Geoffroy de Lagasnerie, Verurteilen

Nach seinen Überlegungen zur Möglichkeit der Revolte beschäftigt sich Geoffroy de Lagasnerie mit den Grundlagen des Rechtsstaates, aus denen die Möglichkeiten des Verurteilens und Bestrafens entstehen.
Zwei Grundideen ziehen sich durch das Buch: Die eine ist die Unterscheidung zwischen institutionalisierter und dadurch legalisierter Gewalt gegenüber jener Gewalt, die zu bestrafen ist. Die andere kommt immer wieder auf den Punkt der Unterscheidung zwischen struktureller und individualisierter Perspektive: Wo machen wir das Individuum verantwortlich, wo die Umstände, die Gesellschaft, das System.
Lagasnerie verbrachte einige Zeit als Zuseher bei Strafprozessen in französischen Gerichten und bezieht sich in seinen Überlegungen immer wieder auf den recht stereotypen Ablauf von Strafprozessen: Eine Handlung wird so genau beschrieben, wie sie in der Genauigkeit wohl nie stattgefunden hat – es braucht immer nachträgliche Interpretation für diese Präzision. Ankläger_innen erzählen biographische Details der Angeklagten, die deren Neigung zum Verbrechen erklären sollen. Verteidiger_innen erzählen Details, die sie von dieser Schuld entlasten sollen. Beides bleibt immer an der Oberfläche.
Daraus bezieht er Material für seine Argumente, dass der Rechtsstaat Individuen sehen wolle, wo noch gar keine Individuen sichtbar wären. Es ist nicht möglich, einen Menschen, seine Motive und die Folgen seiner Taten innerhalb des kurzen Zeitraums einer Gerichtsverhandlung individuell zu begreifen. Zudem sind die Angeklagten und Verurteilten soziologisch betrachtet eine eher homogene Gruppe; Herkunft, Bildungsgrad und sozialer Status sind hier meist die verbindendsten Elemente.

Der Rechtsstaat konstruiert Individuen, um sie bestrafen zu können …

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte Lagasnerie darauf hinaus, strukturell Perspektiven auf Gewalt einander gegenüberzustellen: Der Staat hat das Gewaltmonopol, weil er es sich gegeben hat. Verbrechen ist nicht nur deshalb bestrafenswert, weil es etwas nicht Wünschenswertes tut, sondern weil es sich gegen die Ordnung und das Gewaltmonopol richtet. Zudem richten sich die Fragen von Schuld und Bestrafung auf das Individuum, weil sie sonst die herrschende Ordnung in Frage stellen müssten.
Lagasnerie führt hier auch die unterschiedlichen Ausrichtungen zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat an. Der Sozialstaat betont das Kollektiv, den Zusammenhalt, gegenseitige Abhängigkeiten. Die individuelle Perspektive ist zwar auch hier möglich: Der Sozialstaat ermöglicht durch die Absicherung, die er bietet, Individualität und Entfaltung, aber es sind die Struktur, das Kollektiv, die das ermöglichen und die hier Mittel für diese Entfaltung zur Vefügung stellen und sie auch begründen.
Ganz anders beim Rechtsstaat: Der begründet eine abstrakte Ordnung, gegen die einzelne in eigener Verantwortung verstoßen. Ein (Kausal)Zusammenhang zwischen Rechtsstaat, Gewalt und Verbrechen erscheint vielen absurd. Die Analogie zum Sozialstaat ermöglicht es allerdings, eine andere Perspektive verstehen zu lernen.

… oder doch, um sie achten zu können?

So weit kann man problemlos mit. Probleme bekomme ich zumindest, wenn Lagasnerie seine Theorien auch in philosophiehistorische Zusammenhänge stellt. So unterstellt er beispielsweise, Jürgen Habermas und Hanna Arendt hätten unterstellt, dass Staaten grundsätzlich nicht gewalttätig sein können. Mir ist klar, worauf er sich bezieht; ich sehe diese Passagen aber eher als einen Versuch, Definitionen zu schaffen – nicht als Argument, den Staat von seiner Verantwortung im Umgang mit Gewalt zu befreien.
Hannah Arendt unterscheidet sehr deutlich zwischen Stärke, Macht und Gewalt und positioniert Gewalt als das einzig probate Mittel gegen Macht. Genau das sehe ich eben nicht als eine Positionierung von Macht als „gut“, die nur durch „böse“ Gewalt infragegestellt werden kann. Ich habe das im Gegenteil immer als eine der treffendsten Beschreibungen von Macht verstanden, die deutlich macht, im umfassend und weitreichend Macht ist, zumal wenn sie institutionell abgesichert ist (was sie ja auch von Stärke unterscheidet).
Ich finde auch, dass Arendt einen sehr guten Punkt darin hat, den Fokus des Justizsystems auf das Individuum gutzuheißen. Kollektive Verantwortung hat nämlich auch eine Schattenseite: Damit kommen nicht nur Erklärmechanismen ins Spiel, die Einzelne von ihrer Verantwortung befreien, es kommen auch Pauschalierungen ins Spiel, die Einzelne und deren Verantwortung gar nicht mehr sehen wollen. Arendt, die die Nazi-„Justiz“ genau beobachtet hat und sich auch im Rahmen des Eichmann-Prozesses mit dem Verhältnis von persönlicher und struktureller Verantwortung beschäftigt hat, hat hier eine deutlich andere Position als Lagasnerie.

Ohne Identität geht es nicht, und die ist individuell konkreter

Lagasneries Versuche, eine soziologische Perspektive in die Justiz zu bringen, lassen wie viele moderne linke Konzepte die Frage der Konsequenzen und Alternativen offen. Das ist vor allem deshalb schade, weil das Revoltenbuch vielversprechend konkret war. Dort untersuchte Lagasnerie auch Möglichkeiten, sich dem identifizierenden Zugriff zu entziehen, um politisch aktiv sein zu können, ohne sofort greifbar zu sein. Wirksam sind diese Entzugsstrategien allerdings nur dann, wenn neue Postionen beziehen und Identitäten geschaffen werden, die nicht einfach ignoriert und als bloß anonym abgetan werden können. Das zeigt Lagasnerie vor allem am Beispiel von Wikileaks oder Edward Snowden.
Das Recht verfolgt nun ähnliche Konstruktionsmechanismen – damit werden Individuen greifbar und strafbar, aber sie bekommen auch Autorität und Rechte. Ich bin sehr skeptisch gegenüber jeden Ideen, das ändern zu wollen. Ich verstehe Lagasneries Bedenken auch – aber den Ansatz aus dem Revoltenbuch (zusammengefasst und vereinfacht: anonyme Identitäten oder kollektivierte Individuen zu schaffen) war deutlich produktiver.