Jeanette Gusko, Aufbrechen

Jeanette Gusko, Aufbrechen

Brüche im Lebenslauf schaffen Resilienz, Problemlösungskompetenz und Flexibilität. Da kann man mit. Aber die Idee, das an Gruppenidentitäten zu knüpfen (Ostdeutsch, Migrationsgeschichte oder sozialer Aufstieg) ist haarsträubend abstrus.

Menschen, die Umbrüche erlebt haben, sind flexibler, resilienter und offener, weil sie sich Alternativen nicht nur vorstellen können, sondern auch erlebt haben

Das ist eine relevante und richtige Ansage in einer Welt, die zusehends an Homogenität verliert, in der Eindeutigkeit die mit Gewalt hergestellte Chimäre nationalistischer, konservativer oder autoritärer Demagogen ist.

Gusko bemüht allerdings genau diese Eindeutigkeitschimäre als vermeintlich allgegenwärtigen Hintergrund, von dem sich Transformationskompetente abheben. 

Damit nicht genug: Transformationskompetente sind, geht es nach Gusko, in bestimmten Milieus zu finden. Es sind Ostdeutsche, die keine Ossis mehr sein wollen, Menschen mit Migrationshintergrund (auch in der zweiten und dritten Generation) und aufgestiegene Arbeiterkinder.

Fast allem, was Gusko über Transformationskompetenz sagt, kann ich zustimmen. Nur finde ich die Ausgangslage mit diesen klar abgetrennten Töpfen, vielleicht noch mit Gummiring abgedichtet wie Marmelade oder eingelegtes Gemüse zum Überwintern, völlig absurd. 

Scheidungen, Pleiten, Jobverlust, Alleinerziehendendasein, um nur ein paar Umbrüche aufzuzählen, sind Transformationen, die in der Mehrheitsgesellschaft offenbar watteweich aufgefangen werden. Im Gegensatz dazu beschreibt Gusko potenziellen Jobverlust in Transformationskompetenz-Milieus als existenzbedrohend.

Menschen ohne Migrationshintergrund oder Aufstiegsbiografie sind in Guskos Darstellung – unausgesprochen aber deutlich – Karriere- und Lebenswege vorgezeichnet, auch wenn es keine Anwaltskanzleien oder Arztpraxen von den Eltern zu übernehmen gibt, nicht einmal eine Greißlerei.

Die Eindeutigkeit der Mehrheitsgesellschaft ist eine Schimäre, die Eindeutigkeit der Herkunftsmilieus wundert mich allerdings ebenso. Es ist problematisch, in solchen Fällen auf die persönliche Geschichte zurückzugreifen. Gusko und ihre Gesprächspartner machen das, also sei es hier auch erlaubt. Mein Vater war Wissenschaftler, dann auch Universitätsprofessor, meine Mutter Volksschullehrerin. Klassisches Akademikerkind voller Akademikerprivilegien also. Mein Vater war der erste und einzige Studierte in einer Arbeiter- und Flüchtlingsfamilie, die im Zweiten Weltkrieg alles verloren hatte. Allerdings als Deutsche, die aus dem heutigen Polen nach der deutschen Grenze fliehen mussten. In der erweiterten Familie gab es keine Selbstständigen, Unternehmer oder Manager, lange Zeit nicht einmal Angestellte. Es gab auch niemand, den man in Rechts- oder Steuerdingen um Rat fragen, mit dem man Behördenwege abkürzen oder irgendwelche anderen Abschneider gehen konnte. Ich habe unausgesprochen gelernt, dass man nirgendwo dazugehört und eigentlich auch nirgends dazugehören will, dass man seine eigenen Dinge selbst regelt und dann am besten fährt, wenn man von niemandem etwas braucht. Ich hatte nie das Gefühl, arm zu sein, Kleidung von Bruder und Cousin war lange Zeit normal und mein Bruder und ich haben bis in das Alter von 17 oder 18 in Stockbetten in einem etwa zehn Quadratmeter großen Zimmer mit Fenster zum Gang geschlafen. Der Vater eines Schulfreunds war Eisenbahner, die ganze Familie konnte kostenlos mit der Eisenbahn fahren. Das waren Luxus und Privilegien. Urlaubsreisen gab es alle paar Jahre, die restlichen Sommer gab es Großeltern. Als Studienanfänger hätte mit eine akademische Karriere gefallen, aber niemand konnte mir sagen, worauf des dabei ankommt, auch mein Vater hatte als Physikprofessor keine Ahnung, was von Juniorphilosophen erwartet würde (heute, zwei abgeschlossene Studien später, weiß ich es noch immer nicht). Ich habe alle fünf Jahre den Job gewechselt, habe es dabei lange Zeit immer wieder gut erwischt, bis ich mal gestolpert und durch alle Netze gefallen bin und nach ein paar zähen Jahren heute ein besseres Leben hab. Ich bin weiß, männlich und hetero. Bin ich jetzt transformationskompetent oder bin ich Teil der gleichförmigen Mehrheitsgesellschaft?

Ich halte die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Umgebungen, Situationen und Möglichkeiten umgehen zu können, für weitaus relevanter als den Großteil aller Ausbildungen. Ich finde es befremdlich, bei Erwachsenen mehr auf eine vor dreißig Jahren absolvierte Ausbildung als auf Tätigkeiten zu achten (was nicht bedeutet, dass jetzt alle Ärzte wären. Aber mein Vertrauen würde da weniger durch Uni-Zeugnisse geprägt). Ich halte geradlinige Karrieren mit gleichförmigen Aufgaben in ähnlichen Branchen und stetig in kleinen Schritten wachsenden Verantwortungsbereichen für kritische Alarmsignale, wenn Menschen gebraucht werden, die neue Probleme lösen und diffuse Situationen klären können. 

Aber ich finde es völlig abstrus, Fähigkeiten zum Perspektivenwechsel, Kreativität in Betrachtungsweisen oder Problemlösungskompetenzen an Gruppenidentitäten festzumachen. Die Idee widerspricht in ihren formalen Grundzügen ihren eigenen Inhalten völlig. Mit ihrer These konstruiert Gusko eine große konsistente Einheitsgesellschaft wie AfD und FPÖ es nicht besser könnten, und setzt dieser mehrere in ihrer Homogenität nicht minder konstruierte Minderheitsgesellschaften entgegen, die auf wundersame Weise durch gemeinsame Züge geeint werden. Es ist ein wenig tragisch, dass Logik by Gruppendynamik heute ein anerkanntes und übliches Argumentationsmuster ist.

Und natürlich kann ich als Nicht-Ossi, als Teilzeit-Arbeiter:innenkind mit unsichtbarem ostpreußisch-slowakisch-österreichischen Migrationshintergrund nicht mitreden, weil ich nicht betroffen bin. Ebenso wenig wie ich, als im auf dem Land gelebt habe, im Wirtshaus mitreden konnte, weil ich auch nach zehn Jahren nicht „von hier“ war. Oder ebenso wenig wie ich je als Wiener mitreden konnte. Oder ebenso wenig, wie ich „Menschen wie mich“ unter den „Reichen und Mächtigen“ gesehen hätte. Und ich könnte auch nicht einmal sagen, ob ich jetzt im Vergleich zu meinen Eltern auf-, ab- oder sonst wohin gestiegen wäre. Ich verdiene gut, besitze wenig, und wäre selbst nach strengen sozialdemokratischen Phantasien nicht vermögenssteuerpflichtig. Ich habe jetzt schon einige Bücher solcher „Klassenreisender“ gelesen, aber ich hätte noch immer keinen Anhaltspunkt gefunden, wohin ich mich orientieren sollte. Liegt das daran, dass ich ein lebenslanges Jahresticket für Klassenreisen gebucht habe? Oder ist das ein Hinweis darauf, dass das eventuell doch ein untaugliches Konzept ist?

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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