Am Ponyhof der Digitalisierung

Am Ponyhof der Digitalisierung

Wenn jeden Tag ein Produkt fertig wird, gibt es jeden Tag einen Grund für die Feststellung: So schlimm steht es nicht um uns. Das ist das Digitalisierungsproblem der Tageszeitungen.

Trends und neue Entwicklungen schön und gut, aber am Ende des Tages hat jeder Tag ein Ende. Dann muss etwas erledigt sein – darin sind sich Zeitungen und Bauernhöfe tatsächlich nicht so unähnlich. Ich weiß das aus Erfahrung aus beiden Branchen.

Und das ist nicht nur eine Metapher. 

Digitalisierungsprojekte in einem Zeitungsverlag unterscheiden sich gar nicht so sehr von der Digitalisierung eines Bauernhofs. Beide betreiben altes Handwerk, in dem sich trotz aller Umbrüche in den grundlegenden Rahmenbedingungen nur sehr wenig verändert hat. 

Zeitungen erscheinen täglich, das Vieh muss täglich gefüttert werden. Redaktionen sind grundsätzlich praktisch unführbare Organisationen, Bauern sind traditionell Sinnbilder von Sturheit.

Und in beiden Branchen spielen öffentliche Förderungen wichtige Rollen. 

Aber der Reihe nach. 

Egal in welchem Stadium digitaler Transformation eine Zeitung heute ist, es heißt immer: Zu wenig, zu spät, zu alt, zu phantasielos. Man blickt neidisch auf entfernte Vorbilder, denen dank internationaler Reichweite und Relevanz Sagenhaftes zugetraut wird. Man staunt über das nächste Gen Z/Social First/datadriven/ultratargeted Medienspinoff, dessen Reichweiten dann doch humorvoll niedrig sind und dessen Kommerzialisierungspläne in einer fernen Zukunft liegen, in der auch der heute trendigste Kram wieder hoffnungslos veraltet sein wird.

Rezepte liegen auf der Hand; Daten, Engagement, Loyalty müssen her. Allein auch hier gilt: Was sehr viele schon sehr lang als Lösung alter Probleme beschreiben, wird wohl doch allein keine ganz patente Lösung sein – sonst gäbe es die Probleme nicht mehr.

Funktionierende Lösungen sind die Feinde der guten Lösungen. „Es hat noch jeden Tag funktioniert“ ist die intelligentere Version von „Das haben wir immer schon gemacht.“ In einer Umgebung, die jeden Tag Ergebnisse bringen muss, gewinnt dieser Einwand aber deutlich und zurecht an Gewicht. Zeitungen bringen keine täglichen virtuellen Ergebnisse im Sinn von Fortschritt oder erreichten Meilensteinen, es sind tägliche reale Produkte, die geplant, umgesetzt, geprüft und verkauft werden müssen. Das ist unaufschiebbar, es gibt keine Pause-Taste. Es gibt nur eine Stopp-Taste. Die ist allerdings endgültig. Man kann nicht einfach einen Tag aussetzen und dann weitermachen. Nachrichten laufen weiter – so wie das Schaf gemolken werden muss oder wie der Gemüseacker gegossen werden muss.

Das ist ein Problem. 

Das Problem betrifft nicht nur Zeiteinteilung und Priorisierung – es liefert auch Beharrungsargumente. Eben weil jeden Tag ein neues Produkt geschaffen wird und weil es jeden Tag ein neues Ergebnis gibt, kann, so die Position, auf der beharrt wird, der Zustand nicht so schlecht sein. 

Das schafft Resilienz, die kaum noch von Renitenz abzugrenzen ist.

Eine andere Hürde ist die nicht zu verleugnende Abhängigkeit von äußeren Einflüssen und Ereignissen. Man kann mit dem Wetter umgehen – aber wenn Blüten abfrieren, wird es keine Ernte geben, wenn Wasser ausbleibt, wird nichts wachsen. Die Nachrichtenlage beeinflusst die Erfolgschancen für Zeitungen. Natürlich kann man vorplanen, Serien, Ratgeber, Analysen und Servicestorys vorbereiten. Deren begrenzter Erfolg zeigt aber nur ein anderes Problem: Reichweiten, die für kleinere Nachrichtenmedien eine erfreuliche Entwicklung darstellen, sind für größere Zeitungsverlage ein katastrophaler Einbruch. Spektakuläre Ereignisse können nicht geplant werden, aber sie erfordern eine gewisse Größe der Organisation, um sie abdecken zu können – und sie kannibalisieren einander (und die vorbereiteten Service- und Ratgeberstorys erst recht).

Oft bedeutet das: Die Nachrichtenorganisation schleppt viel Overhead mit, der an vielen Tagen überflüssig wirkt. Darauf zu verzichten wird aber schnell zum noch größeren Problem. 

Berater und Marketingspezialisten raten Zeitungen wohlmeinend, sich ihrer Stärken im Erklären und im Herstellen von Zusammenhängen zu besinnen. Zeitungen sollten einzigartige relevante Inhalte liefern, die sich von Social Network- und KI-Geschwätz abgrenzen. Daran ist nicht grundlegend etwas falsch. Es ist nur praktisch sehr schwierig, jeden Tag relevante Einzigartigkeit zu produzieren. Erklärungen, Hintergründe und Zusammenhänge zu irrelevanten Themen können sehr gut und sachlich korrekt umgesetzt sein – allerdings interessieren sie in der Regel kein relevantes Publikum.

Neue Methoden und Diversifizierung sind Wege, neue Zielgruppen anzusprechen und neue Märkte zu erschließen. Selbstvermarktung erhöht die Margen und senkt die Abhängigkeit von Zwischenhändlern; Produzent und Publikum finden direkt zueinander. Das klingt gut. Das bringt aber auch eine Vielfalt neuer Tätigkeiten mit sich, die zu Lasten anderer Aufgaben  gehen. Das Tempo der Diversifizierung sinkt mit der Intensität der Diversifizierungsmaßnahmen. Wer in Veränderung drin steckt, kommt nicht so leicht mehr raus, wer Trends perfektioniert absurft, verliert Substanz. Wer von Tiefkühlgemüse und Billigfleisch auf nachhaltigen biozertifizierten handgemachten Slowfood-Schafkäse umgestellt hat, kann trotzdem noch Probleme mit Veganismus oder Blauzungenkrankheit bekommen.

Medienunternehmen, die das Social Media-Spiel und damit vermeintlich ihre Präsenz bei begehrten jüngeren Zielgruppen optimiert haben, müssen sich die Frage stellen, wie sie ihre Präsenz auf fremden Kanälen gewinnbringend nützen. Umwegrentabilität über Bekanntheit ist für Newcomer relevant; wer schon einmal ein Abo verkauft hat, möchte darüber hinaus. Perfektionierte Plattformpräsenz hat stets Vice demonstriert – mit Erfolg. Vor zehn Jahren war die Frage, ob Google Vice kauft oder doch Vice Google. Vice-Beiträge performten überall, gestandene Medienmanager staunten, dass es so etwas wie Revenue Sharing bei Youtube gab. Der Plattform-Erfolg führte dazu, dass es schlicht nicht mehr notwendig war, eigene Vice-Plattformen aufzurufen. Im Mai 2023 war Vice insolvent. Die Regionalisierung in immer irrelevantere Lokalausgaben hat dieser Entwicklung noch den Rest gegeben.

Heute wird TheNewsMovement gefeiert – die Social Media-Reichweiten liegen allerdings hinter jenen der Oldschool-Zeitungs-Platzhirschen aus Medien-Zwergstaaten wie Österreich. Und der Movement-Gründer tauschte sein Startup gegen die Chefrolle des Tankers Washington Post.

Landwirtschaften erzielen oft auch auf Umwegen Einnahmen. Manchmal sind es nicht Produkte, die Geld bringen, sondern der Verzicht auf eben diese Produkte. Dann werden Landwirt für Landschaftspflege bezahlt oder für zu Zulassen von Wildnisstreifen.

Auch das kann eine valide Option für Medienunternehmen sein. Das Internet braucht Inhalte. Es ist nicht gut zu ihnen und in ständigen Wellenbewegungen sind mal die Inhalte, mal die Technik wichtiger. Und dank generativer KI erzeugt sich Technik ihre Inhalte selbst. Ist das Match also gelaufen? Nein. Wer schon mal einen der abgeschlossenen KI Bots wie Chat GPT bedient hat, die keine neuen Inhalte verarbeiten können, ist bald enttäuscht. Das zeigt: Auch KI muss ständig dazulernen. Und dazu braucht sie Material. Ist es ein realistisches Szenario, dass in absehbarer Zeit Tech-Unternehmen Lizenzen an Medien zahlen, um deren Inhalte verarbeiten zu dürfen? Dazu gibt es bereits erste Ansätze; Tech-Unternehmen zeigen sich, nach den Lizenzstreitigkeiten der vergangenen Jahre, Medienunternehmen gegenüber großzügig. Werden Medienunternehmen diese Großzügigkeit und damit möglicherweise einhergehende Abhängigkeiten überleben? Das ist offen. Die erste große Kooperationswelle, als Telekomunternehmen rund um das beginnende Jahrtausend begannen, Medieninhalte zu kaufen um sie neu zu bündeln und zu verpacken, war für Medien kurzfristig lukrativ, führte sie aber konsequent auf die schiefe Bahn, auf der sie sich heute befinden.

Man freut sich über jeden Keim. Es ist toll, wenn Pflanzen aufgehen, es ist toll, wenn Pläne aufgehen. Auch die in den Himmel rankende Bohnenpflanze hat sich einmal mit einem feuchten Wattebausch begnügt. Davon können umgekehrt Medienunternehmen lernen. Medien und Digitales – hier zählt alles oder nichts, der Sieger drängt den Rest in den Graben. Dabei liegen neue Chancen in den Details. Datengetriebene und effizienzorientierte Perspektiven müssen lernen, auf die feinen Unterschiede zu achten und die kleinen Entwicklungen schätzen zu lernen. Das ist eine der härtesten Lektionen für aufmerksamkeitsverwöhnte Medienmenschen. Und vielleicht eine, die man wirklich und besser vom Ponyhof lernt. – Oder dort, wo jeden Tag ein echtes handwerkliches Produkt, das auch jemand kaufen wollte, fertig werden musste. So wie eine Zeitung. 

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

Sonst noch neu

Onur Erdur, Schule des Südens

Biografische Wurzeln in Nordafrika als prägende Elemente postmoderner Theorie – und als Ausgangspunkt zu einer Verteidigung von Postmoderne und Dekonstruktion gegen mutwillige Missverständnisse und akrobatische Fehlinterpretationen.

Medienfinanzierung: Last Exit Non Profit

Non Profit-Journalismus entwickelt sich als neuer Sektor auch in Österreich, Stiftungen unterstützen in der Finanzierung. Hört man den Protagonisten zu, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass hier abgehobener, belehrender Journalismus gemacht wird, den man eben lieber macht, als ihn zu lesen.

Yuval Noah Harari, Nexus

Prinzip Wurstmaschine: Harari verarbeitet vieles in dem Bemühen, leichtfassliche und „originelle“ Einsichten zu formulieren und wirkt dabei fallweise wie ein geheimwissenschaftlicher Esoteriker. Auch bei Extrawurst weiß man nicht, was alles drin ist – aber das Ergebnis schmeckt vielen.

Philipp Blom, Die Unterwerfung

Eine Kulturgeschichte des Versuchs der Unterwerfung der Natur, die aber letztlich etwas allgemein und frei von neuen Gedanken bleibt.

Meine Bücher