William Macaskill: What we owe to the future

William Macaskill: What we owe to the future

Eine mögliche neue moralische Maxime: Wir sollten so handeln, dass spätere Generationen ein gutes Leben führen können. Das gilt nicht nur für Ökologie.

Longtermism hat viel Keulen- und Bullshit-Potenzial. Keulen-Potenzial, weil sich mit Verweis auf Diverses, das sich in Zukunft noch ereignen möge, vieles erschlagen lässt. Bullshit-Potenzial, weil auch einfache Kriterien wie Schlüssigkeit und Konsistenz, mit denen sich Argumente üblicherweise befestigen lassen, im Schatten von Millionen kommender Jahre, in denen sie vielleicht einmal relevant werden, zu zähem Brei zerfließen. 

Ich habe Schwierigkeiten mit William Macaskills „What we owe to the future“. Dabei sind seine zentralen Argumente durchaus eingängig. Wenn nicht grob etwas schiefgeht, werden in Zukunft noch unfassbar viel mehr Menschen auf unserem Planeten leben, als bisher gelebt haben. Das sollte verdeutlichen, dass die Zukunft wichtiger ist als unsere Vergangenheit, jedenfalls aber als unsere eigene Lebenszeit. Und weil unsere Handlungen Einfluss auf die Lebensqualität der unfassbar vielen Menschen haben, die noch leben werden, sind wir mit unseren Handlungen also für das Wohlergehen unfassbar vieler Menschen verantwortlich. Das gilt für jede Handlung und für sehr lange Zeit. 

Entwicklungen vollziehen sich nicht zwangsläufig und nicht von selbst. Macaskill wendet sich aber nicht gegen Formen von technologischem oder anderem Determinismus, er lässt nur kein Schicksal gelten. Das ist eine schwache Erklärung. Denn historische Entwicklungen nehmen ihren Lauf  und werden von diversen Abhängigkeiten und Entscheidungen beeinflusst – weshalb jede unserer Handlungen eben so wichtig sei. Das ist nun nicht von der Hand zu weisen, aber hilft das bei Entscheidungen? Selbst wenn wir klare Vorstellungen davon hätten, wie das Leben von Menschen in zehn, tausend oder einer Million Jahren besser wäre – wie können wir eine Linie von unseren Entscheidungen zu dieser Verbesserung ziehen? Und selbst wenn wie das für unsere Entscheidungen können, wie können wir das für die hunderttausenden Entscheidungen, die in dieser Sache noch getroffen werden, während wir dann gar nicht mehr da sind? Ist die einzige Sicherheit, eben alle folgenden Generationen auch zu Longtermisten zu erziehen? 

Macaskill skizziert unterschiedliche Frameworks, nach denen eigene Handlungen beurteilt werden können oder mit denen Kausalitäten und Verantwortungen nachgezogen werden können. Die Flughöhe ist dabei sehr hoch und man muss schon Freude an Visionen, Spekulationen und dem Gewicht der eigenen Rolle dabei haben, um darin Sinn oder Nutzen zu erkennen. 

Es verwundert nicht, dass Longtermism unterschiedliche Ausprägungen und Apologeten findet. 

Eine Richtung setzt auf Lehrbuch-Liberalismus und Kapitalismus und argumentiert im longtermistischen Framework etwa dagegen, Schwachen zu helfen oder Schwächen auszugleichen. Langfristig nämlich sei das gleiche Kapital bei Stärkeren besser angelegt. Die Unterstützung Starker trage also mehr dazu bei, in Summe das Wohlbefinden aller zu steigern. Ähnliche Argumentationen sollen sich etwa bei Peter Thiel und anderen Tech-Ideologen finden.

Aber auch Macaskills eigene praktische Konsequenzen sind schließlich Karriereberatung für wohlmeinende young professionals. Die Marke 80000hours bemüht sich um Sinn im Job. 80000 Stunden verbringt ein Mensch im Lauf seines Lebens mit seinem Brotjob. Das ist viel Zeit. Die sollte erstens möglichst mit Freude verbracht werden, zweitens sollte sie, im Sinn des Longtermisms, mit etwas Nützlichem verbracht werden. Beides zusammen, Freude und Relevanz, erhöht die Chancen auf gelingende Karrieren. Auch daran ist nichts falsch. Aber es ist auch ein eigenartiges Fundament für philosophische Argumentation über das Gute in der Welt. 

80000hours.org sammelt trotzdem sehr ausführliche und hilfreiche Analysen über wichtige Anliegen für die ganze Welt – und bietet damit Inspiration, wie auch der eigene Alltag im größeren Zusammenhang für das Gute gesehen werden kann. Dann sind dann doch wieder Punkte für den Longtermism, auch wenn Macaskills Überbau nach wie vor nicht überzeugend ist. 

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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