Der ORF gibt ein Gutachten über die Auswirkungen seiner Digitalpräsenz auf andere Medien in Auftrag. Die Autoren des Gutachtens verlaufen sich. Ihre Kernaussage ist: „Wir wissen es auch nicht.“ Der ORF feiert.
Was ist passiert? Seit zwei Jahren muss sich der ORF vermehrt der Frage stellen, wie sehr das öffentlich finanzierte Medium alle anderen Medien auf dem kleinen Markt Österreich dank seiner öffentlich gut gefüllten Taschen kommerziell an die Wand spielt. Umso mehr, seit dank Haushaltsgabe und ORF-Gesetz noch mehr Geld in die Kassen des Medienriesen gespielt wird und dem ORF noch mehr Möglichkeiten online offenstehen. Andere Medien sehen sich währenddessen multiplen Krisen ausgesetzt und experimentieren mit der Monetarisierung von Digitalinhalten – eine Herausforderung, der sich der öffentlich rechtliche Riese nie stellen musste.
Trotzdem meint man, hier mitreden zu müssen. ORF-Vertreter richten anderen Medien gern aus, niemand hindere sie daran, so erfolgreich zu sein wie sie selbst. Jedes Medium hätte die gleichen Reichweiten und ähnliche Marktpositionen erzielen können (da ist anzumerken: Nein. Wer sich mit Monetarisierung beschäftigen musste, konnte sich nicht vollends auf Reichweite konzentrieren. Und umgekehrt). Dazu kommt: Auch in der ÖWA (Österreichichische Web Analyse) ist der ORF nicht zuletzt deshalb aus Platz 1, weil er meint, dass für öffentlich rechtliche Angebote andere Zählregeln gelten. Eine umstrittene Einstellung, die in absehbarer Zeit zum Ausschluss von orf.at führen kann.
Um die vermeintliche Digital-Vormachtstellung zu untermauern, ließ man eben jetzt ein Gutachten erstellen. Eine erste, vor einem Jahr erstellte Umfrage, die hätte untermauern sollen, wie sehr User den ORF gegenüber anderen Medien bevorzugten, wurde nie veröffentlicht. Der sehr einfache Grund: User bevorzugten den ORF im Internet nicht aus inhaltlichen oder qualitätsorientierten Gründen gegenüber anderen Medien. Sein vorrangiger USP war schlicht: Er kostetet nichts. Wobei auch das falsch ist. Korrekt muss es heißen: Der ORF im Internet kostet nichts zusätzlich zu dem, was sie ohnehin an ORF-Gebühren zahlen müssen.
Deshalb jetzt eben Wissenschaft.
Allerdings auch hier bleibt das einzig eindeutige Ergebnis: Nachrichtenkonsumenten sind in erster Linie preissensibel. Für über 60% der LeserInnen und Leser ist es das ausschlaggebende Argument, dass eine Nachrichtenseite nichts kostet.
Das ist nun tatsächlich ein großer Verdienst, den sich öffentlich rechtliche, Corporate Newsrooms, Social Networks und auch ratlose Digitalnachrichtenseiten teilen können.
Der Rest des Gutachtens ist recht spekulativ auf wackligen Stelzen unterwegs. Viele Annahmen und Voraussetzungen stimmen nicht: Weitaus mehr Seiten (als die Autoren annehmen) setzen auf Digitalabos. Digitalabos enthalten anderes als online verfügbar gemachte Zeitungsinhalte. Digitalmedien als ganzes konkurrieren nicht mit einer einzelnen Seite des ORF (der sogenannten Blauen Seite), sondern mit dem ganzen ORF Online-Universum von Sport über Lokalnachrichten bis zu Wetter und Kulturmagazinen. Die in der ÖAK (Österreichische Auflagenkontrolle) veröffentlichten Paid Content-Zahlen verhalten sich zu echten Digitalabozahlen so wie FTE-Kennzahlen zu Menschen – abgesehen davon, dass viele große Verlage nach wie vor ihre Digitalzahlen nicht an die ÖAK melden.
Für Weltnachrichten (die es vermeintlich überall gibt – solange es sie gibt) nutzen immer weniger Menschen Nachrichtenseiten von Medienhäusern, das ist richtig. Umso mehr sind Medienhäuser zusätzlich auf Diversifizierung und Spezialisierung angewiesen. Umso dynamischer ist der Markt. User reagieren sensibel auf Veränderungen, aber langsam.
Die Gutachter interpretieren ihre Arbeit so, dass eine eventuelle Einstellung der Blauen Seite kaum Auswirkung auf den Digitalabo-Absatz anderer Medien hätte. Die gleichen Zahlen des gleichen Gutachtens können auch so interpretiert werden, dass eine umfassende Einschränkung des ORF im Internet zu einer Vervielfachung des Digitalabo-Marktes führen würde.
Solche wackeligen Konstrukte sind wenig hilfreich. Schade, dass sich ORF-MacherInnen hinter so dünner Spekulation verstecken statt sich mit ihrer Rolle im Medienmarkt zu beschäftigen.