Niall Ferguson: The Great Degeneration

Niall Ferguson: The Great Degeneration

Verantwortung statt Regulierung, bürgerliche Freiheit statt staatlicher Fürsorge. Fergusons Rezepte gegen Degeneration sind allerdings zwischen den Zeilen stark moralisch überladen.

Mit dem Westen geht‘s bergab – an der Diagnose hat sich wenig verändert, trotzdem meinte Ferguson beim Erscheinen von „The Great Degeneration“ 2012 etwas anderes damit, als man heute darunter verstehen würde. 2012 war Migration noch kein dermaßen dominantes Thema, China schien in einer unaufhaltsamen Aufwärtsbewegung, die Krim gehörte unbestritten zur Ukraine und die USA hatten noch nicht einmal die erste Trump-Präsidentschaft hinter sich. Wie schnell solche Bücher jetzt veralten.

Fergusons Degenerationsdiagnose ist handfest: Der Westen hatte einen Vorsprung, inklusive Institutionen (hier stimmt Ferguson Acemoglu und Robinson zu) haben dazu beigetragen, diesen Vorsprung zu ermöglichen, in entscheidenden Bereichen wie Wohlstand und Bildung aber stagniert der Westen, während andere Teile der Welt deutlich aufholen.

Institutionen haben Sicherheit geschaffen, die dadurch entstandene Stabilität hat Wachstum ermöglicht. Wesentlicher Zusammenhang für diese Entwicklung ist die Möglichkeit, Schulden zu machen: England als einer der am frühesten für breitere Bevölkerungsschichten stabile Staaten war ein vertrauenswürdiger Schuldner – mehr Menschen besaßen Land, konnten wirtschaften und Steuern zahlen. Das ermöglichte es dem Staat, Schulden aufzunehmen das ergab eine gut gefüllte Kriegskasse, mit der sich See- und Kolonialkriege führen ließen. 

Stagnierende Wirtschaft gefährdet dieses Zusammenspiel und macht Schulden zu einem Problem. Von langsamer Wirtschaft und hohen Schulden betroffene Staaten müssten sich zwischen Reformen und dem Schicksal Griechenlands (also späteren, aber umso einschneidenderen Reformen) entscheiden, würden aber eher versuchen, dem Risiko hoher Schulden mit möglichst niedrigen Zinsen zu begegnen. Das ist schlecht für das Wirtschaftswachstum und das Inflationsrisiko. Heute, gut zehn Jahre später, wissen wir das – auch wenn es mit einer Pandemie und einem Krieg noch weiterer Anstöße bedurft hat, das Inflationsrisiko schlagend lassen zu werden.

Drohende Risiken ziehen Regulierungen nach sich, in den Nachwehen der Finanzkrise (die 2012 noch präsenter waren) waren insbesondere Banken steigender Regulierung ausgesetzt. Ferguson schätzt stabile Institutionen, kritisiert aber Regulierung. Stattdessen appelliert er an Verantwortung. Deregulierung sei weniger ein Problem als das Gefühl von Straflosigkeit, das sich ausbreite, wenn Bankbosse auch in Krisen noch Boni kassierten.

Das ist eine etwas moralisierende Vorstellung. Welche Anreize (abgesehen davon, Strafen zu entgehen) zu mehr Verantwortung führen sollten, lässt Ferguson offen. Ebenso unklar bleibt, auf welcher (Management)Ebene Verantwortung eingefordert und Konsequenzen durchgesetzt oder Initiative honoriert werden sollten. Aktuelle Organisationen dienen eher dazu, Verantwortung zu verdünnen.

Ferguson beschreibt ähnliches anhand eines kurz gestreiften Vergleichs zwischen englischer und französischer Rechtsgeschichte. Frankreich habe nach der Revolution aus Misstrauen gegenüber Autoritäten sehr detaillierte Gesetze erlassen, die Richtern Spielraum nehmen und sie zu Automaten machen sollten. England dagegen habe auf das Prinzip „mind your own bloody business“ gesetzt und nur das notwendigste geregelt.

Das ist nachvollziehbar, Fergusons andere Belege für positive Entwicklung durch weniger Regulierung ist allerdings durchaus fragwürdig. Er zieht etwa den Doing Business Index heran. Im Spitzenfeld dort liegen Ruanda und Belarus, beides keine Leuchttürme bürgerlicher Freiheiten. Auch Georgien oder Mazedonien, beide in den Top Ten weltweit, sind keine Paradebeispiele guter Governance. Die Liste löst eher Kopfschütteln aus – und das liegt nicht am Alter dieses Buchs.

Regulierung und Stagnation sind für Ferguson in einer ungesunden Wechselbeziehung, ein weiterer Faktor ist seiner Ansicht nach die Schwächung der Zivilgesellschaft durch den Rückgang bürgerlichen Engagements in Vereinen, Clubs, Parteien oder Charities. Mit Tocqueville macht der den fürsorglichen Staat dafür verantwortlich: Bürger erwarten heute mehr vom Staat, der sich damit in mehr Dinge einmischt, mehr aus weiterer Ferne mit weniger Kompetenz regelt, als zivilgesellschaftliche Initiativen das könnten, und so dafür sorgt, dass Bürger Selbstständigkeit verlernen.

Das mag zum Teil zutreffen. Diese Einschätzung setzt aber ebenfalls eine moralisierende Einstellung voraus, in der Bürger Verantwortung übernehmen wollen und sollen – während offenbleibt, was dann eigentlich die Aufgaben des Staates sind, der finanziell gut ausgestattet ist und von seinen Bürgern dafür bezahlt wird, Dinge zu regeln. Und zwar auch für die, die nicht mitzahlen können. Zivilgesellschaftliches Engagement wird schnell zum Almosen und schafft Unsicherheit für jene, die darauf angewiesen sind. Unsicherheit kann auch ein Ansporn sein, sich daraus zu befreien und sein eigenes bloody business zu regeln. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat anderes gezeigt, und hier müssten sehr viele Stellschrauben gut aufeinander abgestimmt sein, um einen Ausweg zu ermöglichen.

Technik sieht Ferguson auch nicht als Lösung. Seine Perspektive auf Technik wirkt wie aus dem Industriezeitalter, er bezweifelt das ökonomische Potenzial (vor allem digitaler) Technologie. Das ist insofern ein Irrtum, als der ökonomische Aufstieg von Digitaltechnologie bislang rasant war und digitale Technologie es überdies geschafft hat, Grundsätze des Industriekapitalismus und des frühen Digitalkapitalismus hinter sich zu lassen: Produkte müssen lange keinen Nutzen mehr stiften, um rasantes Wachstum zu bringen. Sie müssen sich nur gut dazu eignen, in Lock-in-Geschäftsmodelle verpackt zu werden, aus denen User nicht mehr auskommen. Ferguson vermisst Nutzen in der Silicon Valley Euphorie der frühen 10er Jahre – das mag stimmen, tat aber dem Wachstum keinen Abbruch. Und gänzlich etwas verstörend ist Fergusons Referenz für Kritik an Tech-Ideologie: Er sieht ausgerechnet in Peter Thiel einen nüchternen Kritiker des Wachstums-Innovations-Disruptionskultes. Das ist wohl eine dramatische Fehleinschätzung. 

Dem Westen geht es nicht gut, das ist klar. Fergusons Perspektiven sind aber eher nicht Teil der Lösung. 

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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