Achille Mbembe, Brutalisme

Die Zukunft kommt nicht mehr. Sie ist schon da, sie ist insofern vorweggenommen, als wir so tun müssen, als hätten wir alle Mittel, sie zu steuern und zu gestalten. Digitalisierung schafft Phantasmen universellen Wissens, in denen keine Frage offen bleibt, auch nicht die nach der Zukunft. Wir finden auf alles eine Antwort, es bleibt kein Raum für Unbekanntes. Das verkleinert die Welt – die Welt hat ihre Grenzen erreicht. Wir müssen uns der Tatsache stellen: Das ist es. Da kommt nichts anderes mehr. Dieses Bewusstsein von Endlichkeit ist die Ausgangslage für harte Verteilungskämpfe, die Normalisierung von Extremsituationen und ständig neue Versionen der Vorstellung von Essenz und Zweck des Menschen.

Das ist in etwa die Kernthese von Mbembes sehr dichtem und komplexem Brutalisme-Text. Mbembe schreibt wortgewaltig und radikal, betont diverse und außereuropäische Perspektiven, verwendet (hier und noch öfter in anderen Texten) das N-Wort, um das andere zu kennzeichnen, und war wegen seiner Ausführungen zu Biopolitik und Machttechniken gelegentlich mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert.

Brutalisme ist eine Fortführung der Überlegungen zu Biopolitik und Nekropolitik und beschreibt ein von Digitalisierung und Berechenbarkeit geprägtes Weltbild as Diagnoseframework unserer Zeit. Brutalismus muss etwa in der Dimension des Begriffs Humanismus verstanden werden. Der Begriff bietet eine Perspektive auf globale Entwicklungen.

Mbembes Perspektiven sind großteils keine freundlichen. Hoffnung ist kein Wert, Werte als anzustrebende Leitbilder, als Essenzen, auf die man hinarbeiten kann, haben generell eher ausgedient. Was zählt, ist Berechenbarkeit. Digitalisierung und Rationalisierung sind wesentliche Grundpfeiler des Brutalismus. Berechenbarkeit schafft Gemeinsamkeiten. Diese sind allerdings keine verbindenden Elemente, sie sind Gemeinsamkeiten im Sinn von Gemeinheiten oder Banalitäten – es gibt nichts anderes. Vernunft ist ökonomisch, biologisch, algorithmisch – sie berechnet und entscheidet mehr, als sie entdeckt. Das gehört zu den Grundzügen technologischer Vernunft.

Weil Technik entscheidet und definiert (und sich dabei nicht um Ideen wie Wahrheit kümmern muss) entstehen andere Versionen von richtig und falsch. Richtig ist in technisch dominierten Weltbildern was funktioniert. Dieser Pragmatismus findet sich in frühen Technologiekonzepten von John Dewey bis Don Ihde und erfährt bei Mbembe eine weitere Zuspitzung: Sieger müssen recht haben.

Das stellt den Sinn von Begriffen wie richtig und falsch infrage – und es wird für Mbembe zur Startrampe für einen Essay über Machtmechanismen. 

In welcher Beziehung stehen Brutalismus und Migration? Mbembe ist geneigt, ein Recht auf Migration zu postulieren, ein Recht, das in weiten Teilen der Welt nicht verankert, aber teilweise Praxis ist, bis es in Europa an harte Grenzen stößt. Er greift marxistische Motive auf und dehnt den Begriff der Überflüssigen auf jene auf, denen im Rahmen von Migrationsregelungen keine Rolle gegeben wird, jenen, die weder erwünschte Zuzügler noch zu duldende Flüchtlinge sind. Migrationspolitik im Zeichen des Brutalismus ist für Mbembe Lebensraumpolitik – ein NS-belasteter Begriff. Etwas verschwommen ist allerdings der Adressat dieser Diagnose. In vielem beschreibt Mbembe Maßnahmen und Zustände aus außereuropäischen Migrationsrouten, greift aber die Europäische Union an. Die Einteilung von Menschen in nützliche und überflüssige, von Weltregionen in lebenswerte, sichere, bewohnbare und lebensfeindliche und die Erstellung von Matrizen, die bestimmte Arten von Menschen auf bestimmte Regionen verteilen und sie dorthin verschieben wollen, ist ein kerneuropäisches Anliegen, aber eines, das ohne den Rest der Welt nicht umsetzbar sein wird. Brutalismus als Nutzenkalkül jedenfalls verändert die Rolle der Überflüssigen – für Mbembe haben sie nicht einmal mehr Fleischwert.

Von hier aus schlägt Mbembe eine nicht ganz leicht nachzuvollziehende Brücke zu Kunst und Restitution. Das verbindende Element: Die (europäisch-)brutalistische Perspektive kategorisiert und rationalisiert ohne Sinn für ihr verborgene Essenzen. Das ist ein Erklärungsansatz für Migrationspolitik, das ist auch ein Leitmotiv in der Debatte um afrikanische Kunst und Restitution.

Mbembe ist ein klarer Befürworter der Restitution afrikanischer Kunst aus europäischen Museen. Restitution bedeutet allerdings nicht nur die Rückgabe von Gegenständen. Er verbindet mit Restitution auch die Auseinandersetzung damit, was die geraubten oder gekauften oder ertauschten Gegenstände bedeuten. Unrechtmäßige Aneignung ist für Mbembe nicht nur mit Gewalt verbunden. Sie liegt auch dann vor, wenn Kunstgegenstände entfremdet, (falsch) interpretiert, aus einer europäischen Perspektive bewertet wurden und damit dazu beigetragen haben, falsche Bilder von afrikanischer Kunst, Philosophie und Technik entstehen zu lassen. Die Kunstgegenstände wurden missbraucht und zu Zeugen einer nie stattgefundenen Geschichte gemacht. So erzählen sie – für Europäer stringente – Geschichten, die Sinn ergeben und Wirkung entfalten und damit, auch wenn sie zurückgegeben werden, falsche Perspektiven produzieren. 

Auch das ist Brutalismus. 

Was sind Gegenpositionen? Mbembe erwähnt einen möglicherweise anderen afrikanischen Begriff von Technologie, der Technik weniger als Werkzeug und Mittel zum Zweck sieht. Im Vordergrund steht mehr die Auseinandersetzung mit dem, was ist, nicht mit dem, was durch Technik geschaffen wird. Dabei bleibt Mbembe allerdings vage und Andeutungen verhaftet.

Gebührenfinanzierung ist keine Quantenphysik

Bislang fernseherlose Mitmenschen bekamen in den vergangenen Wochen ein wenig überraschende Post vom ORF: Sie hätten sich zur Zahlung der ab Jahresbeginn zu zahlenden neuen Haushaltsabgabe zu registrieren, und zwar flott. Mangelnde Mitarbeit bei der Rekrutierung von ZahlerInnen würde mit der Verdopplung der Zahllast geahndet. Wer dieser Registrierungspflicht nachkam, erhielt in den letzten Tagen Post zur Einrichtung einer Bankverbindung und wurde auf der Rückseite dieses Schreibens darüber aufgeklärt, was der ORF mit dem nunmehrigen Geldsegen zu tun gedenke.

Dort liest man unter anderem: „Wofür wird der ORF-Beitrag verwendet? (…) das ORF.at-Netzwerk (…) ORF Topos, Social Media-Profile (…) bald noch mehr Online-Angebote.“

Das wäre nicht überraschend, hätte die Entscheidung für die Haushaltsabgabe nicht eine viel diskutierte Vorgeschichte. Eine, in deren Rahmen ein Jubelpost auf orf.at zum 25 jährigen Bestehen der Seite das staunende Publikum belehrt hatte: „Damals wie auch im Sommer 2022 sind ‚Blaue‘ und ‚Gelbe Seite‘, also sport.ORF.at, nicht gebührenfinanziert“. Daraus strickten ORF-ApologetInnen wilde und wirre Legenden vom digital erfolgreichen ORF, der eben verstanden habe, wie die digitale Welt funktioniere, und dem eine Armada unfähiger Zeitungsmannschaften der Erfolg neide. Der ORF war weder das erste noch vom Fleck weg das erfolgreichste Onlinemedium, er war nur das, das sich keine Gedanken über Monetarisierung oder Kannibalisierung anderer Kanäle machen musste.

Diese Ausgangssituation und eine Vielfalt an Inhalten aus Fernsehen und Radio, mit denen Online quersubventioniert werden konnten, verschaffte dem Öffentlich-Rechtlichen eine komfortable Position. Eine, aus der ihm jetzt noch mehr Möglichkeiten gegeben werden, online first und only zu produzieren.

Die schlechte Situation der privaten Medien ist nur teilweise auf das ohne weitere Bezahlschranke verfügbare ORF-Angebot zurückzuführen. Natürlich schadet es einem Markt, wenn der größte Player völlig andere Bedingungen hat, aber gleichzeitig wie ein normaler Wettbewerber um Leser und Werbung konkurriert. Noch mehr schadet der Heiligenschein, mit dem manchen MitarbeiterInnen und FreundInnen ihre Arbeit umgeben, und die insinuiert, nur ÖR-Information wäre wertvolle und interessenfreie Information. Gut nachgewiesene Korruption in den mittleren Etagen lässt anderes vermuten; der Umgang mit diese Korruptionsfällen (betroffene Mitarbeiter wurden an andere lukrativ klingende Positionen versetzt) wurde zu einem eigenen Problem. Die aktuelle Imagekampagne („Ich setze mich für … ein“) ist eine eigene Gattung absurden Theaters, etwa wenn vermittelt werden soll, dass sich ORF-Redakteure qua ihrer ORF-heit für Information ohne Grenzen einsetzen. Da gehört schon mehr dazu.

Manche Verleger machen sich umgekehrt Hoffnungen, dass die Neuregelungen für den ORF, die als Einschränkungen verkauft werden, LeserInnen von orf.at vergraulen werden. Die einzige Beschränkung ist allerdings eine Obergrenze für Textmeldungen auf der Hauptseite. Das wird wettgemacht durch Video- und Audiobeiträge, online first und only Beiträge, und wie man liest, eine Reihe neuer Online-Angebote. Flankiert wird das ganze von einer österreichweit flächendeckenden Werbeaktion, die den ORF nichts kostet. Denn neben der üblichen Werbung erhält jeder Haushalt mehrere Briefe, in denen orf.at angepriesen und auf neue Online-Angebote hingewiesen wird. Das fällt unter Kosten für die EIntreibung der Haushaltsabgabe – und die muss der ORF nicht selbst tragen. Die wurden einfach aufgeschlagen: Der ORF will 683 Millionen Budget aus der Haushaltsabgabe, die Haushalte zahlen aber 722 Millionen Euro – um auch noch die Kosten für die Eintreibung abzudecken.

Statt einer Einschränkung gibt es also nicht nur neue Möglichkeiten für den ORF, sondern auch noch eine kostenlose (was ja letztlich immer heißt: von den Kunden bezahlte) Werbekampagne, die den ORF-Onlineinhalten noch einmal ganz neue Startvorteile verschaffen wird.

Das ist dann schon ein wenig zermürbend.

Streit bei Open AI, Robotergesetze und: Wer managt Technik?

Der Superstar war wohl überrascht: Der Aufsichtsrat von Open AI hat Open AI-Gründer und Mastermind Sam Altman gefeuert. Man fühle sich zu wenig informiert, Altman habe Zielen Visionen und konkrete Entwicklungsschritte des Unternehmens nicht ausreichend klar und verständlich nach oben kommuniziert – so und ähnlich konnten Aussagen interpretiert werden, mit denen der Aufsichtsrat seine Entscheidung in den Stunden danach erklärte. Altman war kurz indigniert, heuerte wenige Stunden später bei Microsoft an und durfte sich noch einige Stunden später über eine Solidaritätserklärung von etwa 80% der Open AI-Belegschaft freuen, die nämlich ihrerseits den Aufsichtsrat zum Rücktritt aufforderte.

Noch weiß man nicht genau, was den Aufsichtsrat wirklich beschäftigt hat. Aus der Ferne betrachtet, und all die Visionen, Halluzinationen und düsteren Prophezeiungen rund um AI im Ohr, entsteht das Bild von Kontrollwünschen: Es geht um Macht im Unternehmen, über Wissen, Verfügungsmacht über Technologie, Entscheidungsgewalt über die Zukunft und den Wunsch, Menschen, Technik, Maschinen, Geld und die Zukunft gleichermaßen zu kontrollieren.

Dann geriet die Sache außer Kontrolle: Der Open AI-Aufsichtsrat knickte ein. Altman und  andere, die teils aus Solidarität mit ihm, teils mit der Aussicht auf bessere Perspektiven, das Unternehmen verlassen hatten, kehrten in ihre Jobs zurück.

Über dem Durcheinander schweben große Fragezeichen: Was war hier los? Und vor allem: Was hat sich durchgesetzt? Businesserwartungen an ein Unternehmen? Die Macht einer weit verbreiteten erfolgreichen Technologie? Das technische Genie eines Einzelnen? Und was hätte durch den Machtkampf entschieden oder reguliert werden sollen?

In der Frühzeit der Science Fiction stellte Isaac Asimov die Robotergesetze in den Raum. Damals, 1942, zeichnete sich ab, dass autonome Maschinen eine Herausforderung werden könnten – aber die Idee, man würde das regeln können, war stärker. Roboter sollten Menschen nicht verletzen oder gefährden, sie sollten Menschen gehorchen, solange sie das nicht in Konflikt mit der ersten Regel bringt, und sie sollten sich selbst beschützen, solange sie das nicht in Konflikt mit den ersten beiden Regeln bringt.

Das waren die einfach gefassten ersten drei Robotergesetze. Später wurden sie durch ein Gesetz #0, das Gesetz #1 auf die gesamte Menschheit (vor einzelnen Menschen) ausdehnte, und ein Gesetz #4, das Robotern das Recht auf Selbstschutz einräumte, solange das nicht mit den vorherigen Gesetzen kollidierte, erweitert. 

Asimov selbst misstraute manchen Maschinen so sehr, das er beispielsweise keine Flugzeuge bestieg. Ob Gesetze helfen könnten, solche Maschinenskepsis in den Griff zu bekommen? 

Diskussionswürdig blieb im Licht der potenziellen Robotergesetzgebung immer die Frage, an wen sich Robotergesetze eigentlich richteten. An Roboter? Auf welcher Grundlage sollten diese sich an Gesetze von Fremden halten? An Menschen, die Maschinen maßregeln sollten? Wie? An Roboterentwickler? Also an Menschen, die Maschinen lehren wollten, selbstständig zu entscheiden?

Man möchte Technik kontrollieren, um zu kontrollieren, was mit Technik gemacht werden kann. Am liebsten möchte man auch Menschen kontrollieren, die Technik kontrollieren, um alles zu kontrollieren.

Bislang war das wenig erfolgreich. Entscheidungen wie die, Erfinder einer Technologie zu feuern, um mehr Kontrolle über die Entwicklung einer Technologie zu bekommen, sind ein neuer Versuch. Bei digitalen Technologien, die in der Produktion wenig ressourcenintensiv sind (im Betrieb dann schon) und mitunter leicht reproduziert werden können, ist die Kontrolle doppelt schwierig. 

Was erwartet sich ein Aufsichtsrat, der eine weit fortgeschrittene und erfolgreiche Entwicklung kappt, sich selbst damit einiger Möglichkeiten beraubt und die freigesetzten Menschen an nichts hindern kann? Welche Kontrolle soll damit erreicht werden? Welche Argumente sind es, die dazu führen, diese Entscheidung innerhalb weniger Tage wieder über den Haufen zu werfen? 

Welche Vorstellungen von Kontrolle über Technologie führen zu solchen Irrwegen? 

TechnologiehysterikerInnen, die in den letzten Jahren in schneller Abfolge Social Network-, Daten- und KI-ExpertInnen wurden, argumentieren auf technologisch-deterministischen Perspektiven. Das bedeutet: Hier ist Technologie der bestimmende und schwer kontrollierbare Faktor. Technologie prägt Gesellschaft, Technologie setzt unausweichliche Prozesse in Gang. Der Mensch ist dabei Passagier. Was im Feld der Technologie geschieht, vollzieht sich mit Notwendigkeit.

Das ist die geeignete Kulisse von Visionen und Prophezeiungen, die oft hereinbrechende Mächte an die Wand malen, die „alles ändern“ werden, deren Auswirkungen man sich „noch gar nicht vorstellen“ kann, die Ungeahntes in Gang setzen werden. Verborgene technische Wirkmächte legitimieren Worthülsen, die in aller Austauschbarkeit vorrangig Aufregung erzeugen und Klarheit gar nicht anstreben.

Dem möchte man entgegenhalten: Technologie ist von Menschen gemacht. Technologie reflektiert soziale Ziele, Erwartungen und Bedürfnisse. Technologie ist beeinflussbar. – Das zeichnet noch nicht unbedingt ein freundlicheres Bild. Es bleibt offen, wessen Ziele und Erwartungen in die Entwicklung von Technologie fließen. 

Müssten hier bereits Robotergesetze ansetzen? 

Weder in einem technologisch deterministischen noch in einem sozial deterministischen Verständnis von Technik lassen sich klare Entwicklungslinien prognostizieren. 

In der einen Perspektive möchte man lieber „die Technologie“ besitzen, in der anderen „die Menschen“. 

In der einen Perspektive ist Technologie Kapital, in der anderen hat sie wenig intrinsischen Wert. Einmal herrscht der Glaube, eine Lösung  gefunden zu haben, etwas vorläufig endgültig geregelt zu haben, einmal ist die führende Idee, alles wäre im Fluss. Einmal erinnert es an die Entführungen von Physiker und Atomwissenschaftler durch Sowjets, einmal daran, dass diese Entführungen nichts Nennenswertes hervorbrachten. 

Die Open AI-Posse stellt einen Aufsichtsrat bloß, der glaubt, mit theoretischen und strategischen Prinzipien managen zu können. Das geht heute nicht mehr. Das sollte die eigentliche Essenz für Manager und Chefinnen sein, die meinen, vom Schreibtisch weg entscheiden zu können. Sie können verhindern und zerstören, im besten Fall das Verhindern verhindern. Aber sie können keine konkreten Ergebnisse herbeiführen. Das machen heute jene, die Technik verstehen und damit Dinge in Gang setzen können. Die anderen sind Passagier.

Das bedeutet auch – es wird Zeit für ein fünftes Robotergesetz: Du sollst den Roboter verstehen lernen. Sonst bleibt jede Diskussion über sozialen oder technischen Determinismus bloße Geräuschemacherei.

Von den Grenzen zwischen Innovation und Verzweiflung

Größter Treiber der Innovationskraft in Medien und Kultur in Österreich ist die Tatsache, dass es wurscht ist. Das ist nur oberflächlich betrachtet paradox. Die Unterschiede zwischen Erfolg und Belanglosigkeit sind weitgehend so minimal, dass es wurscht ist.

Das spornt oft erst mal an. Man kann was tun, man muss es selber tun. Man muss sich eben auch um Verkauf und Vertrieb selbst kümmern. Die Erfolgreichen sind nicht außer Reichweite und sie haben auch keine so viel größeren Strukturen hinter sich. Dort wo die ganz Großen sind, will man ohnehin nicht hin. Ist ja eine sterbende Branche. Kontakte sind schnell gemacht; Freund/Feind-Schemen funktionieren verlässlich und transitiv: In sich selbst verstärkenden Zirkeln vollzieht sich die Übertragung zugeschriebener Relevanz auch ohne Primärkontakt.

Und dann wurschtelt man halt, kommerziell betrachtet, so vor sich hin. Das ist ausreichend, um Medienunternehmer zu sein.

Daran ist nichts falsch.

Aber das immerwährende Praktikum, der nie eingelöste Hoffnungswert, das immer den Umständen geschuldete Ausbleiben des kommerziell durchschlagenden Erfolgs sollten nicht als Gütesiegel von Qualität verstanden werden.

Aber weil es wurscht ist, kann man Dinge lang weiterziehen und schon irgendwie am Leben erhalten, Erfolge herbei- und die eigene Belanglosigkeit wegreden. Bis man dann doch eine Tages den Stecker zieht.

Warum hast du das so lang gemacht?, fragen dann die einen. Nein, wie kannst du nur so was Tolles wegwerfen!, entsetzen sich die anderen.

PS: Man muss ergänzen: Auch in der obersten Liga ist Österreich als Medienstandort Teletubby-Land (und hat die Medienexperten, die es verdient).

PPS: Ich weiß das, weil ich meine verlegerischen Medienunternehmer-Aktivitäten weitestgehend zurückgefahren habe. Ich will lieber wieder schreiben, verkaufen können andere. Aber bis dahin könnt ihr noch schnell das neue Austrian Superheroes Special 2023 kaufen, oder die Horror Graphic Novel Bauer (oder was von den Büchern unten 🙂 …).

Sopie Passmann: Pick Me Girls

Nur die coolsten Mönner lesen Bücher von Frauen – meint Passmann auf den ersten Seiten von Pick Me Girls. Insofern liegt die Latte ja niedrig. Trotzdem habe ich mir mit dem Essay teilweise schwergetan.

Pick Me Girls, das sind Frauen für Mönner, die eigentlich nichts mit Frauen zu tun haben wollen, sondern einen weiteren Kumpel mit anderen körperlichen Attributen wollen. Sie sind unkompliziert, verleugnen sich selbt, missachten eigene Bedürfbisse und vermeiden möglichst alle Berührungspunkte mit dem Klischee der komplizierten Frau. Sie begegnen Unzufriedenheit oder Unsicherheit mit dem eigenen Körper, indem sie Körperliches als unwichig betrachten, sie distanzieren sich von weiblichen Rollenbildern, indem sie sie als dumme Klischees betrachten, die auf viele andere zutreffen, aber nicht auf sie selbst.

Passmann beschreibt die Unzufriedenheit als Pick Me Girl und die – erlösende – Unzufriedenheit, zu dieser Unzufriedenheit zu stehen und sich auf die eigenen Ängste und Sorgen einzulassen. Ein normaler Prozess des Erwachsenerwerdens, könnte man meinen.

Und in der Tat erwähnt Passmann nebenbei, dass es nachdenklichen Jungs ebenso geht: Sie leben an Erwartungen vorbei, lassen möglicherweise positive Rolllenklischees liegen und müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie all die Chancen, ein rücksichtsloser tatkräftiger Arsch zu sein, so wie es von Männern erwartet wird, an sich vorbeiziehen lassen.

Warum dann ein ganzes Buch über die weibliche Perspektive?

Eben weil Männer Erwartungen, Selbstbilder und positive und negative Heldenfiguren seit langem detailliert sezieren, analysieren und zelebrieren. Ohne zu erwähnen, dass das mitunter ein wenig erbärmliche Bubengeschichten sind.

Polarisierung: Zwischen lonesome Leistungscowboys und revolutionären Subjekten

Triggerpunkte – das klingt nach Ärger, Shitstorms und klaren Verhältnissen. Mit eindeutigen Spaltungsdiagnosen und Landkarten quer durch die Gesellschaft verlaufender Gräben können Steffen Mau, Thomas Laux und Linus Westheueser in ihrem aktuellen künftigen Soziologie-Klassiker allerdings nicht dienen. Im Gegenteil: Der gesellschaftliche Konsens ist breit. Allerdings gibt es an den Rändern tiefe Gräben – und diese sind nicht auf Klassenspezifika oder andere soziale, strukturelle oder ökonomische Gegebenheiten zurückzuführen, sondern auf politische Agitation.

Das ist eine schlechte Nachricht. 

Denn im Gegensatz zu stabilen Klassenverhältnissen sind Ergebnisse politischer Agitation dynamisch. Was heute noch ein auffälliges Randphänomen ist, kann morgen schon näher beim Konsens sein. Gewiefte Agitatoren wie Altkanzler Kurz haben darin denn auch klare Qualitätskriterien ihrer Arbeit gesehen: „Früher hat man gesagt, das ist rechtsextrem, heute wollen das alle.“ 

Politik erzeugt Spaltung (ebenso wie Religion, mit der Politik gemacht wird, und andere politisch instrumentalisierte Ideologien). Protagonisten sind sogenannte Polarisierungsunternehmer, die sich ihrerseits auch noch mal in Polarisierungsgewinner und Polarsierungsverlierer unterteilen lassen. Manche politischen Strömungen gewinnen mit ihrer Agitation, andere beschädigen sich selbst. Das zeigt die Analyse von Spaltungslinien in Wählergruppen, auf die Mau und Kollegen umgestiegen sind, nachdem die Analyse von Klassen wenig ergiebig war.

Grundsätzlich gilt auch im politischen Umfeld: Der allgemeine Konsens ist breit. Parteien beziehen immer etwas zugespitztere Positionen als ihre Wähler, um sich zu unterscheiden. In den meisten Themen liegen auch Parteien innerhalb eines recht dichten Konsensspektrums, manche allerdings scheren aus. Und dabei zeigt sich: Manche haben Erfolg mit ihren Extrempositionen, andere stoßen auf ungläubige Verwunderung. 

Letzteres trifft – die Analyse wurde für Deutschland durchgeführt – vor allem auf die FDP zu: Politstrategen entwickeln marktradikale Freiheitspositionen für die Chimäre eines lonesome Leistungscowboys, aber völlig an realen Menschen vorbei. Während FDP-Programme sozialen Ausgleich weitgehend ablehnen und auch gegen klimawandelbedingten Verzicht eintreten (Innovation und Technologie sollen es lösen), ziehen ihre Wähler da nicht mit. Sie sind bereit, Klimamaßnahmen mitzutragen und sie begrüßen sozialen Ausgleich in Maßen. 

Ähnlich ergeht es Sozialdemokraten: Das revolutionäre Subjekt ist immer eine Chimäre, die willigen Träger des Klassenkampfs sind offenbar noch nicht geboren. 

Allerdings programmiert sich die FDP noch hartnäckiger und deutlicher an den Grundsätzen ihrer eigenen Wählerschaft vorbei und verlässt dabei auch über weite Strecken sozialen Konsens.

Ganz anders sieht es bei den Positionen der AfD aus: Diese verlassen den gesellschaftlichen Konsens – und ihre WählerInnen folgen ihnen dabei weitgehend. Während die AfD klar zu den erfolgreichen Polarisierungsunternehmern zählt, ist die FDP eindeutiger Polarisierungsverlierer. Das ist allerdings nicht auf gern erzählte Heldensagen von differenzierten sachlichen Positionen, die im populistischen Geschrei anderer untergehen, zurückzuführen. Es sind hausgemachte strategische Fehlentscheidungen, die es eher abstrakten Lehrbuchwelten recht zu machen versuchen als an Wünsche, Ziele und Träume von Menschen anzudocken. Man versucht zu polarisieren – aber es interessiert halt niemanden. Allenfalls ein paar Zaungäste, die diese hölzernen holprigen Kopfgeburten mitleidig belächeln.

In Österreich sind die Verhältnisse vermutlich ähnlich. Liberale Leistungsträger ohne sozialen Sinn sind eine Chimäre manch ewiger BWL-Studenten und ein Feindbild linker Phrasendrescher, aber eine verschwindend kleine reale Kategorie. Revolutionäre Subjekte, die für Erbschafts- und Vermögenssteuern auf die Barrikaden steigen, Umverteilungsplänen zustimmen und willig auch ihre eigenen Taschen leeren, sind in der Praxis ebenfalls deutlich seltener anzutreffen als auf Twitter, beim Handeln seltener als beim Fordern.

Erfolgreiche Polarisierungsunternehmer sehen anders aus. Auch die Polarisierungsverlierer kennen sie und können ihnen zusehen. Und sie sollten in den vergangenen mittlerweile mehr als 40 Jahren gelernt haben, dass sie nicht mit ihren eigenen Waffen zu schlagen sind. Gegen Polarisierer verliert man nicht, weil diese lauter sind. Man verliert, weil man sich von den eigenen Anhängern entfernt, für die man vorgeblich Politik macht. „Triggerpunkte“ liefert jetzt auch Zahlen dafür. 

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Literatur gibt es sicher nicht zu wenig: Hannah Arendt selbst war eine der produktivsten Autorinnen ihre Zeit, einige Monografien setzen sich mit ihrem Werk auseinander – eine Geschichte des Menschen Arendt gab es in der Ausführlichkeit noch nicht.

Was bleibt hängen von der Lebensgeschichte und dem Werk einer sehr prägenden, aber nicht leicht auf den Punkt zu bringenden Autorin? Hans Jonas – das war der mit der Verantwortung. Günther Anders, damals Stern – der mit dem Ende der Menschheit. Martin Heidegger – der mystische Phänomenologe, an der Grenze zum Schwurbler, der zuletzt völlig den Faden verlor. Adorno – der mit der Kulturindustrie. 

Ähnlich ungreifbar wie Hannah Arendt war eigentlich nur Walter Benjamin, für dessen Rezeption sie sich auch jahrzehntelang einsetze. Wie Benjamin ist auch Arendt ständig der Gefahr ausgesetzt, zur ergiebigen Beute plündernder Zitateräuber zu werden, die isolierte Sinnsprüche mit bedeutungsvoll gerunzelter Stirn vor sich her tragen und mit der Souveränität des wenig Belesenen, der sich nicht von zu viel Information verwirren lässt, ganz genau wissen, was dabei vermeintlich Sache ist.

Bei Arendt gibt es mehrere Ansatzpunkte dazu: Sie ist politisch schwer einzuordnen – das macht sie zu einer potenziellen Galionsfigur Liberaler. Auch wenn Liberale in den USA ihrer Zeit Linke waren.

„Ich bin nicht an Wirkung interessiert“ – diese wiederholte Feststellung in dem berühmten Fernsehinterview von 1964 macht sie in Abgrenzung von welterklärenden und Gefolgschaft sammelnden Männern zu einer Ikone weiblicher Andersartigkeit.

„Ich will verstehen“ – dieser auf mehrere Interviews zuruckzuführenden Aussage kann jeder Mensch mit philosophischem Grundinteresse zustimmen, aber sie bedeutet für sich genommen wenig. In Über das Böse hat Arendt das im übrigen etwas näher ausgeführt.

Was sind also Momente, die von einer 500-Seiten-Biografie über eine Frau, über die man vermeintlich alles weiß, hängen bleiben? 

Ihre Dissertation wurde als enttäuschend empfunden. Gutachter war Karl Jaspers, der später von einem Lehrer zu einem Bewunderer werden sollte.

Die Beschäftigung mit Antisemitismus hat Arendt ein Leben lang geprägt – auch wenn das Thema in vielen ihrer philosophischen und weniger historischen Schriften wenig durchscheint. 

Die 30er Jahre als Generalsekretärin einer jüdischen Organisation in Paris waren eine wichtige Phase praktischer Tätigkeit, aus der sie Knowhow für die Einschätzung politischer Arbeit schöpfte und die die Grundlage für Positionen schaffte, die sie in Vita activa beschrieb.

In manchen Themen war auch sie aus der Zeit gefallen. Mit Feminismus kann sie eher spät in Berührung; für Feministen der 60er und 70er Jahre blieb sie wenig relevant. 

Rassismus und schwarze Bürgerrechtsbewegung blieben ihr fremd, sie verstieg sich zu manchen eher kruden Thesen, die sie später zurücknahm. Auch in dieser Debatte spielte sie keine Rolle. Manch pseudodekonstruktiven esoterisch-postmodernen Linken, denen Arendt als abgestempelte Liberale suspekt war, konstruieren daraus bis heute Rassismusvorwürfe, „belegen“ diese aber absurderweise mit Passagen aus „Elemente und Ursprünge totalitäter Herrschaft“, in denen Arendt Rassismus beschreibt. 

Und es bleibt schwer vorstellbar, wie eine einzelne Person dass Arbeitspensum bewältigt hat. Schon ihre Publikationen sind enorm. Dazu kommen Vorträge, politische Arbeit, Arbeit als Lektorin – und all das lange Zeit aus eher prekären Verhältnissen ohne feste wirtschaftliche Beziehungen. Sie muss extrem produktiv und extrem organisiert gewesen sein. 

In die Faszination einer Denkerin, die zu sehr vielen Themen sehr hellsichtiges geschrieben hat, mischt sich, gerade in der intensiveren Auseinandersetzung, auch Distanz. Arendt ist eindeutig eine Denkerin des vorigen Jahrhunderts, einer vergangenen Zeit. Die stets präsente Rückbeziehung auf die Antike als Fundament des Westens, die universelle Belesenheit, aber auch die Selbstsicherheit in der Interpretation von Quellen sind starke Anzeichen dafür. Ein gemeinsamer Kanon gilt als vorausgesetzt – auch wenn die Schlussfolgerungen gerade bei Arendt häufig von herrschenden Lehren abweichende sind.

Arendt distanziert sich von Existenzphilosophie und der Pose der geworfenen Verzweiflung (sei es bei Heidegger oder bei Sartre), sie schreibt pragmatischer als ihre Freunde Hans Jonas und Walter Benjamin, sie ist moderner als Camus (den sie unter den Existenzialisten offenbar noch am ehesten gelten ließ) – und dennoch ist auch die Vertreterin einer Denktradition die gerade endgültig in Archive wandert und deren Anschlussmöglichkeiten an Debatten unserer Zeit verloren gehen. Die Geste der Jahrtausende überspannenden Kontexte, das Bedauern von Gottverlassenheit und anderen Verfallssymptomen, religiöse Anspielungen und Anrufungen – das sind Tropen, die schon völlig aus der Welt gefallen sind, bühnenbildende Maßnahme, die früher das passende Setting geschaffen haben, heute aber eher für Verwirrung sorgen.

Die Beschäftigung mit Hannah Arendt, die immer wieder noch heute gültige Diagnosen trifft, zeigt auch, wie sehr es an der Zeit ist, sich von einigen Denk- und Schreibtraditionen zu verabschieden. Gerade wenn man als public intellectual gehört werden will. Um einige Entwicklungen ist es wenig schade – etwa um die Sprachlosigkeit Heideggers, der über 50 Jahre hinweg daran scheiterte, seine Grundgedanken vom Sein präziser zu fassen oder gar zu einem Ausweg aus der diagnostizierten Sackgasse der Philosophie zu führen. Mit dem Verlust des gemeinsamen Kanons geht aber auch die Möglichkeit des intellektuellen Streits verloren – was man nicht versteht, darüber kann man nicht streiten, man kann es allenfalls doof finden. Die scheinbare Befreiung – endlich müssen wir nicht mehr 2000 Jahre Geistesgeschichte im Kopf haben, um mitreden zu können – ist auch eine Beengung: Der eigene kleine Gedankenhorizont verleiht absolute Urteilskraft, denn nichts außerhalb dieses Horizonts ist wichtig. Alle sind sich selbst die Klügsten und arbeiten schnell an der eigenen Gefolgschaft, die sich ebenfalls nicht zu sehr mit anderen Ideen beschäftigen sollte. Aus einem großen Horizont werden viele kleine Paralleluniversen, die ihre Belanglosigkeit nicht mit Information oder Argumenten bekämpfen, sondern mit der Behauptung der eigenen WIichtigkeit. Das habe ich schon öfters ausführlicher beschrieben.

Vielleicht gilt aber auch nur: Wer den Kopf schüttelt über Dummheit oder Anmaßung der Gegenwart, hat ganz einfach den Anschluss verloren. Arendt dürfte es in Hinblick auf Frauen und schwarze Bürgerrechte ein wenig ähnlich gegangen sein. In einigen Fällen revidierte sie ihre Position, in anderen blieb sie eher verständnislos, in wieder anderen wurde sie interessierte zurückhaltende Zuhörerin.

Meyers Buch ist tatsächlich eine Biografie und anderes als bisherige Arendt-Monografien keine Einführung ins Werk. Nicht zuletzt dank der enormen Produktivität sind diese Bereiche bei Arendt schwer zu trennen – sie verbinden sich eben zu dem Bild der heute mehr und mehr aus der Zeit fallenden öffentlichen Intellektuellen, die in aller Ruhe sagen konnte: „Ich bin an Wirkung nicht interessiert.“ Dass sie das im Fernsehen sagte, relativiert die Aussage ein wenig wie die Beteuerungen 90jähriger Schauspielerinnen, lieber einsam im Waldviertel zu leben als in der Stadt – nachdem sie ein ein buntes Leben in den Städten der Welt geführt haben und ihr zurückgezogenes Leben angereisten Reporterteams beschreiben. Oder so wie die Lebensweisheit Arnold Schwarzeneggers, man solle alles der Leidenschaft wegen machen, nicht des Geldes wegen – er habe seine ersten Millionen früh mit Immobilien gemacht und sei deshalb immer finanziell unabhängig geblieben. 

Alle drei Fälle sind widersprüchlich, allen dreien aber bleibt gemeinsame Substanz. Sie demonstrieren Bescheidenheit jener, die sich Bescheidenheit und Zurückhaltung leisten können – weil eben diese Zurückhaltung in der Vergangenheit gar nicht ihres war.

Trotzdem stehen alle – und Arendt ganz besonders – für Arbeit an der Sache, die Ergebnisse liefert und dafür lange Wege geht. Das steht in krassem Gegensatz zu einer halbintellektuellen Kultur der Wirkungsorientierung, die Reaktionen und deren Intensität deutlich höher bewertet als Konsistenz und Qualität des Gesagten. Wichtig ist nicht, was man sagt (und ob es richtig oder falsch ist), sondern wer darauf wie laut reagiert.

Belesenheit oder gar die Anknüpfung an große geistige Entwicklungslinien sind heute eher ein Hindernis. Wer sich damit aufhält, kommt nicht schnell genug in die Diskussion. Bis eine Position formuliert ist, hat die Umgebung schon vergessen, worum es ging. 

Diese Tatsache beschreibt eine der schärfsten Trennlinien zwischen den Denktraditionen einer Hannah Arendt und der Gegenwart. 

Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.

Triggerpunkte und Konflikte – der Titel lässt vermuten, die Antwort auf die noch gar nicht gestellte Frage läge auf der Hand. Aber so einfach machen es sich Steffen Mau, Thomas Laux und Linus Westheuser in ihrer aktuellen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten nicht. Auf der Suche nach der passenden Metapher der Gesellschaftsform – ist es ein Kamel mit zwei Höckern, also starker Polarisierung, oder eher ein Dromedar mit nur einem Höcker, der eher einer gleichmäßigen Verteilung entspricht – untersuchen sie potenzielle Spaltungskonflikte in vier Ungleichheitsarenen.

Die erste Arena entspricht klassischen Klassenkampfszenarien, hier geht es um ökonomische Verteilung zwischen oben und unten. Die zweite Arena dreht sich um Migration und Innen-Außen-Konflikte. Die dritte Arena beschreibt Identitätspolitik und Wir-Die-Divergenzen. In der vierten Arena von heute und morgen sind Veränderung und Klima die zentralen Themen.

Untersuchungsinstrumente sind ein aktualisiertes Klassenkonzept, das ökonomisches und kulturelles Kapital berücksichtigt, und ein Polarisierungsindex, der zusätzlich zum allgemeinen Wert der Antwort einer Gruppe die Streuung unterschiedlicher Antworten innerhalb dieser Gruppe angibt.

Die erste Diagnose: In keiner dieser Arenen lassen sich grundlegende Spaltungen feststellen. Trennlinien verlaufen werden zwischen Arm und Reich noch zwischen Alt und Jung oder zwischen Stadt und Land.

In den großen Fragen herrscht viel Konsens (es gibt Ungleichheit, Klimawandel ist real, Migration ist nicht per se ein Problem, Homosexualität oder Transgender sind zu akzeptieren), Differenzen gibt es aber in konkreten Punkten: Soll man sich auf den Kampf gegen den Klimawandel konzentrieren oder auf den Kampf gegen dessen Folgen? Müssen Migration und Sozialleistungen strenger geregelt werden? Dürfen Queer-Personen laut und fordernd auftreten? Erstaunlich wenig Unterschiede gab es bei Fragen zur Oben-Unten-Ungleichheit: Man ist sich über Ungleichheit einig, sieht aber wenig akuten Handlungsbedarf bei größeren Maßnahmen.

Trotzdem haben konkrete Fragestellungen das Potenzial, Triggerpunkte zu treffen und damit doch vorhandene Konflikte deutlich zu machen.

Triggerpunkte wirken dort am stärksten, wo Erwartungen verletzt werden. Die Autoren identifizieren vier verschiedene und besonders gefährdete Erwartungsfelder.

Egalitätserwartungen verbergen oft Erwartungen von Rangordnungen – warum bekommen auch die etwas aus dem Sozialsystem, die noch nicht eingezahlt haben? Warum gibt es Leistungen für Migranten, die es für andere nicht gibt?

Normalitätserwartungen betreffen das Verhalten anderer – wenn Homosexuelle ohnehin akzeptiert werden, warum müssen sie dann schrill auftreten? Gibt es überhaupt noch Diskriminierung?

Grenzerwartungen oder Entgrenzungsbefürchtungen sind die Abstraktion von „Da könnt ja jeder kommen!“ oder „Wo kommen wir denn da hin?“.

Verhaltenserwartungen oder -zumutungen kumulieren in „Man darf ja heute nicht mehr …“

Je zentraler die verletzte Erwartung für das Selbstbild ist, desto heftiger wirken Trigger. Auch dabei aber gilt: Trigger sind nicht deutlich verteilt. Es lassen sich kleine klassenspezifische Tendenzen feststellen, aber keine groben Spaltungslinien entlang von Klassen. Insgesamt sind alle Klassen eher progressiv als konservativ, Gruppierungen innerhalb des Meinungsspektrums nehmen je nach Frage sehr unterschiedliche Ausprägungen ein. Manager und Arbeitgeber etwa sind in Oben-Unten-Fragen eher konservativ, sie wollen also weniger umverteilen, in allen anderen Arenen dagegen sind die eher an der Spitze der Progressiven.

Auch bei simplen Sympathie-Befragungen ließen sich nur wenig klassenspezifische Unterschiede feststellen, dafür einige eher überraschende Einschätzungen: Langzeitarbeitlose und Konzernlobbyisten gelten als gleichermaßen unsympathisch. Feministinnen gelten als unsympathischer als Transgender-Personen oder arabische Zuwanderer.

Mau, Laux und Westheuser stellen den häufigen Polarisierungsthesen zwei Thesen von hergestellter oder geförderter Polarisierung entgegen.

Die erste Machart beschreibt ein Missverständnis: Gebildete neigen dazu, weniger Gebildeten bestimmte Meinungen und Haltungen zu unterstellen. Diese Meinungen gibt es durchaus, aber weniger in der geschlossenen Form, die Gebildete vermuten. Ungebildete sind sich nicht so einig. Eine Ursache dafür liegt vermutlich darin, dass Gebildeten die Konsistenz ihrer eigenen Ansichten eher ein Anliegen ist. Sie müssen sich homogene konsistente Weltbilder schaffen und unterstellen diese Konsistenz auch anderen. Weniger Gebildeten ist diese Konsistenz allerdings nicht so wichtig, weder in ihren Ansichten noch in der Wahrnehmung als Gruppe.

Die zweite Art hergestellter Polarisierung führen die Autoren auf Politik und Medien zurück. Menschen, die Nachrichten über Social Networks konsumieren, sind unzufriedener und wütender als Menschen, die Information aus traditionellen Medien beziehen. Wut sinkt mit dem Einkommen und steigt mit Veränderungserschöpfung, die oft auf wahrgenommene Veränderung zurückzuführen ist. Wut als Zeichen stark wirkender Triggerpunkte kennzeichnet Wähler rechter Parteien. – Überhaupt sind, so der Befund der Autoren, Spaltungen viel eher entlang politischer Einstellungen zu finden als entlang von Klassenunterschieden, und auch dabei sind es einzig die AfD-Wähler, die tatsächlich ausscheren.

Das bedeutet: Drastische Polarisierung existiert an den Rändern; es ist keine 50:50-Spaltung, sondern eine 90:10-Spaltung, die allerdings das Potenzial zum Wachstum hat. Polarisierung wird von politischen Polarisierungsunternehmern vorangetrieben. Das sind einerseits die bekannten Polarisierungskünstler vom rechten Rand, allerdings bemühen sich alle Parteien der Abgrenzung wegen immer wieder um möglichst polarisierte Profile. Grüne sind dabei in Deutschland meist Speerspitze progressiver Einstellungen, am konservativen Ende wechseln sich Linke und FDP ab (wenn man die AfD außer Acht lässt). Mit dem Bemühen um ein schärfer wirtschaftspolitisch konservatives Profil programmiert sich vor allem die FDP deutlich an den Einstellungen ihrer Wähler vorbei – denn diese sehen beispielsweise Umverteilungsfragen keineswegs so rigide wie die Partei selbst und sind sowohl gesellschafts- als auch wirtschaftspolitisch deutlich liberaler eingestellt.

Politische Unterschiede sind also deutlicher sichtbar und spürbar als sozialstrukturelle. Sie werden befeuert und zu Konflikten hochstilisiert, betreffen aber weniger Grundsatzfragen als Details und Ausprägungen. Menschen sind sich nicht sehr uneinig darüber, wie sie leben wollen – es gibt Uneinigkeit dabei, wie man dorthin kommt, was man dafür tun muss oder will und wer was geben oder was bekommen sollte.

Tiefere Gräben gibt es an den Rändern, die dafür oft umso lauter beschrieben werden – oder umso überraschender sind. Letzteres halten die Autoren etwa für gebildete und grundsätzlich gut situierte Menschen aus dem Anthroposophen-Milieu fest, die in den letzten Jahren zu lauten Querdenkern und Coronaschwurblern wurden.

Anstelle einer false balance diagnostizieren die Autoren eine false polarization – in vielen Fällen reden Menschen eher einander vorbei als einander antagonistisch gegenüberzustehen. Trotzdem können bei richtiger Bedienung der Triggerpunkte Unterschiede und Konflikte wachsen – dazu muss sich bei den eigentlichen Konfliktpunkten gar nichts ändern. Es muss nur der Eindruck erweckt werden, als drohte eines der vier Erwartungsfelder bedroht oder verletzt zu werden. Dann gerät Toleranz ins Hintertreffen, Kritik an als ungerechtfertig empfundenen Ansprüchen tritt in den Vordergrund.

Das sind dann eher problematische Konflikte, die leichter gesteuert als gelöst werden können, schließlich sind sie großteils imaginiert, indem sie sich um Unterstellungen drehen.