Falsche Diskurse

Gianni Versace war eben ermordet worden. “Passt”, sagte der Magazinherausgeber. “Wir versuchen eh immer, zwei Covers pro Jahr für diese Zielgruppe zu machen”, erklärte er uns angehenden Jungjournalisten in der Morgensitzung. “Dann haben wir schon unser erstes Homo-Cover für heuer.” Repräsentation,  Empowerment, Identität – das waren damals, 1997, weniger wichtige Themen in der damals größten Wochenzeitschrift Österreichs. Die Zielgruppe war bedient. Oder noch wichtiger: Den Werbekunden konnte erzählt werden, dass die Zielgruppe bedient worden sei.

Homosexualität, Mode, Luxus, Konsumfreude – das gehörte doch zusammen. Oder? 

Heute wirkt das befremdlich. Zuschreibungen von außen gelten als Mikroaggression; wenn sie kommerziellen Hintergrund haben – umso schlimmer. 

Heute nehmen “Zielgruppen” ihre Themen selbst in die Hand, kommunizieren in eigenen Medien oder auf Plattformen an traditionellen Medien vorbei, sie schaffen eigene Galionsfiguren, die als Testimonials auch kommerziell erfolgreich sind und ihre eigenen Geschichten schreiben. – Und das ist vielen dann auch wieder nicht recht. Man muss mit den Menschen reden statt über sie, das ist ein aktuelles Mantra in Minderheitenarbeit, politischer Kommunikation und kommerziellem Marketing. Wenn die Zielgruppen allerdings sprechen, dann ist das rhetorische Schlachtfeld erst recht eröffnet. Dabei ist man allerdings oft weniger in der Sache uneinig, als im Stil und stilbildenden Details. 

Unter anderem steht immer wieder Feminismus in der Kritik. Von Ausverkauf ist die Rede, von Etikettenschwindel , davon, dass aus politischem Anliegen Lifestyle geworden sei. Produkte für Frauen werden nicht mehr der Hausfrau verkauft, die gerade ein paar Minuten Freizeit hat, bevor ER nach hause kommt, sondern der selbstbewussten unabhängigen Frau. Sie kauft nicht mehr, um ihm zu gefallen, sondern um selbst zufrieden zu sein.

Opportunistische Feministinnen

Das sei falsch, wird kritisiert. Das berge die Gefahr der Verflachung und öffne der Vereinnahmung durch das etablierte Patriarchat Tür und Tor. Der politische Kampf müsse immer auch ein Klassenkampf sein, alles andere sei Kosmetik. 

Politische emanzipatorische Ziele nicht-linker Feministinnen? Das sind halbseidene Auswüchse einer vorweggenommenen Unterwerfung. Feminismus ohne Klassenkampf wird als Opportunismus jener diskreditiert, die ihre Schäfchen im Trockenen hätten. 

Um das zu verstehen, muss man ein wenig ausholen: Solche Argumente werden aktuell gern mit Hinweisen auf Karl Polanyi untermauert. Polanyi analysierte  soziale Transformationsprozesse und stellte dabei stets gegenläufige Bewegungen zwischen liberalisierenden und protektionistischen Strömungen fest. Polanyis Stärke liegt in dem Argument, Laissez Faire-Kapitalismus als Beispiel einer freien Wirtschaft ohne staatliche Einmischung sei alles andere als die Freiheit von staatlicher Einmischung – es brauche im Gegenteil eine Reihe staatlicher Eingriffe, um die Voraussetzungen für diese Freiheit zu schaffen. Polanyis Schwäche liegt in dem weniger deutlich ausgesprochenen Gegenargument, dass Gemeinschaften und das Soziale betonende Kulturen viel eher ohne Verordnung durch Regeln und Behörden entstehen als die Freiheit betonenden Ordnungen – den Menschen also näher sind. Mit dieser Tendenz hin zum Protektionistischen ist es ein Leichtes,  Argumente für Schutz, Gemeinschaft, Kultur und Zusammengehörigkeit als geradezu natürlich, im Sinn des Menschen und der Menschheit zu kennzeichnen. Aus dieser Perspektive macht es auch Sinn, Feminismus als weiteren Klassenkampf-Schauplatz zu sehen und mit einer Forderung nach Arbeitszeitverkürzung zu kombinieren.

Was bei Polanyi allerdings kaum vorkommt, sind Trennlinien wie Herkunft oder Geschlecht. Emanzipation von sexistischen und rassistischen Ausschlüssen wäre in Polanyis Perspektive nur als Liberalisierung möglich – und damit als Zerstörung jener sozialen Ordnung, die Menschen eigentlich glücklich machen sollte. Feminismus als Zerstörung sozialer Ordnung? Das klingt eher nach den Erkenntnissen einer hyperkonservativen Bibelgruppe als nach linker progressiver Politik. – Das stellte auch die Philosophin Nancy Fraser in ihren Überlegungen, ob Feminismus zwangsläufig antikapitalistisch sein müsse, fest. Die Erzählung, dass liberale Feminismus Unterwerfung sei gerät damit ins Stocken. Umgekehrt müsste sich linke Feminismus fragen lassen, warum Befreiung dem Kollektiv untergeordnet sein soll oder welches Kollektiv hier denn nun entscheidend wäre.

Dummes Volk

Feminismusdebatten sind ein plakatives Beispiel. Das Motiv der falschen Diskurse finden wir heute in vielen weiteren sozialen Auseinandersetzungen: In vielen wohlhabenden Ländern Europas rücken WählerInnen nach rechts, ausländerfeindliche und rassistische Parolen finden sich häufig in ruhigen, reichen Gegenenden, in denen Begegnungen mit fremden Kulturen gar nicht stattfinden. PolitikerInnen machen es WählerInnen recht und setzen auf angriffige, populistische und oft hetzerische Politik. – Was kann man dem schon entgegensetzen, klagen dann jene, die es  anders machen wollen? Es gehe hier ja schon längst nicht mehr um Fakten, das Volk sei williges Opfer populistischer Verführer. Nüchterne PopulismusgegnerInnen scheitern bei ihren Versuchen, andere Politik machen zu wollen, andere pfeifen auf ihre einstigen Ideale und setzen auf linken Populismus – der seinen rechten Vorbildern oft an Rassismus und Sexismus um nichts nachsteht. Dann fordern auch SozialistInnen Integration vor Zuzug oder Vorrang für Eingeborene auf dem Arbeitsmarkt.

Die generelle Erzählung dabei: Man kommt ja nicht anders durch. In den reichsten Ländern sind ökonomische Sorgen der Wohlhabenden kein ernstzunehmendes Thema. Würden sich die Menschen nur darauf besinnen, wie gut es ihnen geht, dann wären sie wohl auch offener – aber derzeit sind sie Opfer ihrer Instinkte, die von gewissenlosen Puppenspielern manipuliert werden. Sie beschäftigen sich mit Statusfragen und kulturell überhöhten  Luxusthemen, statt sich mit Fragen der Menschlichkeit und der besten Lösung für alle zu beschäftigen. Und sie haben relevante ökonomische Fragen wie den Klassenkampf vergessen.

Auch hier sehen wir das Motiv der falschen Diskurse, mit dem Gutmeinende anderen erklären, dass sie falsche Prioritäten setzen. Der Politikwissenschaftler Philip Manow setzt dem die Frage nach einer politischen Ökonomie des Populismus entgegen. Die Kulturalisierungshypothese allein, die den Kulturkampf in jeden Schrebergarten trägt (in dem es gar keine unterschiedlichen Kulturen gibt), sei nicht haltbar. Manow zieht eine Fülle ökonomischer Daten heran, um nach Zusammenhängen in der Entwicklung von populistischer Politik gesteuerten Ländern zu suchen. 

Die vereinfachte  Hypothese aus diesen Analysen: Für die politischen Entscheidungen der Menschen sind oft nicht deren Zukunftserwartungen  ausschlaggebend, anders als man es wohl vermuten würde. Es ist auch gar nicht die Gegenwart, die Entscheidungen am stärksten prägt. Für die Bewertung politischer Szenarien ziehen Menschen offenbar die Vergangenheit heran. Erlebte Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit – auch nur als soziales Phänomen, gar nicht notwendigerweise als persönliches Schicksal – ist hier offenbar relevanter als die Sorge, in naher Zukunft selbst von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. Mit dieser These liefert Manow einen Gegenentwurf zu wütenden alten Männern oder zornigen Globalisierungsverlierern als Erklärmodell für das Wachstum radikaler populistischer Politik. Das Erklärmodell der psychologisierten, kulturalisierten Unzufriedenheit stellt sich als ein anderes Beispiel falscher Diskurse heraus: Den Unzufriedenen vermeintlichen Populismusopfern werden irrationale Instinkte unterstellt – ihre Entscheidungen lassen sich allerdings auf reale Erlebnisse zurückführen. 

Wie kann man nur so unvernünftig sein ..!

Ein Umfeld voll drängender Entscheidungen schafft ein fruchtbares Klima für das Motiv der falschen Diskurse. In besonders plakativer Weise ist das überall dort zu beobachten, wo die Wissenschaft angerufen wird. Ob Klimawandel, Coronavirus oder Krieg: PolitikerInnen, EntscheiderInnen – wichtige Menschen sollen auf “die Wissenschaft” hören, wissenschaftliche Erkenntnisse liefern Richtlinien, an denen man sich doch problemlos orientieren könnte – und doch läuft aus der Perspektive der kritischen Beobachter nichts so, wie es laufen sollte. Dann hören wir wieder: “Ihr redet vom Falschen”. Unvernunft, Dummheit, Egoismus, Ignoranz – wie kann man angesichts so klarer Tatsachen nur so unvernünftig sein. Ähnlich wie beim Vorwurf des feministischen Ausverkaufs oder bei der Unterstellung irrationaler Ängste in der Politik richtet sich auch hier die Kritik auf ein formales Kriterium: Vernunft, Logik und Daten geben das abstrakte Geländer vor, an dem sich Entscheidungen orientieren sollen. Reale Entscheidungen des praktischen Alltags dagegen laufen nicht so klar: Sie müssen sich mit verworrenen Tatsachen, Wertfragen, nicht ganz klar vorhersehbaren Zusammenhängen und auch noch mit Launen beschäftigen. Das ist unvernünftig. Aber es ist nun mal angemessen. Wissenschaft liefert Antworten auf wissenschaftliche Fragen, nicht auf Problemstellungen des Alltagslebens. Die können mitunter daraus abgleitet werden. Aber streng genommen entscheidet Wissenschaft gar nichts: Sie liefert Tatsachen. Was daraus folgt, wer warum wie reagieren sollte – das steht auf einem anderen Blatt Papier. Und dazu muss man noch gar kein gefinkelter Relativist sein. Im Gegenteil: Abgrenzung ist eine der wichtigsten Eigenschaften wissenschaftlicher Expertise.

Der Wissenssoziologe Harry Collins führt in seinen Arbeiten zu Expertise mehrere Spielarten fachlichen und sachlichen Wissens an, die auf den ersten Blick bald auch den Eindruck strenger Wissenschaftlichkeit erfüllen: Fakten und Zahlen werden präsentiert, Menschen zitieren aus wissenschaftlichen Studien, praktisches Knowhow stützt sich auch auf feste Tatsachen und nicht bloß auf persönliche Vorlieben – aber erfüllt das schon die Kriterien, die wissenschaftliche Zugänge auszeichnen soll? Collins ist skeptisch und führt eine weitere Ebene von Expertise ein; der allgegenwärtige Ruf nach praktisch anwendbarer fundierter Expertise hat seiner Einschätzung nach dem Begriff der wissenschaftlichen Expertise nichts gutes getan und einen eben auch allgegenwärtigen, gemeinplatzhaften Begriff von Expertise erzeugt. Wissenschaftliche Expertise dagegen, die Wissen hervorbringt, Unerwartetes einschätzen kann und auch in unklaren Situationen klare Sicht behält, ist oft weniger schnell mit Empfehlungen und Entscheidungen bei der Hand. Deshalb findet sie auch weniger leicht Gehör als andere Formen von Expertise, wissenschaftliche Expertise konkurriert mit anderen Wissensformen und in dieser Vielfalt der formal gleichwertigen Ansichten gedeiht der Vorwurf der falschen Diskurse besonders gut. 

Harry Collins plädiert angesichts dessen für die Rückkehr des Elfenbeinturms: Expertise und wissenschaftliches Wissen bräuchten Respekt. WissenschaftlerInnen können sich nicht immer, zu jedem Thema und bei jeder Gelegenheit mit jeder anderen Ansicht um die Vorherrschaft in tagesaktuellen Angelegenheiten streiten. Sie wollen sich oft nicht so eindeutig festlegen, wie es der Wunsch nach klaren Entscheidungen erfordern würde. Sie formulieren anders, als es der Wunsch nach Imperativen sinnvoll erscheinen lassen würde.

Das Diskussionsmuster der falschen Diskurse lässt Skepsis wachsen: Wer sich zurückzieht, wird vergessen, wer sich nicht einmischt, und seine Position nicht verteidigt, wird überrannt und ignoriert. 

Im Fall der Wissenschaft und der sachlichen und klaren Entscheidungen mag das besonders tragisch sein (selbst wenn auch die scheinbar sachlichen, neutralen und wertfreien Entscheidungen der Wissenschaft nie so sachlich sind, wie sie gesehen werden möchten – schon das Formulieren einer Fragestellung beruht auf einer Wertentscheidung: Was ist wichtig genug, Gegenstand der Forschung zu sein?). Im Zusammenhang mit den anderen kurz angerissenen Fragestellungen ruft das Motiv der falschen Diskurse eine andere vergessen geglaubte Fragestellung auf den Plan: Es ist die Frage nach Positionskämpfen: Wer spricht von wo aus? Wer beansprucht auf Grund welcher Voraussetzungen welche Autorität? Warum und mit welchen Mitteln wird diese Autorität über andere ausgedehnt?

Wissenschafts- und ExpertInnenkritik war mal ein aufklärerisches und antiautoritäres Projekt, schreibt der Soziologe Alexander Bogner in “Die Epistemisierung des Politischen”. In den Sechziger Jahren richtete sich Kritik gegen Traditionen, auf unklaren Grundlagen beruhende Autoritäten und gegen ignorante Macht, die keine alternativen Ansätze gelten ließ.

Heute ist die unter vorgeblich ähnlichen Vorzeichen geübte Kritik esoterisch und obskur. KritikerInnen und Quer- oder SelbstdenkerInnen nehmen den Namen der Aufklärung für sich in Anspruch und sind in ihrer Kritik dennoch in Form und Inhalt esoterisch: Im Mittelpunkt steht geheimes Wissen, sie behaupten den Zugang zu besonderen Informationen – und sie müssen deshalb voraussetzen, dass Informationen unterdrückt, verheimlicht und manipuliert werden. Dieser doppelt esoterische Schachzug, der gleichzeitig Zugang zu Geheiminformationen behauptet und unterstellt, dass die relevanten Informationen verschwiegen werden, schafft den Freiraum für Kritik. Denn der Vollständigkeitsbeweis ist um einiges schwieriger anzutreten; punktuelle Kritik ist die weitaus leichtere Übung.

Vollständigkeit ist grundsätzlich auch ein Status, den Wissenschaft nicht für sich in Anspruch nimmt. Wissenschaftliches Wissen kristallisiert sich aus einzelnen Beobachtungen oder Ergebnissen in spezifischen Situationen zur reproduzierbaren Ergebnissen in weniger spezifischen Situationen und kann so im Lauf der Zeit ausgedehntere Gültigkeit und die Erklärung von Zusammenhängen für sich beanspruchen – als Information und Wissen sind wissenschaftliche Aussagen aber stets auf konkrete Kontexte und konkrete Fragestellungen unter klar abgegrenzten Rahmenbedingungen bezogen. Wenn dem entgegen Wissenschaft medial gefordert ist, wenn politische oder andere unwissenschaftliche Fragestellungen wissenschaftlich entschieden werden sollen, dann ist das eine Überstrapazierung von Wissenschaft. Das schürt falsche Erwartungen, schafft falschen Druck – und verleitet dazu, Unsinn zu behaupten. Wer sich dazu verleiten lässt, begibt sich selbst in das Fahrwasser des Vorwurfs der falschen Diskurse. Der Vorwurf ist nicht mehr nötig. 

Falsche Diskurse, falsche Schwerpunkte, falscher Stil – all das sind kritische destruktive Taktiken, die eine entscheidende Instanz außerhalb des eigentlichen Themas anrufen. Richtig und falsch ist dann nicht mehr eine Frage der Sache sondern eine Frage sondern eine Angelegenheit eines übergeordneten Wertegerüsts. Das allein ist gar nicht problematisch. Wo soziale, politische oder ethische Fragen debattiert werden, ist es letztlich immer ein externe Bezugsrahmen, der vorgibt, was richtig, akzeptiert oder wünschenswert ist. Über die Wahl dieses Bezugsrahmen kann sogar noch mehr diskutiert werden als über die inhaltliche Ebene – denn hier sind wahr oder falsch weitaus komplexer als in Sachfragen. Problematisch ist, wenn die Wahl des Bezugsrahmens außer Diskussion gestellt werden soll, wenn also eine Seite der anderen vorgeben will, welche Werte, politischen Ideen oder Ziele zu akzeptieren wären – ohne Argumente dazu zuzulassen. – Dann greifen eben nur noch Verbote und Unterstellungen. Und es ist fatal, wenn es diesen gelingt, sich als Notwendigkeiten zu inszenieren. Ich bin eigentlich allergisch auf Philosophen-Zitate, aber dieses ist aktuell tatsächlich eines der relevantesten: „Notwendigkeit ist Aberglaube“, meinte John Dewey, in Europa sträflich unterschätzter Gründungsvater des Pragmatismus.