Onur Erdur, Schule des Südens

Onur Erdur, Schule des Südens

Biografische Wurzeln in Nordafrika als prägende Elemente postmoderner Theorie - und als Ausgangspunkt zu einer Verteidigung von Postmoderne und Dekonstruktion gegen mutwillige Missverständnisse und akrobatische Fehlinterpretationen.

Es ist fast ein mutiges Buch. Wer beschäftigt sich heute noch mit der Philosophie von gestern, insbesondere der französischen Postmoderne und Dekonstruktion, ohne gleich vorwegzuschicken, dass man diese Theoriegebäude ohnehin nicht mehr ernst nehmen könne? Postmoderne und Dekonstruktion sind durch eine Reihe von Missverständnissen, gezielten Fehlinterpretationen und dankbarem Nachplappern in Verruf geraten.

Postmoderne als Ursache und Wegbereiter von Identitätspolitik gilt selbsternannten Möchtergernrationalen als Teufelszeug.

Das ist ein grundlegender Irrtum, dem Erdur mit unkonventionellen Methoden begegnet. Er konzentriert sich nicht auf Textanalysen und das Nachzeichnen von Argumenten. Beides ist zur Genüge durchexerziert worden und nützt wenig gegenüber jenen Kritikern, die die Texte gar nicht kennen.

Erdur beschäftigt sich mit biografischen Wurzeln und Bruchlinien der Stars von Postmoderne, Poststrukturalismus und Dekonstruktion – und diese führen ihn allesamt nach Nordafrika. Manche der französischen Philosophen sind dort geboren, andere hat es im Wehrdienst in den Algerienkrieg verschlagen, wieder andere haben in Marokko und Algerien hedonistische Züge ausgelebt. Erdur sucht nach Verbindungen zwischen diesen biografischen Elementen und wesentlichen Komponenten der jeweiligen Theorie. Manchmal liegt das auf der Hand, manchmal wirkt das ein wenig bemüht, manchmal ist es selbstverständlicher, aber vergessener Teil der Geschichte.

Pierre Bourdieu forschte in Algerien, widersprach den aus der Ferne etwa von Sartre gefällten Urteilen über die revolutionären Subjekte und nahm algerische Forscher mit nach Frankreich, um auch bei seinen Forschungen im eigenen Land den Blick für das Fremde zu bewahren.

Lyotard unterstützte algerische Freiheitskämpfer, unterrichtete an der französischen Militärakademie, war trotz seiner Unterstützung auch bei algerischen Offiziellen nicht immer gern gesehen und lebte so ein Leben voll der Uneindeutigkeit, die das Kernstück seiner Philosophie ausmachte.

Roland Barthes gönnte sich homosexuelle Abenteuer in Marokko und Algerien, fand Zeit, exzessiv nachzudenken – er nannte es seine Marinade, wenn er tagelang auf der Couch lag, um zu denken. Dabei fasste er den Entschluss, vom Theoretiker zum Künstler werden zu wollen und einen Roman zu schreiben. Er schrieb zwei Jahre vom Schreiben und wurde dann, zurück in Paris, von einem Laster überfahren. Ohne seinen Roman begonnen zu haben.

Michel Foucault wollte als Lehrer nach Afrika (Kongo oder Tunesien, das war ihm egal, was vermutlich seine Ortskenntnis umschreibt). In Tunesien und Algerien konnte er seine Homosexualität mit jungen Männern ausleben. Er residierte im Club Med und schaffte es doch, sich kunstvoll als Revolutionär zu inszenieren, der hautnah an den 68er-Studentenunruhen in Algerien dran war.

Jacques Derrida wurde als algerischer Jude geboren, erhielt Anfang der 40er Jahre die französische Staatsbürgerschaft, während des Vichy-Régimes wurde sie ihm wieder entzogen, als jüdischer Teenager durfte er nicht mehr in die französische Schule in Algerien, mit 19, Ende der vierziger Jahre zog der nach Paris – für einen gerade 19-jährigen sollte das ausreichen, um sich die nächsten Jahre mit Identität, Differenz und der Notwendigkeit, jede Form von Identität zu hinterfragen, zu beschäftigen.

Helène Cixous ist mit einer ähnlichen Biografie wie Derrida eine der aktivsten Verfechterinnen des Differenzfeminismus und sah sich damit in einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Simone de Beauvoir, die als Verfechterin eines Identitätsfeminismus die Gleichstellung von Mann und Frau betonte. Cixous betonte dagegen Unterschiede und leitete aus dieser Position die Notwendigkeit einer gesonderten Beschäftigung mit den Geschlechtern an, die sich gegen Vernachlässigung und Benachteiligung von Frauen wandte.

Etienne Balibar, etwas jünger, war nicht mehr als Soldat im Algerienkrieg, lernte aber als überzeugter Kommunist linken Rassismus und Antisemitismus kennen. Seine Kritik daran führte zum Parteiausschluss.

Jacques Rancière als jüngster der besprochenen Philosophen beobachtete die Demonstrationen von Algeriern in Paris, beschrieb sie als das ganz andere (das erinnert an Mbembe und Fanon) und entwickelte die Idee der Desidentifikation. Jede Annäherung an Identität, jede Politisierung und Selbstbehauptung müsse mit Desidenitifikation, also der Abwehr aller im Raum stehenden Zuschreibungen und Identifzierungen beginnen. Diese radikale Identitätskritik kann als Universalismus gelesen werden, der alle Nuancen und Besonderheiten einebnet – oder als unbedingter Individualismus, der zu einem feststehenden und unveränderlichen Kern vordringen will. Beides ist nicht im Sinn Rancières, der Universalismus entspräche einer republikanischen laizistischen Doktrin, die alle Menschen als gleich betrachtet (auch wenn diese Besonderheiten betonen wollen), der Individualismus käme Vorstufen einer heute verrufen postmodernen Identitätspolitik nahe.

Beides führt zur Kritik an der Kritik der Postmoderne, die Erdur schon an den Beginn seines Buches stellt und auf die der zuletzt noch einmal zurückkommt.

In Frankreich ist in den vergangenen Jahren viel politisch motivierte Kritik an Dekonstruktion und Postmoderne aufgekeimt. Von Rechten und Identitären formulierte Kritik griff vor allem Interpretationen der Postmoderne in Postkolonialismus oder Gender Studies auf, provozierte Reaktionen in ebendiesen Gebieten – und erzeugte damit wieder neues kritisierbares Material, das weniger und weniger mit dem Ausgangspunkt, also den philosophischen Grundlagen von Postmoderne und Dekonstruktion zu tun hatte. Das setzte ein wunderbares Perpetuum Mobile der Empörung in Gang, das den Beteiligten Argumente und Aufmerksamkeit schenkte, allerdings die Theorie selbst unter den Bus warf.

In den relevanten Texten wird wenig so hartnäckig infrage gestellt wie Identität; Vorstellungen von Natürlichkeit, natürlicher Ordnung oder Notwendigkeit (die über Zweckorientierung hinausgeht) sind die häufigsten Zielobjekte und gerade Lehrbeispiele für Dekonstruktion. An diesem Punkt wird Erdurs Buch relevant, das genau diese Aspekte nachzeichnet und in Verbindung mit Biografien bringt. Insofern ist es geradezu ein wenig gegen den eigenen Anspruch gerichtet, in diesem Buch Nordafrika als gemeinsames bestimmendes Element festzumachen. Denn das setzt einen Fixpunkt, der für Postmoderne und Dekonstruktion Ausgangspunkt der Kritik wäre. – Aber man braucht ja einen Aufhänger, um Geschichten zu erzählen.

Zwei Hinweise aus Erdurs Buch sind hier etwas zusammenhanglos, aber sie sind mir zu wichtig, um sie hier nicht festzuhalten:

Deleuze und Guattari beschrieben das Wesen einer philosophischen Grundeinstellung als jene von Fremden auf der Flucht. Das ist eine sehr schöne Umschreibung für eine skeptische Grundhaltung, die Fragen stellt und Beziehungen herstellt.

Im Oktober 1961 töteten Polizisten in Paris 200 Algerier, die sich zu einer Demonstration gegen den Krieg versammeln wollten. Das Massaker brach an verschiedenen Orten in Paris aus, nachdem sich eine Falschmeldung über einen angeblich von Demonstranten getöteten Polizisten verbreitete. Manche Polizisten warfen Leichen in die Seine, die Ereignisse wurden weitgehend verschwiegen. Erst 2011, 50 Jahre danach, wurde das Massaker offiziell als Verbrechen der Polizei anerkannt. In Rancières Interpretation ist das Ausrasten der Polizei ein weiterer Beleg für die Wahrnehmung der Nordafrikaner als das ganz Andere, Unverständliche, Fremde, das in Paris keinen Platz hatte.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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