Das Recht geht von der Technik aus

Das Recht geht von der Technik aus

Überwachungs- und Digitalgesetzgebung beleuchten das Verhältnis von Recht und Technik: Können Gesetze etwas vorschreiben, das nicht funktionieren kann? Und ist das ein Problem des Rechts oder eines der Technik?

Die Regierung in Österreich einigt sich auf ein Gesetz zur Überwachung von Messengerdiensten, das nach ziemlich einhelliger Meinung aller einigermaßen technisch versierten BeobachterInnen nicht umsetzbar ist. Ist das schlaue Taktik, um die Maßnahme zu verhindern? Spricht daraus Inkompetenz in digitalen Belangen? Ist das ein Symptom der dunklen Seite politischer Macht, die glaubt, Dinge durchsetzen zu können, egal was genau im Gesetz steht und real möglich ist?

Jedenfalls wirft die Situation recht grelles Licht auf das zunehmend problematische Verhältnis von Recht und Technik. Überwachung ist nicht der einzige Punkt, an dem dieser Konflikt sichtbar wird. Regulierungen für Social Networks, die Durchsetzung von Altersbegrenzungen für einige Onlinedienste und Diskussionen zur Marktsteuerung im Digitalen sind andere Streitpunkte. Vieles davon ist in aktuellen politischen Debatte Thema. 

Ein erster Streitfall ist die Durchsetzbarkeit von Technikregulierungen. Recht ist national, Technik, vor allem digitale Technik, ist global. Das war lange Zeit ein großes Freiheitsversprechen; Kommunikation und Märkte überwanden nationale Beschränkungen, auch die strengsten Diktaturen verloren die Kontrolle darüber, welche Informationen und Produkte wo sichtbar waren. Dieser Zustand hielt allerdings nicht lang an. Netzsperren, Zensurmaßnahmen, Internetsteuern sind nur einige Mittel, mit denen Regierungen heute massiv in Netze eingreifen. Bislang ist das allerdings noch anrüchig: Das sind radikale Maßnahmen, die allenfalls Diktaturen zu Gesicht stehen. Demokratien möchten das vermeiden.

Das Freiheitsversprechen ist auch noch von einer anderen Seite unter Druck geraten: Große Plattformen haben die Tendenz zur Belanglosigkeit. Je größer Internetdienste wurden, desto weniger konnten sich dort Informationen von den Rändern des Wissens halten. Wo um die Jahrtausendwende noch bunte Felder aus Blogs, privaten Webseiten und Bibliotheksdatenbanken vielseitiges Wissen versprachen, setzte spätestens mit dem Siegeszug von Google ein einzigartiger Konzentrationsprozess ein, der sich durch die Verlagerung auf Social Networks als primäre Informationsquellen noch weiter an beschleunigt hat. Digitale Information ist heute im Allgemeinen in erster Linie mehr vom Gleichen.

Aus der staatlichen Regulierungsperspektive betrachtet heißt das vor allem: Nationale Gesetze können internationalen Plattformen nicht vorschreiben, was sie tun. Sie können sie allenfalls darin beschränken, wo sie es tun können. Das ist not in my backyard-Gesetzgebung. Und es ist ein Fall von Recht, das die Technik kalt lässt. Technik verändert sich hier nicht. 

Ein zweiter Streitfall betrifft die Ebene der Regulierung: Macht es Sinn, globale Phänomene auf anderen, eben nationalen, bestenfalls teilweise kontinentalen Ebenen zu regulieren? Schaffen sich die Regulierenden damit nicht bloß Wettbewerbsnachteile? Sind lokale Regeln für globale Prozesse nicht bloß Kosmetik, die ausdrücken, was unerwünscht ist, die zugleich aber auch Schwäche eingestehen, weil man nicht wirklich etwas gegen das Unerwünschte unternehmen kann?

Die empfindlichen Reaktionen der USA auf europäische Maßnahmen wie Digital Services Act und Digital Markets Act zeigt allerdings, dass auch Kosmetik dazu beiträgt, den richtigen Rahmen zu gestalten. Das Argument “Das bringt doch nichts” gilt hier weniger. Schließlich hat man in den Frühzeiten des Internet auch geglaubt, dass Netzsperren keine effiziente Maßnahme sein werden.

Der dritte und wesentliche Streitpunkt betrifft die Frage, was überhaupt rechtlich geregelt werden kann. Recht kann Menschen Verhalten vorschreiben und Sanktionen daran knüpfen. Das gilt für Verbote und für Gebote. Recht kann auch den Einsatz von Technik ge- und verbieten. Recht könnte sogar so weit gehen, die weitere Entwicklung oder den Ausbau bestimmter Technologien zu verbieten. Rechtlich kann das formuliert werden, praktisch schafft das Schwarzmärkte. Ein Dauerbrenner ist die Diskussion zu Nuklearwaffen. Die Technologie ist in der Welt. Der Streit darüber, wer sie unter welchen Bedingungen verwenden darf, führt gerade wieder in den Krieg. Hätte man die Entwicklung schon in den 40er Jahren unterbinden sollen? Damit hätte man nicht ihre Entstehung verhindert, sondern nur verändert, wer Nuklearwaffen als erster einsatzbereit gemacht hätte, lautete schon damals das Argument.

Es geht allerdings noch einen Schritt problematischer: Was machen wir, wenn das Recht Technik vorschreibt, die es nicht gibt? Genau das passiert aktuell bei der Messengerüberwachung in Österreich. Spionagesoftware soll nur das entschlüsseln können, was im konkreten Überwachungsauftrag steht. Ermittlungsbehörden bekommen also beispielsweise Signal- und Telegramchats der überwachten Person, aber nicht deren Browserverläufe oder Emails, wenn das nicht ausdrücklich angefordert wurde.

Es ist zweifellos möglich, die Weitergabe von Daten dergestalt einzuschränken. Allerdings ist es eben der Sinn von Spionagesoftware, alles abzugreifen und aufzubereiten. Die verbotene Information ist also vorhanden – nur nicht bei den Ermittlungsbehörden, sondern beim Softwarehersteller. Wie der diese nutzt, das entzieht sich der Kenntnis des Softwareanwenders, also der Ermittlungsbehörden. Das öffnet das Potenzial für einen weiteren großen Schwarzmarkt mit Daten, der den ohnehin schon existierenden Schwarzmarkt für Sicherheitslücken überaus effizient ergänzen wird. 

Das ist ein punktuelles Beispiel dafür, dass rechtliche Regeln technisch nicht machbar sind. In der Praxis ist das oft ein Sonderfall der Situation, dass der Einsatz bestimmter Technologien verboten werden soll. Der Versuch der positiven Formulierung soll darüber hinwegtäuschen, dass die Regeln nicht durchsetzbar und kontrollierbar sein werden. Im Fall der Messengerüberwachung wird die Einschränkung des Überwachungsumfangs als Merkmal einer besonders sicheren Technologie verkauft. Tatsächlich ist das vermeintlich stolze Gesetz aber die aus einer Position der Schwäche formulierte Bitte an Softwarehersteller, ihre überlegene Position nicht auszunützen. 

Gesetze können verabschiedet werden, fast unabhängig davon, ob sie Sinn machen oder umsetzbar sind. Deutliches Zeichen dafür war die Aufhebungsorgie schwarzblauer Gesetze. 

Wie können aber Gesetze, die an der Realität vorbei formuliert werden, auf beispielsweise Verfassungskonformität überprüft werden? Die formale Semantik kennt hier unterschiedliche Ansätze: Wir können korrekte Aussagen formulieren, die nichts mit der Welt zu tun haben. Ich kann zum Beispiel sagen: „Der Aufzug in meinem Haus ist häufig kaputt“, obwohl es in meinem Haus keinen Aufzug gibt. Für diese Aussage können Wahrheitstabellen erstellt werden, die den Regeln der Logik zufolge  positive Wahrheitswerte liefern können. Aber sollte diese Aussage überhaupt Wahrheitswerte liefern können? Semantiker haben dazu verschiedene Theorien formuliert.

Vermutlich kann so ein Gesetz verfassungskonform sein, auch wenn es einen Zustand beschreibt, der nicht umgesetzt werden kann. Aber was ist die rechtliche Folge der mangelnden Umsetzbarkeit? Bescheide von Verwaltungsbehörden können einseitig (also durch die Behörde) aufgehoben werden, wenn sie nicht umsetzbare Maßnahmen vorschreiben. Wer verantwortet im konkreten Fall die Interpretation des Gesetzes und verhindert ein voreiliges „Gut genug, passt schon“? Technik ist eindeutiger als Politik, in Politik geht es immer um Spielräume und darum, sie auszunützen. Auf welcher Seite wird die Verwaltung eher stehen? Das wird eine Frage des politischen Klimas und der politischen Redlichkeit zum Zeitpunkt der Umsetzung.

Eine weitere Frage: Wie gehen wir damit um, wenn sich herausstellt, dass die Umsetzung nicht den Kriterien entspricht? Wo liegt der Fehler, wenn eine nach vermutlich verfassungskonformen Vorgaben entstandene Umsetzung dem Text und der Idee der Vorgaben nicht entspricht? Ist es das Problem der ExpertInnen in der DSN? Oder ist es das Problem des Softwareherstellers, der Lösungen zugesagt hat, die er nicht umsetzen kann? Und wer kann dann wie in die Verantwortung genommen werden, wer trägt das Risiko? Wie setzt Österreich US- oder Israeli-Firmen gegenüber österreichisches Recht durch?

Und kann der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz aufheben, dass dem Text nach verfassungskonform ist, aber der Technik nach nicht umgesetzt werden kann und damit prinzipiell bloße Fiktion ist?

In der Technikgesetzgebung werden Institutionen und Praktiken neu auf die Probe gestellt.

Neben den ontologischen und semantischen Problemen (Wie entscheiden wir über Wahrheit und Rechtmäßigkeit von etwas, das es nicht geben kann?) erzeugt das schwierige Verhältnis von Technik und Politik ein weiteres Missverständnis. In Diskussionen der vergangenen 30 Jahre wurde oft das Missverhältnis von menschenorientierter, freiheits- und zukunftsorientierter Technik und verbohrter rückständiger Verwaltung heraufbeschworen. Technik innoviert, Recht reguliert, bremst, blockiert, ist politisch verunreinigt und gesteuert. Technik agiere unvoreingenommen, frei, fakten- und erfolgsorientiert. Politik und Recht sein von Macht- und Bewahrungsinteressen durchsetzt. 

Diese Einschätzung und der daraus erzeugte Freiheitskult um Technik hat Technik so viel Freiraum verschafft, dass Big Tech heute die Interessen einiger weniger bündelt und größer ist als Politik. 

Das ist nur die praktische Seite des Problems. Die systemische Seite: Es gibt keine neutrale, faktenorientierte und desinteressierte Technik oder Wissenschaft. Beide sind in kulturelle und soziale Systeme eingebettet.

Vermutlich muss sich erst diese Einsicht vermehrt durchsetzen, bevor wir zu einem neuen sinnvollen Verhältnis von Recht und Technik kommen.

Zu den neutralen, faktenbasierten und ergebnisoffenen Grundlagen nicht neutraler, faktenbasierter und ergebnisoffener Technik und Wissenschaft schreibe ich gerade etwas längeres. Für die Zwischenheit gibt es deshalb hier nur ein paar Links zu Vorstudien dazu:

Michael Hafner

Michael Hafner

Daten- und Digitalisierungsexperte, Wissenschafts- und Technologiehistoriker, Informatiker und Journalist

Sonst noch neu

Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität

Klasse-, Rasse- oder Gender-Identitäten schaffen einen neuen verbohrten Essenzialismus, der Freiheit zu seinem Feindbild macht. Dazu gesellen sich viele halbphilosophische Missverständnisse.

Niall Ferguson: The Great Degeneration

Verantwortung statt Regulierung, bürgerliche Freiheit statt staatlicher Fürsorge. Fergusons Rezepte gegen Degeneration sind allerdings zwischen den Zeilen stark moralisch überladen.

Meine Bücher