Datenjournalismus, Medientoolbox und das total ultimative Portal?

Die Webseite der Zukunft als Tools, das nicht Content anzeigt, sondern Funktionen enthält, die vielleicht unter anderem Content liefern? Webseiten als Digital Brains, die unsere erweiterten Erkenntnistools sind? Der User muss einbezogen werden. Datenmengen brauchen ein Businessmodell. Webseiten müssen auf Kontext, Präferenzen und Devices reagieren.
Smartness gipfelt in Personalisierung, Sensitivität für Kontext (in Sinn und Raum) und Präferenzen – ist das das neue Nachrichtenportal. das dem User immer das zeigt, was er sehen will? Im Rahmen des twentytwenty-Events zum Datenjournalismus stellte Lorenz Matzat unter anderem sein Sicht auf Medien und Webseiten der nahen Zukunft vor: Webseiten sind keine fertigen Produkte mehr, sondern Hubs, die auf eine Vielzahl von Faktoren reagieren und mehr Werkzeug- als Mediencharakter haben.



Versuche, Onlinemedien, vor allem als Nachrichtenportale, aus ihrer Klemme zwischen digitalisiertem Papier und gif-Animation (d.h. sie funktionieren gleich wie Papier-Ausgaben, nur blinkt irgendwo etwas) zu erlösen, gab es viele:

  • Der norwegische Contentmanagement-Anbieter Escenic setzte eine Zeit lang darauf, Statistiken aus der Webseite direkt im Redaktionstool anzuzeigen. Chefredakteure mochten das: Redakteure, so die Erwartung, sollten damit direkt auf diie Vorlieben der User reagieren, beliebte Contents pushen und hätscheln, unbeliebten Contents eine zweite Chance geben und sie dann schnell entsorgen. Das Problem: Konkrete Contentnutzung ist im allgemeinen so minimal, das in kurzen Zeiträumen Unterschiede mit freiem Auge kaum zu erkennen sind. User sind auf der Startseite, sie reagieren auf recht gut vorhersehbare Themen , – ja und dann gibt es noch Suchmaschinenoptimierung. An der grundlegenden Funktion ändert sich wenig.
  • Heatmaps, zentral im Newsroom positioniert, waren eine Zeitlang auch der Brüller als Steuerungsinstrument für die Chefredaktion. Dabei zeigt ein Layer über der Startseite oder anderen wichtigen Seiten, wo gerade besonders viel oder besonders wenig geklickt wird. Allerdings lieferte auch das in der Regel wenig Erkenntnisse – ausser dass Nachrichtenseiten eigentlich getrost auf Navigation verzichten könnten: User klicken auf Titel und Bilder; Navigationen sind in der Nutzung praktisch immer ein Stiefkind. Was macht ein Chefredakteur mit dieser Erkenntnis? – Neue Onlinekonzepte kenne ich kaum; Votings zur Miss Wetter, Miss Urlaub oder zum süssesten Hund sind wahrscheinlicher.
  • Leserreporter sind fast schon wieder von der Bildfläche verschwunden. Vor sechs oder sieben Jahren noch tingelten Softwärehäuser mit ausgeklügelten Leserreporter-CRM-Systemen durch Verlage: Diese dienten gleichzeitig zur Erfassung von Contents durch Leser, zur Bewertung durch die Redaktion und Übertragung in Webseite oder Redaktionssystem, zur Bewertung der Leser durch die Redaktion (“Informant”, “Querulant”,…) und zur Protokollierung der evtl. auch telefonischen Leserkontakte. Beeindruckend. Ich kenne nur einen Verlag, der si ein System gekauft hat. Und heute nicht mehr verwendet.
  • Die mit Usern gemeinsam erarbeitete Themenplanung dürfte auch eher eine PR-Story gewesen sein: Gut für eine Ankündigung und ein bisschen Zitaterummel, aber wenig nachhaltig-praktisches.
  • Für den write-while-they-search-Journalismus, der seine Themenplanung auf die aktuell häufigsten Suchbegriffe bei Google ausrichtet, wurde zwar manche Medien schon als innovativ ausgezeichnet – aber garantiert das Konzept nicht immer, hinten nach zu sein? User suchen nach etwas, von dem sie in irgendeiner Form gehört haben, und das haben sie sicher nicht in Medien dieser Art zuerst gehört. Ich glaube auch nicht, dass sich der Rückstand (erst dann mit der Recherche anzufangen, wenn andere schon erste Stories draussen haben) in einen Vorsprung verwandeln lässt…
  • Und ich bin selbst unlängst wieder mal der Versuchung erlegen, ein Konzept für eine megakonfigurierbare Webseite zu machen, die statt Navigationselementen nur Regler benutzt: User entscheiden sich nicht für Themen, sonder sie stellen verschiedene Filter ein, wählen deren Priorität und Reihenfolge, und bekommen demnach Content angezeigt. Denkbare Filter sind etwa aktuellste, meistgelesene, bestbewertete, meistkommentierte, von Freunden empfohlene, von der Redaktion priorisierte oder von aussen meistverlinkte Artikel, eventuell noch einmal quergeschnitten mit einer inhaltlichen Auswahl oder einem Suchbegriff.
  • Aktuell gilt jetzt oft Datenjournalismus als der neue visualisierende Weg zur Wahrheit: Lorenz Matzat stellte beim jüngsten Twentytwenty-Event eine Sicht von Onlinemedien vor, die nicht mehr die Präsentations- und Packaging-Funktion in den Vordergrund stellt. Diese erweiterte Sicht hilft, Datenjournalismus nicht nur auf interaktive Grafiken zu reduzieren. Letztlich sind alles Daten – wir haben jetzt nur mehr davon und können sie leichter transportieren.

Warum war dann bis jetzt kaum eines dieser schon lange gewälzten Konzepte nachhaltig kommerziell erfolgreich? Ich sehe mehrere Gründe:

  • Werbung: Je mehr Kontrolle der Werbeflächenanbieter über die Flächen hat, desto leichter kann er sie verkaufen. Je mehr Kontrolle der User über angezeigte Inhalte und Formate hat, desto schwieriger wird es, das verbleibende Umfeld zu verkaufen: Es wird vielfältiger und komplexer (und ausserdem wird in personalisierten Umgebungen Werbung als zunehmend störender empfunden). Und an dynamischer kontextsensitive Werbung verdient in erster Linie der Werbevermittler, weniger der Werbeträger.
  • Kontrolle: Medienherausgeber wollen wissen, was in ihren Medien steht. Wenn User aus aufbereiteten Daten ihre eigene Sicht auf Information aufbereiten können, geht diese Kontrolle verloren. Listen, Grafiken und Rankings – vereinfacht gesagt die Werkzeuge des Datenjournalismus – sind klassischerweise die zentralen Elemente des kommerziellen Boulevardjournalismus. Aber dort werden sie stets auch genutzt, um eigene Positionen zu untermauern, Behauptungen zu unterstützen, und eine Linie der Redaktion oder des Herausgebers zu untermauern. Mehr Spielraum für den User gefährdet diese Macht.
  • Einfachheit: Es ist nach wie vor eine der Hauptaufgaben von Medien, Klischees zu bestätigen. User wollen Stories lesen, die ihre Welt erklären – und das heisst, gemessen an den traditionellen Kommunikationsmustern, die ihre Sicht der Welt bestätigen. Vorgefertigte Listen und Rankings erfüllen diesen Zweck sehr gut. Daten, die der User selbst Filtern und sortieren kann, beantworten vor allem dann keine Fragen, wenn der User gar nicht weiss, welche Fragen er hat. Damit verlieren offene Medien oft schnell der Reiz für den User.

Fazit: Datenjournalismus ist präsenter, als es die Trendyness des Themas vermuten lässt. Auch große Teile des traditionellen Aufdeckerjournalismus sind schliesslich nichts als aktengestützter Datenjournalismus, teilweise mit prähistorischen Methoden (siehe auch das Interview mit Kurt Kuch). Die Anforderungen an Journalistenausbildung und -alltag sind andere – was aber in Österreich mangels relevanter Ausbildung und angesichts chronischer All-in-One-Jobs ziemlich egal ist. Neue Geschäftsmodelle sehe ich weniger stark im Kommen: Listen und Rankings sind nichts Neues und waren eher immer schon ein Verkaufsargument als ein Hindernis. Qualität in Content und Aufbereitung dagegen war noch selten ein Verkaufsargument. Allerdings sehe ich im Datenjournalismus einen starken Treiber hin zu Onlinemedien, die mehr als Inhalte liefern, Zusatznutzen in den Vordergrund stellen, und den User herausfordern, aktiver zu sein. Das ist einerseits praktisch die Zukunft, andererseits setzt es Skills und Eigenschaften voraus, die manche User erst noch lernen müssen – und die manche User schlicht nicht haben…