Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.

Triggerpunkte und Konflikte – der Titel lässt vermuten, die Antwort auf die noch gar nicht gestellte Frage läge auf der Hand. Aber so einfach machen es sich Steffen Mau, Thomas Laux und Linus Westheuser in ihrer aktuellen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten nicht. Auf der Suche nach der passenden Metapher der Gesellschaftsform – ist es ein Kamel mit zwei Höckern, also starker Polarisierung, oder eher ein Dromedar mit nur einem Höcker, der eher einer gleichmäßigen Verteilung entspricht – untersuchen sie potenzielle Spaltungskonflikte in vier Ungleichheitsarenen.

Die erste Arena entspricht klassischen Klassenkampfszenarien, hier geht es um ökonomische Verteilung zwischen oben und unten. Die zweite Arena dreht sich um Migration und Innen-Außen-Konflikte. Die dritte Arena beschreibt Identitätspolitik und Wir-Die-Divergenzen. In der vierten Arena von heute und morgen sind Veränderung und Klima die zentralen Themen.

Untersuchungsinstrumente sind ein aktualisiertes Klassenkonzept, das ökonomisches und kulturelles Kapital berücksichtigt, und ein Polarisierungsindex, der zusätzlich zum allgemeinen Wert der Antwort einer Gruppe die Streuung unterschiedlicher Antworten innerhalb dieser Gruppe angibt.

Die erste Diagnose: In keiner dieser Arenen lassen sich grundlegende Spaltungen feststellen. Trennlinien verlaufen werden zwischen Arm und Reich noch zwischen Alt und Jung oder zwischen Stadt und Land.

In den großen Fragen herrscht viel Konsens (es gibt Ungleichheit, Klimawandel ist real, Migration ist nicht per se ein Problem, Homosexualität oder Transgender sind zu akzeptieren), Differenzen gibt es aber in konkreten Punkten: Soll man sich auf den Kampf gegen den Klimawandel konzentrieren oder auf den Kampf gegen dessen Folgen? Müssen Migration und Sozialleistungen strenger geregelt werden? Dürfen Queer-Personen laut und fordernd auftreten? Erstaunlich wenig Unterschiede gab es bei Fragen zur Oben-Unten-Ungleichheit: Man ist sich über Ungleichheit einig, sieht aber wenig akuten Handlungsbedarf bei größeren Maßnahmen.

Trotzdem haben konkrete Fragestellungen das Potenzial, Triggerpunkte zu treffen und damit doch vorhandene Konflikte deutlich zu machen.

Triggerpunkte wirken dort am stärksten, wo Erwartungen verletzt werden. Die Autoren identifizieren vier verschiedene und besonders gefährdete Erwartungsfelder.

Egalitätserwartungen verbergen oft Erwartungen von Rangordnungen – warum bekommen auch die etwas aus dem Sozialsystem, die noch nicht eingezahlt haben? Warum gibt es Leistungen für Migranten, die es für andere nicht gibt?

Normalitätserwartungen betreffen das Verhalten anderer – wenn Homosexuelle ohnehin akzeptiert werden, warum müssen sie dann schrill auftreten? Gibt es überhaupt noch Diskriminierung?

Grenzerwartungen oder Entgrenzungsbefürchtungen sind die Abstraktion von „Da könnt ja jeder kommen!“ oder „Wo kommen wir denn da hin?“.

Verhaltenserwartungen oder -zumutungen kumulieren in „Man darf ja heute nicht mehr …“

Je zentraler die verletzte Erwartung für das Selbstbild ist, desto heftiger wirken Trigger. Auch dabei aber gilt: Trigger sind nicht deutlich verteilt. Es lassen sich kleine klassenspezifische Tendenzen feststellen, aber keine groben Spaltungslinien entlang von Klassen. Insgesamt sind alle Klassen eher progressiv als konservativ, Gruppierungen innerhalb des Meinungsspektrums nehmen je nach Frage sehr unterschiedliche Ausprägungen ein. Manager und Arbeitgeber etwa sind in Oben-Unten-Fragen eher konservativ, sie wollen also weniger umverteilen, in allen anderen Arenen dagegen sind die eher an der Spitze der Progressiven.

Auch bei simplen Sympathie-Befragungen ließen sich nur wenig klassenspezifische Unterschiede feststellen, dafür einige eher überraschende Einschätzungen: Langzeitarbeitlose und Konzernlobbyisten gelten als gleichermaßen unsympathisch. Feministinnen gelten als unsympathischer als Transgender-Personen oder arabische Zuwanderer.

Mau, Laux und Westheuser stellen den häufigen Polarisierungsthesen zwei Thesen von hergestellter oder geförderter Polarisierung entgegen.

Die erste Machart beschreibt ein Missverständnis: Gebildete neigen dazu, weniger Gebildeten bestimmte Meinungen und Haltungen zu unterstellen. Diese Meinungen gibt es durchaus, aber weniger in der geschlossenen Form, die Gebildete vermuten. Ungebildete sind sich nicht so einig. Eine Ursache dafür liegt vermutlich darin, dass Gebildeten die Konsistenz ihrer eigenen Ansichten eher ein Anliegen ist. Sie müssen sich homogene konsistente Weltbilder schaffen und unterstellen diese Konsistenz auch anderen. Weniger Gebildeten ist diese Konsistenz allerdings nicht so wichtig, weder in ihren Ansichten noch in der Wahrnehmung als Gruppe.

Die zweite Art hergestellter Polarisierung führen die Autoren auf Politik und Medien zurück. Menschen, die Nachrichten über Social Networks konsumieren, sind unzufriedener und wütender als Menschen, die Information aus traditionellen Medien beziehen. Wut sinkt mit dem Einkommen und steigt mit Veränderungserschöpfung, die oft auf wahrgenommene Veränderung zurückzuführen ist. Wut als Zeichen stark wirkender Triggerpunkte kennzeichnet Wähler rechter Parteien. – Überhaupt sind, so der Befund der Autoren, Spaltungen viel eher entlang politischer Einstellungen zu finden als entlang von Klassenunterschieden, und auch dabei sind es einzig die AfD-Wähler, die tatsächlich ausscheren.

Das bedeutet: Drastische Polarisierung existiert an den Rändern; es ist keine 50:50-Spaltung, sondern eine 90:10-Spaltung, die allerdings das Potenzial zum Wachstum hat. Polarisierung wird von politischen Polarisierungsunternehmern vorangetrieben. Das sind einerseits die bekannten Polarisierungskünstler vom rechten Rand, allerdings bemühen sich alle Parteien der Abgrenzung wegen immer wieder um möglichst polarisierte Profile. Grüne sind dabei in Deutschland meist Speerspitze progressiver Einstellungen, am konservativen Ende wechseln sich Linke und FDP ab (wenn man die AfD außer Acht lässt). Mit dem Bemühen um ein schärfer wirtschaftspolitisch konservatives Profil programmiert sich vor allem die FDP deutlich an den Einstellungen ihrer Wähler vorbei – denn diese sehen beispielsweise Umverteilungsfragen keineswegs so rigide wie die Partei selbst und sind sowohl gesellschafts- als auch wirtschaftspolitisch deutlich liberaler eingestellt.

Politische Unterschiede sind also deutlicher sichtbar und spürbar als sozialstrukturelle. Sie werden befeuert und zu Konflikten hochstilisiert, betreffen aber weniger Grundsatzfragen als Details und Ausprägungen. Menschen sind sich nicht sehr uneinig darüber, wie sie leben wollen – es gibt Uneinigkeit dabei, wie man dorthin kommt, was man dafür tun muss oder will und wer was geben oder was bekommen sollte.

Tiefere Gräben gibt es an den Rändern, die dafür oft umso lauter beschrieben werden – oder umso überraschender sind. Letzteres halten die Autoren etwa für gebildete und grundsätzlich gut situierte Menschen aus dem Anthroposophen-Milieu fest, die in den letzten Jahren zu lauten Querdenkern und Coronaschwurblern wurden.

Anstelle einer false balance diagnostizieren die Autoren eine false polarization – in vielen Fällen reden Menschen eher einander vorbei als einander antagonistisch gegenüberzustehen. Trotzdem können bei richtiger Bedienung der Triggerpunkte Unterschiede und Konflikte wachsen – dazu muss sich bei den eigentlichen Konfliktpunkten gar nichts ändern. Es muss nur der Eindruck erweckt werden, als drohte eines der vier Erwartungsfelder bedroht oder verletzt zu werden. Dann gerät Toleranz ins Hintertreffen, Kritik an als ungerechtfertig empfundenen Ansprüchen tritt in den Vordergrund.

Das sind dann eher problematische Konflikte, die leichter gesteuert als gelöst werden können, schließlich sind sie großteils imaginiert, indem sie sich um Unterstellungen drehen.

Sind Digitalabos so etwas wie Tabletmagazine?

Alle sind überzeugt: Man muss es probieren. Niemand weiß: Wie geht es wirklich, wer hat womit Erfolg gehabt? Erfolgsstorys haben immer den Unterton des Achtungserfolgs oder der Ausnahmesituation: immerhin das erreicht, besser als andere, für die Umstände nicht schlecht. Oder: Das Medienimperium mit weltweiter Reichweite und internationalen Schleuderpreisen konnte ja auch seine Registrierungen steigern.

Man muss es tun, man muss auf Digitalabos und direkte Kundenbeziehungen setzen, weil es aktuell keine alternativen Perspektiven gibt. Umso dringender ist es, welche zu entwickeln.

Vor 15 Jahren haben wir festgestellt, dass Onlinemedien nicht mehr so funktionieren werden. Nicht nur, weil niemand dafür bezahlen wollte, sondern auch, weil der wachsende Anteil von Mobilgeräten Design- und Usability-Überlegungen zunichte gemacht hat, die Webseiten in Brand- und Designerlebnisse verwandeln sollten, wie man es von Magazinen und Zeitungen kannte. Fancy Storytelling-Formate waren Schnee von gestern, Navigationskonzepte (darüber machte man sich damals noch Gedanken) waren über den Haufen geworfen.

Die Hoffnung lag in Tablets. Tablets sperrten User ein, beschränkten ihre Nutzungsmöglichkeiten und gaben Publishern Mittel an die Hand, Usern ihre Ideen aufzuzwingen. Wer Teil der schönen neuen Welt sein wollte, musste ein Tablet besitzen, die Magazin-App downloaden und das Magazin abonnieren. Verlage sahen ihre Zukunft im Nespresso-Modell: Schaff ein Convenience-getriebenes Modell, das Usern viele Annehmlichkeiten bietet und es ihnen sehr schwer macht, das geschlossene Umfeld zu verlassen.

Das Problem: Es hat niemanden interessiert. Ein paar unwillige Early Adopter, ein paar Fashion Victims und ein paar Schnorrer, die über Abogeschenke geködert waren – das blieb die Tablet-Ausbeute der meisten Verlage. User surften indessen fröhlich am Handy, pfiffen auf durchdachte multimediale Userexperience und stoppelten sich ihre Information aus verschiedensten Quellen zusammen.

Ähnlich verhält es sich jetzt mit Digitalabos. Publisher versuchen, Geschäftsmodelle von früher zu transformieren und digitalisieren, es liegt scheinbar auf der Hand, dass das Produkt funktionieren muss, es hat sich ja kaum verändert – aber es funktioniert kaum. Trotzdem ist es notwendig, das Produkt auszubauen, zu perfektionieren und alles rundherum zu perfektionieren. Niemand kann es sich leisten, dieses Thema unversucht zu lassen. Aber es ist durchaus vorstelllbar, dass das Digitalabogeschäft ebenso sang- und klanglos verschwindet wie das Tabletgeschäft.

Wie beim Tabbletgeschäft sind es vielleicht Nebeneffekte die den Ausweg zum nächsten Versuch weisen. Digitalprodukte sind datenintensiv und fordern zur Beschäftigung mit Künstlicher Intelligenz auf. Sie zwingen zur Beschäftigung mit Usern, Tech-Konzernen und digitalen Möglichkeiten. Sie zeigen neue Konkurrenzverhältnisse auf. Und sie lassen neue Ideen entstehen, welche Partner in Zukunft interessant für Verlage sein könnten. Früher waren es Werbetreibende; Leser wollten die von diesen hinterlassenen Lücken nicht ausfüllen. Vielleicht sind einmal mehr Tech-Konzerne Geldquelle für Verlage. Sie brauchen Inhalte, um User zu beschäftigen und zu binden, um Netzwerke zu füllen – und um KI-Modelle zu trainieren. Copyrights waren eines der am intensivsten diskutierten Themen rund um den EU AI Act. Und man kann noch nicht einmal sagen, ob das weise oder kurzsichtig war. Verlage brauchen Big Tech, und Big Tech braucht Content, nach wie vor.

Die letzte große Kooperationswelle leitete allerdings den Anfang vom möglichen Ende vieler Verlage ein. Rund um die Jahrtausendwende, Telekomunternehmen meinten, die besseren Medienunternehmen zu werden, war Syndication die neue heiße Geldquelle für Publisher. Sie lizenzierten Inhalte und hatten damit neben Werbung und Lesern eine dritte Einnahmequelle.

Genau die wurde ihnen zum Verhängnis. Leser gewöhnten sich daran, Inhalte überall und kostenlos zu bekommen – und verzichteten noch leichter als bisher auf ihr Zeitungsabo.

Das kann wieder so passieren. Allerdings hat auch Big Tech mittlerweile verstanden, dass Inhalte nicht von selbst wachsen und Verlage wichtig sind. Es liegt an den Verlagen, dieser Tatsache gerecht zu werden und das angemessene Selbstbewusstsein zu entwickeln. Dieses Selbstbewusstsein muss ein deutlich anderes sein als das der Vergangenheit.