Ray Kurzweil macht keine halben Sachen – alles wird gut, die Singularity wird es richten. Singularity beschreibt den Zustand, in dem Mensch und Maschine eins werden, wir uns über medizinisch versierte Nanobots ewiges Leben sichern und neuronale Netze in Computern eins mit jenen in unserem Hirn werden.
Kurzweil prägte den Singularity-Begriff in einem vor zwanzig Jahren erschienenen Buch und liefert jetzt, als mittlerweile Chef-Visionär von Google, ein Update unter den Vorzeichen fortgeschrittener KI. Er sieht für alle Probleme durch Technik vorangetriebene Lösungen. Industrielle Fleischproduktion ist schlecht für Tier und Umwelt? Nanotechnologie und Laborfleisch werden das lösen. Der Klimawandel ist unaufhaltsam? Erneuerbare Energien machen große Sprünge nach vorne. Politische Entwicklungen wie Trumps “Drill Baby!”-Parolen ignoriert Kurzweil. Städte sind voll, Wohnungsnot macht sich breit, Immobilien werden unleistbar? Digitale Technologien ermöglichen mobiles und ortsungebundenes Arbeiten und werden so den auf den Städten lastenden Druck reduzieren. Ob das allen Menschen in allen Jobs wichtig ist und ob Menschen das auch wollen, ist für Kurzweil kein Thema.
Einen wesentlichen Beitrag zur Problemlösung wird künstliche Intelligenz leisten. KI beschleunigt Entwicklungen, zeigt neue Möglichkeiten auf und ist rein mathematisch jetzt schon dem menschlichen Hirn überlegen. KI wird ganze Jobfamilien verschwinden lassen. Kurzweil plädiert dabei für vernetzte Perspektiven: KI wird nicht nur auch Jobs schaffen, sondern auch im Jobmarkt komplexere Auswirkungen als das Verschwinden einzelner Jobs nach sich ziehen. Autonomes Fahren ist nicht nur schlecht für Trucker, sondern auch für den Truckerstrich, schreibt Kurzweil.
Und selbst wenn KI einen Großteil aller Jobs beseitigt und nur sehr wenig neue schafft, gibt es immer noch eine technische Lösung am nahen Horizont: Nanotechnologie, die aller erdenklichen Materialen synthetisieren kann, wird in Verbindung mit 3D-Druckverfahren alle Kosten für alles so weit senken, dass praktisch alle Güter (inklusiver über Nanotechnologie hergestellte Lebensmittel) für Menschen kostenlos sein werden. Sobald Nanotechnologieverfahren einmal etabliert sind, werden Reproduktionskosten für alles gegen Null gehen.
Kurzweil hält es also für realistisch, dass wir in absehbarer Zeit tausend Jahre alt werden, danke Vernetzung unserer Hirne mit KI unbegrenzt schnell und komplex denken können (zehndimensionale Räume oder ähnliches sind uns dann sonnenklar) und bei all dem keinen materiellen Stress haben. Das Verschwinden des materiellen Stress löst im übrigen auch Kriminialitäts- und politische Probleme: Alle haben alles, es gibt keinen Grund mehr, zu streiten.
Die letzten zwanzig Seiten seines Buchs widmet Kurzweil möglichen Problemen auf dem Weg zur Singularität. Die Problembehandlung zeigt eine doch etwas bedenkliche Flughöhe, von der aus Mühen der Ebene schlicht nicht mehr wahrnehmbar sind. Klar kann es schiefgehen, meint Kurzweil, aber Menschen haben schon oft unter Beweis gestellt, Probleme lösen zu können. Zum Beispiel die Bedrohung durch Nuklearwaffen. Das Buch erschien 2023, ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Kurzweils zweites Beispiel ist die Entwicklung der Corona-Impfstoffe; bei Moderna war KI massiv im Einsatz. Die Impfstoffentwicklung war toll zweifellos eine Erleichterung, nüchtern betrachtet aber doch keine Problemlösung einer Dimension, die es mit allen nur erdenklichen Szenarien der Zukunft aufnehmen kann.
Damit bleibt “The Singularity is Nearer” die ernstzunehmende Perspektive von jemandem, der dabei war und mit vielem recht hatte. Aber niemand hat immer recht. Und es ist umso leichter recht zu haben, je abstrakter Prophezeihungen sind.
Der relevanteste Gedanke von Kurzweils Buch sind die nie ganz deutlich ausgesprochenen aber doch öfters lesbaren Hinweise, dass dem Begriff der Intelligenz in der Diskussion Künstlicher Intelligenz zu viel Bedeutung beigemessen wird. Diese Einsicht findet sich auch in vielen industriell relevanten Diskussionen künstlicher Intelligenz. Mit der Überschätzung von Intelligenz beziehe ich mich nicht auf redundante Debatten darüber, was nun Intelligenz sei, wie wir das messen und ob die Intelligenz Künstlicher Intelligenz nun tatsächliche Intelligenz sei. Relevanter als Intelligenz ist nämlich Autonomie. Es ist, abgesehen von der kulturellen Kränkung für das Lebewese mit dem komplexesten biologischen Gehirn, grundsätzlich egal, wie intelligent die Empfehlungen von KI sind. Es wird aber ein einschneidender Eingriff, wenn Ergebnisse von KI keine Empfehlungen mehr sind, die von einem menschlichen Entscheider akzeptiert werden oder nicht, sondern wenn es autonome Entscheidungen werden, denen auch gleich Handlungen folgen. Dieser Schritt macht KI produktiver. Dieser Scrhitt wird aber bislang von allen Regelwerken für industriell produktive KI-Anwendungen, die über aufgeschlossenes Experimentieren hinausgehen sollen, tunlichst ausgeschlossen