Alexander Bogner: Die Epistemisierung des Politischen

Wenn nur alle vernünftig sind – dann wird sich alles zum besten wenden. Mit Vernunft, Bildung und Respekt für die Wissenschaft lassen sich Coronaleugner, Klimawandelleugner, Kreationisten und Rassisten eines besseren belehren – oder doch nicht? Und wäre das überhaupt möglich oder sinnvoll? Solche und ähnliche Fragen bestimmen die Ausgangslage, in der sich Alexander Bogner mit der Macht der Wissenschaft beschäftigt. Sowohl in Klima- als auch in Coronafragen werden die Rufe nach Wissenschaft immer lauter.

Man möge auf die Wissenschaft hören; wissenschaftliche Erkenntnisse liegen doch auf dem Tisch – also sollen sich doch Politik und Gesellschaft danach richten. Diese Rufe hört man allerdings von beiden Seiten, von jenen, die für stärkere Beschränkungen und mehr Risikobewusstsein sind und ebenso von jenen, die sowohl das Virus als auch den Klimawandel als aufgebauschte Angstmacherei abtun. Es ist eben nicht so einfach, auf die Wissenschaft zu hören, denn trotz aller Klarheit gibt sie in komplexen Fragen selten klare Handlungsanweisungen (das ist unter anderen auch Thema der ersten Ausgabe in Journal Ahnungslos).

Sollen politische Entscheidungen wissenschaftlich fundiert sein? Können sie das denn sein?

In seinem Buch beschäftigt sich Bogner insbesondere mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik: Soll (oder kann) die Politik auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse entscheiden?

Natürlich, wäre eine erste verständliche Reaktion.

Was, drängt sich als erste Gegenfrage auf, hätte das allerdings noch mit Demokratie zu tun? Demokratien entscheiden nach dem Willen der Mehrheit; richtig, falsch oder gar wissenschaftlich sind keine für demokratische Entscheidungen konstitutiven Kriterien.

Das wird umso deutlicher, wenn man die Geschichte der Wissenschafts- und Expertenkritik nachzeichnet. In den 60er Jahren war Expertenkritik ein antiautoritäres aufklärerisches Projekt. Experten waren jene, die aufgrund ihres Wissens und ihrer Positionen Autorität hatten und über jenen standen, die anderes Wissen oder andere Standpunkte einbringen wollten – also etwa Frauen, Jugendliche, Menschen anderer Hautfarbe oder aus anderen Kontinenten. Die Expertise jener Autoritäten galt damals auch als Ignoranz. Heute hat sich das Bild deutlich gewandelt. Expertise ist bunter und vielschichtiger geworden – und es ist deutlich schwieriger geworden, die relevanten oder wünschenswerten Formen von Expertise herauszufiltern (dem hat etwa Harry Collins ein ganzes Buch gewidmet – und auch er kommt zu keiner auf allen Ebenen schlüssigen Lösung). Ganz im Gegensatz zur Expertenkritik der 60er Jahre ist es heute also umgekehrt ein aufklärerisches Projekt, nach Autoritäten zu suchen. Der Kampf gegen (wissenschaftliche) Autoritäten ist nach wie vor ein Kampf um Autonomie – trotz der formalen Ähnlichkeiten zur Kritik der 60er Jahre sind die inhaltlichen Unterschiede aber groß. Das hat unter anderem etwa auch die Rolle des Begriffs der Ignoranz verändert: Was früher ein Makel der alten Autoritäten war, ist heute ein Skill, der als Unbeirrbarkeit – überspitzt betrachtet – eine positive Eigenschaft jener ist, die neue Wege gehen (dazu habe ich unlängst etwas Ausführlicheres geschrieben).

Auf der Suche nach neuen Autoritäten

Wie lassen sich nun neue Rationalitätsautoritäten finden?

Bogner beschreibt dazu Strategien aus der Klimawandelforschung als “empirische Konsensforschung”. Dabei ist das wesentliche Kriterium nicht die Wissenschaftlichkeit des Arguments, entscheidend sind die Zahlen der insgesamt verfügbaren Stimmen (oder Studien). Das bedeutet: Studien, die sich (auf den ersten Blick) wissenschaftlicher Methoden bedienen, haben trotzdem nicht das Zeug, zu Autoritäten zu werden, wenn ihre Ergebnisse dem widersprechen, was die überwiegende Mehrheit von ExpertInnen meint. – Das ist allerdings eine natürlich äußerst wacklige Konstruktion, die vorerst jede Innovation ausscheiden würde, mit unterschiedlichen Kriterien und sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommt und zumindest auch eine Zeitdimension zur Einschätzung der Stabilität des Konsenses einführen soll.

Muss dann die Wissenschaft also doch auch auf Werte zurückgreifen, um ihren Autoritätsanspruch zu stützen?

In manchen Perspektiven sollten Werte und Wissenschaft nichts miteinander gemein haben – Wissenschaft ist eben neutral, sachlich und wertfrei. Wertfreiheit funktioniert allerdings nur in Laborsituationen. Und selbst dort sind schnell Grenzen erreicht – so scheinbar technische Vorgänge und Entscheidungen wie die Festlegung von Messgrößen oder die Kalibrierung von Skalen bilden Wertentscheidungen ab. Denn dabei wird festgelegt, was relevant genug ist, um präzise gemessen zu werden, und was unter Schwellwerte fallen kann (zu diesem Thema hat insbesondere die Wissenschaftsphilosphin Heather Douglas gearbeitet).

Politik aber hat auf jeden Fall mit Werten zu tun. Kann sich im Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik die Politik also diejenige Wissenschaft aussuchen, die den von ihr unterstützen Werten entspricht? – Diese Fragestellung wirkt vielleicht im Licht rein naturwissenschaftlicher Fragestellungen merkwürdig. Soziale oder ökonomische Fragestellungen aber lassen schnell erkennen, wie Werte schon die Formulierung einer wissenschaftlichen Frage beeinflussen.


Gibt es also keinen Ausweg in diesem vielschichtigen und problematischen Verhältnis zwischen Politik, Wissenschaft, Expertise und Autorität? Bogner bleibt vage. Irgendwie werde man sich darauf einigen müssen, dass es so etwas wie objektive Wahrheit gibt, meint er, zumindest als notwendige Fiktion. – Das Anliegen kann ich verstehen, die Formulierung finde ich kritisch. Erstens ist Objektivität ein problematischer Begriff, den ich tunlichst vermeide. Zweitens ist mit dem Vorhandensein von Wahrheit noch nichts über deren Erkenntnis ausgesagt. Drittens kann auch ein und derselbe unbestreitbare Fakt immer noch unterschiedlich bewertet und in unterschiedliche Kausalzusammenhänge gebracht werden. Als Rute im Fenster bekommt die Vorstellung einer objektiven Wahrheit, die Klimawandel- und Coronaleugnern die Rechnung präsentieren wird, überdies einen merkwürdigen theologischen Touch vom Jüngsten Gericht.


An einer gemeinsamen notwendigen Fiktion wird man trotzdem nicht vorbeikommen, wenn gemeinsame Entscheidungen getroffen werden sollen. Fiktionen wie “das Volk” oder “wir” (gegen “die da oben” oder “die da draußen”) machen zur Zeit ja vor, wie das funktionieren kann … – allerdings nicht mit dem aufklärerischen Antrieb, den man sich in einer Rationalitäts- und Wissenschaftlichkeitsdebatte wünschen würde.