Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen

Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen

Viele politische Bücher der letzten 20 Jahre sind schlecht gealtert, dieses besonders schlecht.

Der großen Frage – Wer hasst den Westen und warum? – stehen bei Ziegler sehr fragmentarische Beobachtungen zu diversen Tiefpunkten der Kolonialgeschichte gegenüber. Wie rassistische Theoretiker, die ein geschichtsloses Afrika postulieren, das erst mit europäischen Entdeckern greifbar wurde, setzt auch Ziegler seine Problemgeschichte erst mit etwa 1830 an. Das ignoriert nicht nur 400 Jahre europäisch-afrikanischer Beziehungen seit Vasco da Gama, sondern auch afrikanische Geschichte an sich. 

Seine Lateinamerika-Analysen laborieren an ähnlichen Problemen; generell ist Zieglers Position: Der Westen ist in der Durchsetzung und Einhaltung der Menschenrechte nicht konsequent genug, ist aber sehr konsequent darin, Menschen andere Aspekte westlicher Lebensformen aufzuzwingen (nämlich die Produktionsweisen) und Schuld an allem ist der Kapitalismus, genauer gesagt der Versuch des Westens, den Kapitalismus überall durchsetzen zu wollen, was bei ärmeren Ländern nicht immer auf Gegenliebe treffe. 

Das verwundert, denn Staatschefs außerhalb Europas verbitten sich heute Einmischungen in innere Angelegenheiten, nehmen eigene Interpretationen von Menschenrechten in Anspruch und wollen sich marktwirtschaftliche Entwicklung nicht nehmen lassen. Es sind weniger sozialistische Politeliten als aufstrebende Mittelschichten, die politische demokratische Entwicklungen vorantreiben und gegen Korruption auftreten. 

Ebenfalls verwundert, dass Ziegler beispielsweise Wole Soyinka als Zeugen für Hass auf den Westen aufruft. Es lassen sich viele hassspezifische Aufrufe von Soyinka finden – allerdings richten sie sich gegen Hass. 

Schlecht gealtert ist auch Ziegler Apologie auf Evo Morales. Morales ist für Ziegler antikapitalistischer Rückeroberer des Südens, die Wahl in Bolivien 2009 bezeichnet Ziegler als entscheidend für die Welt (diese Ausgabe wurde 2009 zuletzt überarbeitet). Morales gewann die Wahl überlegen. Dann kandidierte er entgegen seiner selbst erarbeiteten Verfassung 2015 für eine dritte Amtszeit und ging noch einmal – knapper – als Sieger hervor. 2019 wollte er ein viertes Mal Präsident werden, gewann unter fragwürdigen Umständen und wurde aus dem Land gejagt.

Russland erwähnt Ziegler gar nicht, China kaum und auch die arabischen Ölgroßmächte beachtet Ziegler nicht.

Weiteres bemerkenswertes Detail: Frauen sind bei Ziegler hübsch, naiv, schüchtern, korpulent oder kühl, während Männer gerissen, machtorientiert, gewinnend, sympathisch und durchsetzungsstark sind.

Michael Hafner

Michael Hafner

Daten- und Digitalisierungsexperte, Wissenschafts- und Technologiehistoriker, Informatiker und Journalist

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