Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik

Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik

Lüge und Wahrheit sind Praktiken, die in der Politik recht sinnlos sind. – Und das ist gar nicht auf Fake News und andere problematische Medienentwicklungen zurückzuführen.

Hannah Arendt ist ja eine der verführendsten Persönlichkeiten der Philosophiegeschichte. Sie hat zu allem etwas gesagt – und dabei noch dazu verschiedenes. Und immer sehr treffend Scharfsinniges. Das macht sie zum Reibebaum für Linke und Rechte, zur Ikone für Liberale – und in Wahrheit zu einer sehr sorgfältigen, überaus belesenen Denkerin, die man nicht auf Häppchenzitate reduzieren darf.

Das gilt umso mehr für Texte, deren Aktualität heute, fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen, LeserInnen aggressiver als eine Speikobra ins Auge springt. “Wahrheit und Lüge in der Politik” ist ein solcher Text. Arendt schrieb diesen Text über die Pentagon Papers und die Lügen des Vietnam-Kriegs, aber angesichts solcher Textpassagen – wer hat da heute in Österreich nicht einen zwanghaft wutentbrannten ÖVP-Abgeordneten Andreas Hanger vor Augen, der sich über die schalsten Kleinigkeiten empört, um vorhandene Empörung von ihrem eigentlichen Gegenstand abzulenken?

“Endzweck [der Lügen] waren weder Macht noch Profit” sondern das Image selbst. “In Hinblick auf das Endziel verwandeln sich alle politischen Zielsetzungen in kurzfristig austauschbare Hilfsmittel; zuletzt, als alles auf eine Niederlage hindeutete, bestand das Ziel nicht mehr darin, die demütigende Niederlage zu vermeiden, sondern Mittel und Wege zu finden, um ein Eingeständnis zu vermeiden und ‘das Gesicht zu wahren’.” – Deine Chefs sind schon lange als machversessene Lügner bloßgestellt, aber du musst nicht nur weiter das tote Pferd ihrer Lügen weiter reiten, du kannst es sogar aus voller Überzeugung und mit guten Erfolgschancen tun, denn: “Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.”

Im Klartext: Niemand glaubt dir. Alle wissen, dass du lügst. Aber dank deiner Lügen (und der deiner Chefs) haben Menschen denn Sinn dafür verloren, was der Nutzen von Wahrheit sein könnte. Sie haben vielmehr gelernt: Wer die Wahrheit sagt, ist ein schwacher Charakter, der sich selbst beschädigt. Und schließlich: All das bestätigt die “Vermutung, dass es vielleicht in der Natur des Politischen liegt, auf Kriegsfuß mit Wahrheit in allen ihren Formen zu stehen. Die Frage ist, warum unter gewissen und keineswegs seltenen Umständen das unbekümmerte Aussprechen von Faktizitäten bereits als eine antipolitische Haltung empfunden wird.”

Natürlich verfolgt Politik immer einen Zweck. Natürlich vertragen sich Zwecke immer nur in sehr bedingtem Ausmaß mit Wahrheiten und noch weniger mit Ehrlichkeit.

Und, und hier macht sich wieder bemerkbar, dass man Arendt nicht häppchenweise zitieren darf und dass Kritik an herrschenden Verhältnissen ihr Ziel keineswegs damit erreicht hat, dass sie ausgesprochen wurde, genau genommen hat sie damit noch gar nichts erreicht: “Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann?”

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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