Ich danke meinem Kanzler

Ich danke meinem Kanzler

Manche Menschen - wie ich - müssen jeden Tag neu lernen, andere nicht beim Wort zu nehmen.

Es gehört zu meinen großen Schwächen, Menschen ernst zu nehmen. Wenn mir jemand sagt: „Ich möchte dieses und jenes tun“, dann ist das für mich eine verbindliche Absichtserklärung. Es ist gleichbedeutend mit: „Ich habe darüber nachgedacht, ich habe einen Entschluss gefasst, ich habe auch darüber nachgedacht, es nicht zu tun, es blieb für mich aber die attraktivere und praktikablere Entscheidung, es doch zu tun, und ich werde es in nächster Zeit tun. Falls ich es doch nicht tue, dann sind relevante Gründe aufgetreten, die dagegen sprechen, und ich werde jene, für die es relevant ist, ob ich dieses oder jedes tue, davon in Kenntnis setzen, dass ich jetzt dieses oder jenes nicht tun werde.“ Meist bedeutet es allerdings eher: „… vielleicht aber auch nicht.“ 

Für mich ist diese Schwäche mit hohem Energieaufwand verbunden. 

Ich muss mich davon abhalten, mich mit der Vorstellung auseinanderzusetzen, mein Gegenüber würde tatsächlich dieses oder jenes tun. Ich muss mir verbieten, den Gedanken weiterzuspinnen oder potenzielle Zeitpläne und eventuelle Folgen zu präzisieren. Ich muss heimlich das Mantra „Kümmere dich nicht darum“ rezitieren, ohne in Haltung und Miene „Mir is wurscht“ oder „Ich weiß, dass du Müll redest“ auszudrücken. 

Und das ist harmlos. Mittlerweile bin ich 50 und ich weiß, wie ich reagiere und was ich von wessen Ankündigungen zu halten habe. 

Früher war das noch anstrengender. Wenn mir Teenager andere Teenager von vermeintlichen Großtaten erzählt haben, von durchfeierten Nächten, getesteten Drogen und abenteuerlichen Erlebnissen erzählten, dann war das für mich bare Münze. Mehr noch: Ich musste das überbieten. Das war anstrengend. Und lustig. Und manchmal gefährlich. Jedenfalls aber erkenntnisreich. In doppelter Hinsicht: Ich lernte viel während meiner Teenie-Eskapaden. Und ich lernte am Staunen der anderen, wenn ich von diesen durchblicken ließ, wie deren Erzählungen einzustufen waren. Nämlich im Reich der Phantasie und der nicht näher spezifizierten Willensbekundungen. 

Das war anstrengend. 

Insofern bin ich Karl Nehammer dankbar. Er trank ein Krügel auf Ex für die Medien – was für ein starker Typ! Was für ein verantwortungsloser Wappler, ein schlechtes Vorbild für die alkoholgefährdeten Landsleute! Was für ein seltsamer Anschluss an seine Prophezeiung, Menschen hätten ohnehin nur noch die Wahl zwischen Alkohol und Psychopharmaka! Was für ein Weichei – das angesichts mancherorts hochgezogener Augenbrauen umgehend verlautbaren ließ: Es war gar kein Bier. Es war nicht einmal ein saurer Radler. Es waren zwei Zentimeter Bier, gemischt mit Wasser. 

Kinder aller Altersstufen, denkt immer daran: Er hat euch belogen. Alle coolen Hunde, die starke Sprüche, weitreichende Gesten oder relevante Images zelebrieren, belügen euch. Lacht über sie, ignoriert sie, überbietet sie. Aber tut es um euretwillen, für euren Spaß. Nicht um deretwillen. 

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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