Welche Art Fakten braucht man, um ernsthaft über Politik reden zu können?
Wirklichkeit und Wahrheit halte ich ja nicht gerade für aussagekräftige journalistische Kategorien.
Einerseits ist da die Sache mit der Objektivität. Lernt man schon von klein auf und ist halt immer schwierig: Objektiv gibts eben nicht wirklich, auch ausgewogen und pluralistisch ist nur dann wirklich möglich, wenn man sich auch Fragen der Unendlichkeit stellt – wie viele Sichtweisen sind schließlich schon genug?
Andererseits ist da die Frage der Relevanz: Viele Fakten sind – korrekt und meinungsfrei für sich genommen, auch wenn sie großartig aufbereitet sind – eben bloß stille und ruhige Fakten, die erst dann eine Art von Wirkung entfalten, wenn sie mit Macht und Meinung kombiniert werden. Es gibt mehr Fakten als Macht, deshalb fällt es unterschiedlichen Machtinteressen auch recht leicht, die jeweils passenden Fakten zu finden.
Ganz gemein ist auch die Logik: Abhängig von Präzisions- und Verallgemeinerungsgrad können manche Dinge einfach nicht falsch ein. Richtig sein können sie dagegen sehr wohl – wobei die Betonung auf „können“ liegt. Das ist die Art von Behauptungen, über die es sich nicht zu streiten lohnt.
Besonders schwierig wird das dann, wenn man außerhalb der eigenen Bibelrunde argumentieren möchte. Ich hab mir da mal ein paar Beispiele rausgesucht. Alles sind öffentlich gepostete Beiträge zu aktuellen politischen Diskussionen. Veröffentlicht wurde entweder in großen Tageszeitungen oder auf deren Userseiten – von Menschen, die offensichtlich der Meinung sind, dass sie sich informieren und Dinge verstehen.
Aber was brauchen wir, um sie zu verstehen?
Typ Hausverstand
Der Mann weiß es einfach. Und er hat ja auch recht: Bier und Tschick, die Insignien des Fußballfans, sind besonders hoch besteuert. Nachdem anzunehmen ist (Evidenz!), dass deren Konsum während besagter Events steigt, steigt damit auch das Steueraufkommen. Was einer Steuererhöhung, naja Dings, halt schon sehr ähnlich ist.
Und wer noch mit dem Auto zu Stadion fährt, ist sowieso die Melkkuh der Nation.
Typ geheimes Wissen
Historische Herleitung, bestechend zusammenhanglose Argumentation, geschickte Abkenkmanöver für Gesprächspartner mit historischer Restbildung (Cäsar, der krasse Christ!), dokumentierbare Evidenz – und außerdem ist alles ganz einfach.
Typ äh …?!
Ok. Das ist nicht ganz einfach. Wenn man auch hier davon ausgehen möchte, dass diese Person nicht ausschließlich über das vegetative Nervensystem kommuniziert, wäre das etwas in der Logik von „Wenn du sie nicht überzeugen kannst, verwirr sie“. Und damit wahrscheinlich auch eine Anspielung auf elitäres Wissen einer intellektuellen zumindest Mittelklasse, die diesen Spruch Harry Truman zuordnen kann (nein, das ist nicht der aus der Truman-Show). Ich persönlich habe ihn ja mal bei Garfield gelesen. „So ist es“, um die Original-Meinungsmutige nochmal abschließend zu zitieren. Oder?
Es ist aber also gar nicht so einfach mit der Wahrheit.
Dazu kommt: Wo es um offizielle und kanonisierbare Wahrheiten geht, ist die Wahrheit immer die eines anderen. Wahrheit ist, was man draus gemacht hat.
Das gilt auf mindestens zwei Ebenen:
Die erste beruht auf Macht oder Konsens: Man hat sich darauf geeinigt, dass etwas so sein soll. Beispiele dafür sind Mathematik oder Recht. Mathematik ist zwar abstrakter, aber noch direkter mit ihrem Gegenstand verknüpft (ohne Mathematik gäbe es schließlich auch kaum Zahlen). Recht klingt zwar greifbarer, wäre aber ohne Macht noch sinnloser. Denn der praktische Wahrheitscharakter dessen, was als Recht festgeschrieben ist, ergibt sich aus der Durchsetzbarkeit.
Die zweite Ebene hat mit Beschreibung und Dokumentation zu tun: Enthüllt wird über Akten, Datenbanken und Protokolle. Dort steht das drin, was wer anderer hineingetan oder -geschrieben hat. Die enthüllte Wahrheit ist also grundsätzlich einmal die Erfindung eines anderen.
Natürlich wird es ab hier dann erst richtig spannend. Die schönsten Fakten ergeben sich dort, wo dokumentierte Daten den offiziellen Daten und im Idealfall auch noch den normativen Daten widersprechen. Im Klartext: Jemand macht nachweislich etwas anderes als er oder sie sagt und sollte das auch nicht tun. Und es gibt jemanden der diesen Zustand auch dokumentieren und sanktionieren möchte. – Und das auch kann (damit wir die Machtdimension nicht vergessen).
Große, ruhige Reportagen, für die jemand von seinem Sessel aufgestanden ist und über das Internet (oder die Bibliotheken und andere Archive) hinausgeblickt hat, sind für mich die journalistische Kategorie, die noch am ehesten mit Wahrheit zu tun hat. – Wenn es genug davon zu ähnlichen Themen von verschiedenen Seiten gibt. Dann hat man nämlich auch den Rahmen, in dem man mit Fakten etwas anfangen kann.