums eine der deutlichsten Trennlinie gegenüber dem postmodernen Aktivismus und dessen Gruppenorientierung ist. Viele der anderen Punkte, mit denen Pluckrose und Lindsay ein starkes Bild von Liberalismus zeichnen wollen, sind zugleich dessen populärste Angriffsflächen und ergeben anstelle des Bilds eines souveränen aufgeschlossenen Liberalismus eher jenes eines dogmatisch-elitären Republikanismus. Der Bezug auf intellektuelle Vorfahren aus (amerikanischen) Revolutionszeiten verstärkt diesen Eindruck.

Beispiele, mit denen Pluckrose und Lindsay ihre Sicht des offen lernenden und sich weiterentwickelnden rationalen Liberalismus belegen wollen, sind in der Fachliteratur oft sinnvolle Gegenbeispiele für unsaubere und verschlungene, aber reale Entwicklungspfade: Ja, Newton ließ sich nicht von alten Dogmen abhalten, Gesetze der Mechanik zu entwickeln und diese Gesetze haben sich durchgesetzt. Und ja, Einstein ließ sich nicht von einem newtonschen Dogma abhalten, diese Mechanik zu relativieren. Aber i angewandter Physik wird trotzdem vielfach nach wie vor nach Newtons Mechanik und nicht nach jener der Relativitätstheorie gearbeitet. Denn Unterschiede sind minimal und die Komplexität würde deutlich steigen.

Völliges Scheitern schließlich sind die letzten Seiten, auf denen Pluckrose und Lindsay konkrete Argumentationsmuster entwerfen möchten, die Liberale postmodernen Aktivisten begegnen können. Das ist ähnlich hilflos wie die absurden Tipps selbsterklärter Politikwissenschaftler und Kommunikationsexperten, wie man mit Rechtsextremen reden möge, um sie zu entzaubern. Populismus und Aktivismus werden im direkten Vergleich immer spannender bleiben. Hier kommt man nicht umhin, zu streiten – oder im Fall des postmodernen Aktivismus: Man setzt darauf, dass Begegnungen der Aktivisten mit der Außenwelt auch bei den postmodernsten Akteuren mehr und mehr Pragmatismus durchsetzen wird. Damit kommen auch jene ökonomischen Aspekte zurück auf die Bühne, die Intersektionalität und postmoderne Theorie so gerne verdrängen möchten. Denn die Frage ist, wer sich die realitätsverweigernde aktivistische Pose wie lange leisten kann.

Pluckrose und Lindsay liefern gute Analysen des postmodernen Aktivismus und machen diese Entwicklungen auch jenen verständlich, die viel davon zum ersten Mal hören. Aber sie scheitern dabei, argumentative Gegenrezepte zu liefern und verrennen sich dabei selbst in dogmatischen Posen.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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