Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus

Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus

Ist der Radikale Konstruktivismus das angemessene Framework für die Beschäftigung mit philosophischen Fragen in Data Science?

Wissen hilft, uns zielorientiert in der Welt zu verhalten. Wie weit Wissen dabei mit einer Realität übereinstimmt, sie abbildet und wie diese Übereinstimmung ihrerseits wieder abgebildet oder gemessen werden kann, das ist irrelevant. – Eigentlich müsste der Radikale Konstruktivismus von Glasersfeld die heiße Philosophie unserer Zeit sein. Die zweckorientierte pragmatische Perspektive verträgt sich auf den ersten Blick  gut mit einer Sichtweise, in der Bildung und Zusammenhänge als überschätzter Ballast gelten, Effizienz im Vordergund steht und das Wissen, wo man nachsehen kann, Wissen ersetzt.

Konstruktivismus ist aber eher eines der Feindbilder von Rationalisten und Realisten, die sich platte Abziehbilder konstruktivistischer Positionen schaffen, um dann gut dagegen argumentieren zu können. Dabei wird Konstruktivisimus oft auf soziale Konstruktion oder auf platten Solipsismus reduziert. (Und jene, die sich diese platten Konstruktivismus-Karikaturen zum Vorbild für ihre eigenen schwachen Argumente nehmen könnten, kriegen auch das gar nicht mit.)

Konstruktivisten wie Glasersfeld stellen nicht die Frage, ob es so was wie Realität gibt oder nur Konstruktion. Sie beschäftigen sich auch gar nicht mit Fragen der Erkenntnis oder den Möglichkeiten des Erkennens – für Glasersfeld stehen Wissen und Begriffsbildung im Mittelpunkt.

Seine wesentlichen Überlegungen drehen sich um die Frage, wie Begriffe entstehen und welche Funktion sie erfüllen.

Begriffe sind gewissermaßen die Währung des Wissens – über sie kann Wissen ausgetauscht und vermittelt werden, sie schaffen Berührungspunkte zwischen jenen, die Wissen haben. Ob sie auch Berührungspunkte zu ihren Objekten schaffen, ob und wie sie also Realität abbilden, ist für Glasersfeld keine wesentliche Frage. Relevanter ist, ob sie helfen, in der Welt zurechtzukommen, ob sie also funktionieren. Viabilität ist ein wichtiges Kriterium – das bezeichnet die Frage, ob Begriffe und Wissen angemessen sind, funktionieren, ihren Zweck erfüllen.

Kognition ist demnach für Glasersfeld ein adaptiver Prozess: Wissen und Begriffe werden aufgrund der Erfahrungen, die sie ermöglichen, angepasst. Viele Konzepte hat Glasersfeld dabei von Jean Piagets Entwicklungspsychologie übernommen, die sich damit beschäftigt, wie Begriffsbildung bei Kindern funktioniert.

Als weiteren wichtigen Einfluss beschreibt Glasersfeld immer wieder seine eigene mehrsprachige Kindheit, die ihm schon früh vermittelt habe, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Begriffen und Gegenständen sehr unwahrscheinlich sei – schließlich hießen sie nicht nur in allen Sprachen anders, in manchen Sprachen gibt es für einen Sachverhalt einfache Wort, in anderen zusammengesetzte, in wieder anderen nur Umschreibungen.

Was macht den Radikalen Konstruktivismus auch heute noch interessant?

Als Wissenstheorie ermöglicht Konstruktivismus eine pragmatische Perspektive auf Fragen von Wissen, Modellbildung, Repräsentation und aus Modellen (oder Metaphern, Analogien und Gleichungen) abgeleitetes Wissen. Aus konstruktivistischer Perspektive entfällt die komplizierte Frage nach dem Wesen der Beziehung zwischen Repräsentation und Repräsentiertem, denn aus konstruktivistischer Perspektive gibt es keine Repräsentation, sondern nur Präsentation (allenfalls Re-Präsentation, also die neuerliche Präsentation). Das lenkt die Aufmerksamkeit auf aktive gestalterische Komponenten des Versuchs, Wissen abzubilden – und damit nimmt Glasersfeld viel von dem vorweg, was Objektivitätskritikerinnen wie Loraine Daston oder Michael Lynch später genauer ausführen sollten. Der Fokus auf die Präsentation rückt auch die materielle Dimension von Begrifflichkeiten und ihren Präsentationen ins Blickfeld: Wenn Modelle oder Aufzeichnungen und Visualisierungen nicht nur Hilfskonstrukte sind, die das Eigentliche repräsentieren, dann macht es auch Sinn, sich mit den konkreten Eigenschaften dieser Modelle und Aufzeichnungen zu beschäftigen, so wie man gewohnt war, sich mit den materiellen Eigenschaften des vermeintlich eigentlichen Objekts zu beschäftigen.

Als pragmatische und formalistisch-wirkungsorientierte Perspektive erspart Konstruktivismus viele aufwendige Debatten über transzendente und metaphyische Eigenschaften oder über richtig und falsch und eine diese Entscheidungen überhaupt erst ermöglichende Teleologie (also Vorstellungen von übergeordneten letzten Zielen). Stattdessen zählt, was funktioniert. Aus einer ethisch oder normativ orientierten Perspektive kann Konstruktivismus daher auch sehr kritisch betrachtet werden, allerdings setzt die pragmatische Perspektive auch ein starkes konsensuales Element: Etwas funktioniert ja nur dann, wenn es für mehrere funktioniert, wenn man sich also darauf einigen kann, dass es richtig oder praktisch ist oder zum gewünschten Ergebnis führt.

Zugleich ermöglicht Konstruktivismus aber auch die gezielte Formulierung solcher wesensorientierte Fragen. Die Analyse der pragmatischen Aspekte macht klar, was besonders pragmatisch ist, also gar nicht mehr hinterfragt wird und als selbstverständlich angenommen wird – seien es Ideen, Haltungen oder Maschinen. Wenn wir feststellen, dass etwas so selbstverständlich ist, dass wir gar keine Fragen mehr dazu stellen können und es wie eine Black Box betrachten, dann haben wir damit die Ausgangslage für sehr viele Fragen geschaffen, etwa die, warum das so ist, welche Alternativen es geben könnte und wie groß die Black Box eigentlich ist (also wo wir aufgehört haben, Fragen zustellen). Glasersfeld hat damit eines der zentralen Konzepte der Actor Network Theory vorweggenommen – Bruno Latour selbst spricht oft von blackboxing und dem closing der Black Boxes, wenn er sich mit dem Entstehen (wissenschaftlichen) Wissens beschäftigt.

Schließlich halte ich diese Grundzüge des Radikalen Konstruktivismus auch für eine gute Ausgangsposition für die wissenstheoretische Auseinandersetzung mit Data Science. Auch hier haben wir es mit einem hoch formalisierten, auf pragmatische Zusammenhänge abzielenden Umfeld zu tun. Das Ergebnis muss formal betrachtet schlüssig sein und sollte keine Rechenfehler sichtbar machen, der Bezug der Daten und Algorithmen zu ihren Objekten kann ausgeblendet werden. Dass das oft zu sozial, ethisch und auch epistemisch unvorteilhaften Ergebnissen führt, hat Cathy O’Neill in “Weapons of Math Destruction” ausgeführt.

Konstruktivismus kann durchaus ein Framework sein, um Data Science-Fragestellungen wissenstheoretisch und wissenschaftsphilosophisch zu behandeln – beide, Data Science und Radikaler Konstruktivismus müssen sich aber letztlich auch einer großen Frage stellen, die über den eigentlichen Anspruch dieser Konzepte (oder Disziplinen) hinausgeht: Reicht das? Sind wir wirklich zufrieden damit, pragmatische formalistische Zusammenhänge und deren Abläufe zu analysieren – oder wollen wir doch mehr? Zumindest der Zweck von Begriffen und ihrer Verwendung sollte stets präsentes Thema sein – das meint auch Glasersfeld.

Das Tragische dabei ist, dass gerade diese Zweckorientierung oft als Argument gegen Konstruktivismus ins Feld geführt wird. Gegner sehen darin Anmaßung, Opportunismus und intellektuelle Unredlichkeit. Der Konstruktivist dagegen sieht hier Demut und Bescheidenheit – wir können ja nur beobachten, ob es funktioniert. Ob es richtig ist, wissen wir dann noch immer nicht – weder im epistemischen noch im ethischen oder sozialen Sinn.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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