Ein Populist zieht ins Weiße Haus ein, entpuppt sich als Faschist und stürzt die USA ins Chaos. Nächstes Jahr, pünktlich zu Trumps zweiter Amtseinführung, wird Sinclair Lewis‘ Roman „Das ist bei uns nicht möglich“, 90 Jahre alt. Bemerkenswert ist weniger, dass dieses Buch als Blaupause für eine politische Diagnose der Gegenwart gelesen werden kann – die Schattenseiten politischer Systeme sind seit den römischen Kaisern und vermutlich noch länger (dann aber weniger gut dokumentiert) ziemlich unverändert. Bemerkenswert ist, dass Lewis in den USA 1934 anhand der Berichte seiner Frau, die als Journalistin Deutschland bereiste, ein recht präzises Bild faschistischer Machtübernahme inklusive SA-Schlägertrupps, Schutzhaft und Konzentrationslagern zeichnen konnte.
Literatur ist manchmal präziser als die Realität. Alexej Navalnys Autobiografie “Patriot” bewegt sich zwischen präziser Dokumentation und politischer Vision. Navalny erzählt seine Geschichte, beschreibt seine Anliegen, die Reaktion des russischen Staates, ein schnell eskalierendes Katz-und-Maus-Spiel, das überraschend schnell auf die Frage zugespitzt wird, ob Navalny sein Leben für seine Politik riskieren soll. Ihm blieb keine Möglichkeit, über diese Frage selbst zu entscheiden. Ein mörderischer Machtapparat hat von Navalnys Entscheidung weg, nach Russland zurückzukehren, seinen Tod vorbereitet und dabei schon mit Details wie der Umleitung des Flugzeugs auf einen kleineren Flughafen außerhalb Moskaus darauf geachtet, über möglichst viele Aspekte die Kontrolle zu behalten.
Mit der Verhaftung kippt Navalnys Erzählung von einer Autobiografie in ein verschiedenen Zwängen unterworfenes Gefängnistagebuch. Er beschreibt Krankheiten, Hungerstreik, erholt sich wieder, wird verlegt, unter verschärften Bedingungen weggesperrt, weiter von der Außenwelt isoliert, ist eigentlich guter Dinge – dann endet der Text. Navalny starb. Seinen letzten Tagebucheinträgen nach eher unerwartet. Die allerletzten Einträge konnten vermutlich nicht mehr aus dem Gefängnis gebracht werden.
Im Gegensatz zu Sinclair Lewis‘ Phantasie-Diktatur ist die russische Diktatur stabil. Bei Lewis stürzen Palastintrigen den Diktator, die nächste Generation folgt, die Herrschaft endet nicht, aber der Widerstand fasst neuen Mut. In Navalnys Russland fehlen diese Lichtblicke. Reichtum sichert Macht ab, diese schafft weiteren Reichtum. Navalny tritt gegen Lügen auf, die sich seit der Sowjetzeit wenig verändert haben („Uns geht es gut“) und setzt die Wahrheit seiner Inhaftierung, seines Sterbens dagegen. Wäre er nicht aus dem deutschen Exil nach seiner Vergiftung nach Russland zurückgekehrt, wie könnte er dann glaubhaft behaupten, dass er Veränderung in Russland für möglich halte? Diesen Gedanken wiederholt er mehrfach.
J.D. Vance beschreibt in “Hillbilly Elegy” eine Kindheit, die in den Grundzügen jener aus Annie Ernaux‘ „Scham“ ähnelt. Drogen, Alkohol und Gewalt zuhause, das Gefühl von Unzulänglichkeiten, jugendliche Planlosigkeit. Letzteres sind Elemente einer relativ normalen Jugend. Vance betont Zusammenhänge zwischen schwindender Leistungsbereitschaft, planlosen Konsum-Ersatzhandlungen, die auch bei guten Einkommen zu Armut führen und Unsicherheit. Gleichzeitig beschreibt er seinen Weg aus dieser Misere an eine Elite-Uni; er schreibt sein Buch nach einigen Jahren als Anwalt einer multinationalen Kanzlei. Bei seinem Erscheinen 2016 wurde Hillbilly Elegy als kritische Diagnose von Trump-Triumph und Brexit gelesen, heute ist Vance Trumps Vizepräsident.
Mich macht das Buch etwas ratlos. Drogenabhängige Eltern sind schlecht für Karriere und Lebensperspektiven, keine Frage. Wer nicht in die Fußstapfen seiner Eltern tritt, sieht sich vielen ungeahnten Fragen gegenüber, geschenkt. Die Versuchung, aufzugeben ist groß, Faulheit, Selbstzufriedenheit, Bescheidenheit, Ruhe und Resignation sind manchmal schwer zu unterscheiden.
Unzufriedene Menschen mit wenig Perspektive werden leicht zu politischen Irrgängern gegen ihre eigenen Interessen – diese Diagnose überrascht mich bei Vance ebenso wenig wie bei Didier Eribons Rückkehr nach Reims. Anders als Eribon ist Vance allerdings kein französischer Intellektueller, als amerikanischem Juristen stehen ihm Perspektiven offen, die es in anderen Teilen der Welt schlicht nicht gibt. Elite-Unis, an denen Lehrende relevante Karriere- und Entwicklungsratschläge geben, an denen Headhunter Studierende vom ersten Studienjahr an casten und deren Abschlüsse im Jobmarkt einen echten Unterschied gegenüber Abschlüssen anderer Unis machen – in Kleinstaaten wie Österreich ist das eher unüblich.
Vance Geschichte zeigt aber, welche Dynamiken sich in Gang setzen lassen. Wenn man rechtzeitig den notwendigen Ehrgeiz und die Bereitschaft, mitzuspielen, entwickelt.
Formal betrachtet unterscheiden sich Vance Schilderungen seiner Kindheit streckenweise kaum von der Kindheit, die Annie Ernaux in „La Honte“ beschreibt. Schlechter Umgang mit Geld, Unsicherheit über die eigene soziale Rolle und Position, Gewalt gegen Frauen, Alkohol, Drogen – letztlich das normale Leben, dem junge Menschen ausgesetzt sind, die sich noch nicht entschlossen haben, wo sie sich anschließen. Vance hatte die Chance auf eine sichere und weitgehend selbstbestimmte Karriere, auch ohne Bestseller und Politik wäre er heute gut verdienender Jurist. Ernaux beschreibt dagegen Scham als prägendes Gefühl ihrer eigenen Herkunft gegenüber. Man darf dabei auch fragen, ob das, aus der Tastatur einer sehr erfolgreichen Autorin, etwas kokett ist. Ähnliches kann man natürlich auch bei Vance fragen, denn die Armut seiner Protagonisten ist oft ein schlichtes Konsumproblem. Wer will, kann darin von Ausbeutung lesen, wer es anders lesen will, liest hier vom Konsum der Ausgebeuteten als stärkstem Motor der Ausbeutung.
Vances und Ernauxs Bücher sind alte Texte. Sie beschreiben Vergangenheit und Utopien, sie handeln von einer Zeit, in der Dinge besser wurden. Sinclair Lewis’ Text lebt von zeitloser Scheinaktualität, in der sich dankbar viele vermeintliche Gegenwarts- und Zukunftsbezüge finden lassen. Navalnys Text ist dokumentarisch, und er ist in all der realen Trostlosigkeit, die sich hinter der fröhlichen Sprache und dem Mut nicht verstecken kann, der eigentlich relevante Text unserer Zeit. Es wäre auch zu kurz gegriffen, „Patriot“ nur als russische Geschichte zu lesen, sich – mit Lewis’ Titel – zu denken: „Das ist bei uns nicht möglich“. Der Streit um das Sagbare wird uns auch in Europa in den nächsten Jahren beschäftigen, unter der Flagge der wenig wahrheitsorientierten Rede- und Meinungsfreiheit werden politische Problemdiagnosen zurückgedrängt. Ein Konzert von vorgeblich kritischen Zustimmern übertönt Dissens und Dissidenz, leere Floskeln von Freiheit (egal ob von Rassisten, Impfschwurblern oder papieren-libertären “Ökonomen”) formen die Marschmusik, die vielleicht nicht gleich in Straflager führt, aber es normal erscheinen lässt, wenn Politiker von Fahndungslisten und Säuberungen schwadronieren und ihre Macht auf Lüge aufbauen. Letzteres haben Putin, Trump, AfD und FPÖ gemeinsam.
Über Navalnys Buch wird schon wieder, so kurz nach seinem Erscheinen, viel zu wenig geredet.