Behaupten ist eine journalistische Kunstform

Behaupten ist eine journalistische Kunstform

Es ist halt ein echtes Psychodrama, zu allem eine Meinung haben zu müssen. Noch dazu eine bestimmte.

Es ist ja nicht so, dass sie keine Argumente hätten. Argumente sind billige Massenware, man findet sie überall, wenn man sie nicht findet, dann erfindet man sie eben. Erfundene Argumente sind auch nicht unbedingt gelogen – es kommt ja immer darauf an, wie man sie verwendet. Und perfiderweise kommt es auch drauf an, wie der andere sie verstehen möchte, worauf er sie anwendet.
Die Rede ist von Meinungsmaschinen und journalistischen KommentatorInnen, die in der mißlichen Lage sind, immer wieder flächenfüllende Zeilen absondern zu müssen, die ihrem Habitat entsprechen, sich auf ein aktuelles Thema hin verbiegen lassen, und nicht gleich auf den ersten Blick als ganz dumm entlarvt werden können.
Ihre Kunst ist die des Behauptens.

Unverkennbare Anzeichen dieses ständig wiederkehrenden Dramas in den Kommentarspalten ist einerseits die Verwendung sich anbiedernder Sprachmuster (etwa von Begriffen, die sich vermeintlich an Jugendkulturen wenden) oder das Bemühen großer weltumspannender Ideen oder wissenschaftlicher Lehren (auch und vor allem dann, wenn die zu diesem spezifischen Punkt genau gar nichts zu sagen haben).

Zwei Beispiele dazu:
Martina Salomon greift für den Kurier in die Tasten, um Sebastian Kurz von seiner Seligsprechung freizusprechen. Es sei, sinngemäß, ein revolutionärer Akt gefestigter Identität, Individualität und Authentizität, seinen Glauben zu zeigen. Gerade in Zeiten, in denen es „urcool“ sei, im Rahmen von Pride-Veranstaltungen gegen Diskriminierung aufzutreten, und „urpeinlich“, in die Nähe der Kirche zu kommen. (Anmerkung: Christian Kerns Pride-Auftritt, weil der bei Salomon angesprochen wird, fällt eher unter die Kategorie urpeinlich, aber lassen wir das.)
Greta Thurnberg dagegen sei sakrosankt und überhaupt gibt es viele Toleranzprobleme.
Geschenkt. Nur lenkt diese Schwurbelei vom eigentlichen Thema ab: Kurz wurde nicht für Nähe zur Kirche kritisiert. Auch nicht mal für die Inszenierung dieser Nähe. Die meiste Kritik betraf die zweifelhafte Geschäftstüchtigkeit der Sekte, vor deren Karren sich ein ehemaliger Spitzenpolitiker spannen ließ. Andere Stimmen kritisierten Kurz’ Neigung zu sektenhaften Inszenierungen. Und wieder andere erinnerten an notwendige Trennungslinien zwischen Kirche und Staat. Kritik an persönlicher Religiosität habe ich nirgends gesehen.
Aber das macht ja nichts – man kann ja irgendwas behaupten. Dann werden die eigenen Argumente auch griffiger – oder sie werden überhaupt erst zu Argumenten.

Das zweite Beispiel:
Die „Welt“ stellt als Zeitung Blattlinie offensichtlich auch über schnöde Fakten. Das zieht sich in Zwischentönen, Themenauswahl und vielen anderen Details durch, und das macht Zeitungen ja auch aus.
Manchmal lässt es einen ander auch ein wenig Kopfschütteln.
Ich war jetzt ein paar Tage in München und die „Welt“ war die einzige Zeitung beim Frühstücksbüffet. In den letzten Tagen mutierte so ausgerechnet Ulf Poschardt zum Migrationsexperten und kommentierte aktuelle Zahlen zu Migration und Verteilung von Flüchtlinge. Nach absoluten Zahlen die Deutschland schließlich an fünfter Stelle jener Länder, die weltweit die meisten Flüchtlinge beherbergen. Und Poschardt meinte tatsächlich, das seine eine tolle Leistungen deutschen Wirtschaft, die beweise, wie toll die deutsche Wirtschaft sei. Denn schließlich müsse erst verdient werden, damit etwas verteilt werden könne.
Klingt ja nicht unschlüssig. Wenn man allerdings weiterblätterte, war in der gleichen Zeitung noch eine nähere Analyse, die unter anderem die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge in Beziehung zur Wirtschaftsleistung der aufnehmenden Länder setze. Da rangiert Deutschland nicht mehr unter den Top Ten. An der Spitze sind Länder wie Sudan, Uganda, von deren Wirtschaftssystem man bislang gar nicht wusste, dass sie so großartig funktioniert (Details über eine sehr wichtigen Wirtschaftszweig Ugandas, die Motorradtaxis, liest man übrigens in „The Big Boda Boda Book“).

Aber hey, nichts für ungut.
Zeitungen funktionieren so. Und mir liegt es fern, einzelne ProtagonistInnen herauszugreifen. Ich analysieren Argumentationsmuster und bin auf der Suche nach neuen Erklärungen für sich verändernde Kommunikationsverläufe. Eines der wichtigsten Muster ist eben das bloße Behaupten – das hat daran arbeitet, sich den Rang einer eigenen Kulturtechnik von der Art des Feuermachens zu erlaufen.

PS: Martina Salomon erzählt in ihrem Kommentar etwas von satanistischen Kulten bei Metal-Konzerten. Nachdem ich auch das so nicht nachvollziehen konnte, zieren stattdessen die Covers der entzückenden Monster-Dämonen-Zombie-Comics „Doom Metal Kit“ diesen Beitrag. Die Comics gibt es hier.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

Sonst noch neu

Oswald Wiener, Probleme der Künstlichen Intelligenz

Maschinen gelten möglicherweise nur als intelligent, weil wir uns selbst für intelligent halten. Vielleicht ist auch menschliche Intelligenz aber nur ein flacher Formalismus. Ein Ausweg kann die Konzentration auf Emergenz statt Intelligenz sein. Aber auch die Frage, ob in einem Prozess Neues entsteht, ist nicht trivial.

Onur Erdur, Schule des Südens

Biografische Wurzeln in Nordafrika als prägende Elemente postmoderner Theorie – und als Ausgangspunkt zu einer Verteidigung von Postmoderne und Dekonstruktion gegen mutwillige Missverständnisse und akrobatische Fehlinterpretationen.

Medienfinanzierung: Last Exit Non Profit

Non Profit-Journalismus entwickelt sich als neuer Sektor auch in Österreich, Stiftungen unterstützen in der Finanzierung. Hört man den Protagonisten zu, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass hier abgehobener, belehrender Journalismus gemacht wird, den man eben lieber macht, als ihn zu lesen.

Yuval Noah Harari, Nexus

Prinzip Wurstmaschine: Harari verarbeitet vieles in dem Bemühen, leichtfassliche und „originelle“ Einsichten zu formulieren und wirkt dabei fallweise wie ein geheimwissenschaftlicher Esoteriker. Auch bei Extrawurst weiß man nicht, was alles drin ist – aber das Ergebnis schmeckt vielen.

Meine Bücher