Onlinebuchhandel: Ein guter Zeitpunkt, sich von Amazon zu verabschieden

Amazon rückt Bücher nach hinten ins Regal. Der Onlinehändler, der mit dem Verkauf von Büchern groß geworden ist, will jetzt verstärkt Güter des täglichen Bedarfs verkaufen, um auf gestiegene Nachfrage in Corona-Zeiten zu reagieren. So weit so gut. 

Ich überlege, das zum Anlass für den endgültigen Ausstieg als Händler zu nehmen. 

  • Die Long Tail-Legende hat nie so recht funktioniert. Gerade so große Plattformen wie Amazon haben eine sehr starke Tendenz zu Blasenbildung und Entropie – man findet mehr vom Gleichen, und das nach Massentauglichkeit priorisiert.
  • Amazon brummt Kunden ordentliche Versandkosten auf – wohl um die eigenen Lager und den eigenen Versand zu subventionieren. Selbst bei Bestellung mehrerer Produkte können Kunden keine besseren Versandkonditionen geboten werden, wer 5 Bücher kauft, zahlt fünf Mal Porto. Das verärgert Kunden und verursacht Arbeit im Support; erst bei Accounts, die mit höheren Fixkosten verbunden sind, lässt sich das besser handhaben.
  • Mit Fulfillment by Amazon ließe sich das umgehen. Man schickt Ware ins Lager, Amazon verschickt an den Kunden. Seit Amazon sich nun an Umsatzsteuergesetze halten muss, müssen Händler aufwendige Steuerformulare ausfüllen, als österreichisches Unternehmen braucht man mindestens eine deutsche Steuernummer, um Ware in den Amazon-Lagern haben zu dürfen. Das führt zu absurden Situationen bei der Preisberechnung, etwa wenn Kunden aus Österreich bei der Bestellung eines österreichischen Produkts deutsche Umsatzsteuer verrechnet wird.
  • Damit ist Amazon auch nicht mehr wirklich international. Für die europäischen Märkte und den japanischen Markt müssen getrennte Angebote erstellt werden; für de amerikanischen Markt braucht es überhaupt einen eigenen Zugang.  Und damit ist die Angelegenheit auch ziemlich teuer und preislich intransparent. Auf Amazon.de , co.uk und anderen Märkten kassiert Amazon Provisionen, behält Umsätze ein und zahlt sie erst später aus. Auf Amazon.com kann man ohne fixe Grundgebühr gar nicht mehr verkaufen, dazu kommen noch umsatzabhängige Provisionen. Mit dem eigenen Onlineshop kann man weltweite Angebote und internationale Versandkosten mittlerweile viel besser steuern.

Amazon informiert Kunden falsch

Der einzige Grund, noch auf Amazon präsent zu sein, liegt in der systemimmanenten Fehlinformation, mit der Amazon seine Kunden in die Irre führt. Jedes Buch mit ISBN kann auf Amazon gefunden werden, egal, ob es dazu ein Angebot gibt oder nicht. Wenn kein Amazon-Händler das Buch in seinem Programm hat, heißt es bei Amazon: „Derzeit nicht lieferbar“. Dass das Buch überall anders, nur nicht bei Amazon, lieferbar ist wird geflissentlich ignoriert. 

Unabhängig davon, ob Amazon Bücher wieder besser positionieren wird und ob Amazon seine Steuerprobleme in de Griff bekommt: Jede Institution, die Daten an Amazon liefert oder zulässt, dass Amazon ihre Daten verwendet, sollte darauf bestehen, dass dieser irreführende Zusatz entfernt wird.  Für Österreich und Deutschland wäre das der Börsenverein des Deutschen Buchhandels als Betreiber des Verzeichnis lieferbarer Bücher. 

Das wäre auch ein Thema, das ich gern in der Buch- und Medienwirtschaftsfachgruppe der Wirtschaftskammer gezielter auf den Tisch bringen würde – wenn es mal wieder Ausschusssitzungen gibt. Die sind nämlich alle bis auf weiters abgesagt; einen Plan, wann die Ausschüsse wieder arbeiten sollen, gibt es offenbar nicht. 

Lieber gleich mit eigenem Onlineshop

Natürlich ist es gerade für kleine Verlage essenziell, Bücher online verkaufen zu können. Dazu braucht man Amazon nicht. Ein eigener Onlineshop für einen Verlag ist deutlich einfacher als ein Onlineshop für Buchhändler, aber beides kann innerhalb von zwei Tagen startklar sein  – und mit meiner Agentur helfe ich im übrigen gern dabei

Corona und “die Wirtschaft”: Wild entschlossen, aber planlos in der Praxis

Es ist ein Dämon aus der Zukunft, ein Wink des auf seine Chance lauernden Kommunismus, eine Folge eines zügellosen Kapitalismus, eine Chance, so vieles zu ändern – dem Coronavirus wird vieles nachgesagt

Viele erleben Ausnahmesituationen, gerade diejenigen, die vielleicht am wenigsten Ausnahme erleben, machen sich gerade deshalb, weil sie nichts tun können, weil nach dem ersten Schreck wenig reale Einschnitte vorhanden sind, um so mehr Gedanken über die Dramatik der Situation.  Unsicherheit ist da, das lässt sich nicht bestreiten. Und sie betrifft alle. Noch profitiert kaum jemand von dieser Krise. Den einen droht Arbeitslosigkeit, den anderen drohen Geschäftsrückgänge, nicht einmal Vermieter als Inbegriff des gierigen kapitalgetriebenen Bonzen können sich ihrer Sache sicher sein – denn wer soll noch zahlen, wenn niemand mehr (ungestört) arbeiten kann? 

Die Unsicherheit ruft Propheten auf den Plan. 

Sie sind jetzt schon überzeugt, dass „nachher“ nichts mehr so sein wird wie zuvor. Sie sehen jetzt Zeichen für das, das sie immer schon gewünscht oder gefürchtet haben – je nach persönlicher Disposition. Jene, deren Kerngeschäft professionelle Vagheit ist, produzieren nebulöse Fließbandprophezeiungen. 

Es ist ja auch eine ideale Zeit, um den legeren Umgang mit Widersprüchen zu pflegen: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern, wenn sich die Lage täglich mehrfach ändert? 

Die Krise offenbart Ratlosigkeit

PolitikerInnen reagieren mit demonstrativer Entschlossenheit. Das heißt: Sie werfen mit Milliardenbeträgen um sich. Dabei scheint niemand so recht zu wissen, wofür. Es ist unklar, was auf dem Spiel steht – gut, die Folgen in der Zukunft kann man schwer abschätzen. 

Man will Arbeitsplätze bewahren, man will in Zeiten fehlender Einnahmen Liquidität sichern, also stundet man Zahlungen, pumpt Geld in Kurzarbeitslösungen und sichert Hilfe in Härtefällen zu.  Für Selbstständige und kleine Unternehmen sind das schlechte Zeiten. Hier jongliert man nicht mit Krediten, die gestundet werden könnten, man hat auch keine Scharen von Angestellten, deren Kosten man auf andere abwälzen könnte. Kleinen Unternehmen und Selbstständigen gegenüber herrscht große Ratlosigkeit – offenbar hat niemand einen Plan, wo einzugreifen wäre. All die demonstrative Entschlossenheit kann die reale Ratlosigkeit nicht überdecken. 

Die aktuellen Notfallspläne offenbaren vor allem, dass kleine Unternehmen für Bettler und Almosenempfänger gehalten werden: Bei einem Umsatzrückgang von 50-75 Prozent sind Mietzuschüsse von ein paar hundert Euro vorgesehen, bei Umsatzrückgängen von mehr als 75 Prozent gibt es direkte Zuschüsse von bis zu 1000 Euro. 

Wenn diese 1000 Euro 75 Prozent des Umsatzes ersetzen sollen, geht man also von Monatsumsätzen in der Höhe von 1300 Euro für kleine Unternehmen aus – davon kann man in normalen Zeiten nicht einmal die Sozialversicherung bezahlen. 

Überdies wird der Nachweis des Umsatzrückgangs im Vergleich einzelner Monate mit den Vorjahresmonaten verlangt. Das ist vielleicht für Cafés, Boutiquen und ähnliche Unternehmen möglich. Die Kreativwirtschaft und alle anderen projektbezogen arbeitenden Branchen, in denen sich Einnahmen unregelmäßig über sehr lange Zeiträume verteilen, schauen dabei durch die Finger. Gerade jene Branchen werden Einschnitte auch erst später, dafür aber länger spüren: Jetzt liegen Projekte auf Eis. In ein paar Monaten werden Kunden wieder arbeiten, neue Prioritäten setzen und über Projekte nachdenken. Bis Entscheidungen getroffen werden, Budgets neu zugeteilt sind und Aufträge vergeben werden, wird es Herbst sein. Bis die Projekte dann auch bezahlt sind, wird es Frühjahr 2021 sein. 

Es mutet auch seltsam an, welche anderen Maßnahmen als Zeichen politischer Entscheidungskraft verkauft werden. So sollen UnternehmerInnen Beiträge zur Sozialversicherung und Einkommensteuervorauszahlungen herabsetzen lassen. Das ist immer möglich, dazu braucht es keine Virus-Krise. Alle, deren Einkommen sich verändert, können ihre Zahlungen anpassen lassen. Und gerade für Branchen mit stark wechselndem Einkommen ist diese Anpassung essenziell – sie wird allerdings oft auch zur Schuldenfalle. Es dauert lang, bis neue Bescheide ausgestellt sind, Fälligkeiten sind oft nicht klar kommuniziert und Betroffene müssen sich dann selber ausrechnen, wann welche Zahlungen anfallen werden. Bei der Einkommensteuer ist das noch etwas transparenter; Vorschreibungen zur Sozialversicherung dagegen werden sehr verwirrend. 

Grotesk ist auch, dass Politik und Wirtschaftskammer das mögliche Aussetzen von Mietzahlungen als Erfolg feiern. Auch dazu braucht es keine Virus-Krise, für unbenutzbare Mietobjekte muss keine Miete gezahlt werden – das steht so im Gesetz. Dazu kommt, dass ausgesetzte Mietzahlungen das wirtschaftliche Problem ja nur verschieben, aber nicht lösen. Mieterinnen nützt das, VermieterInnen schadet es – und auch diese sind auf Umsätze angewiesen, um Gehälter zahlen und Mitarbeiterinnen behalten zu können. 

Niemand weiß, wie Kleinunternehmen funktionieren

Wenn sich etwas offenbart, dann ist es kein Blick in die Zukunft, es ist nicht die Notwendigkeit neuer Visionen, Gesellschaftsentwürfe oder Wirtschaftskonzepte. Es ist eine generelle Ratlosigkeit. 

Es ist Verständnislosigkeit gegenüber dem, was ist.  Wirtschaftspolitik und ökonomische Theorie waren zuletzt großteils eher sportliche Betätigungsfelder. Man bewies damit humoristischen Anspruch, zeigte ein wenig Bildung und ordnete sich großflächig in irgendwelche Schulen ein. Keynes, sagen sie einen, Hayek die anderen. Die Idee, dass Konzepte aus einer konkreten Zeit auch in diese Zeit passen, andere Zeiten aber andere Konzepte brauchen, war selten mehrheitsfähig. Das ist eine der Schwächen von Ökonomen: Ökonomische Theorien wollen erklären, von der Erklärung ist es dann nicht weit zur Prognose – und das verleiht manchen offenbar Selbst- und Sendebewusstsein, das sich dann spielend über Tatsachen hinwegsetzt. Man hat ja eine Meinung. 

Die Idee, dass Prognosen auf Modellen beruhen, die idealisierte Vereinfachungen sind und deshalb Szenarien entwerfen und zum Nachdenken anregen können, aber keine Gewissheit liefern, ist dem gegenüber viel zu unsexy und bescheiden. Es sei denn, sie dient dazu, das eigene Business as usual fortzusetzen. 

Kurz gesagt: Man kann es ja kaum jemandem übelnehmen, heute nicht genau zu wissen, was man ökonomisch betrachtet tun soll. Für diese Unsicherheit aber 4, 38 oder unbegrenzt viele Milliarden Euro heranzuziehen, für die man auch nicht haftet, ist ein spannendes Experiment. 

Ich habe ja auch keine Lösungen. Aber ich wage ein paar Feststellungen. 

  • Kleine Unternehmen und Ein-Personen-Unternehmen werden bei den Hilfsaktionen weitgehend leer ausgehen. Das liegt zum Teil daran, dass die bis jetzt vorgestellten Maßnahmen zu unkonkret sind, um Orientierung zu geben, und zugleich zu spezifisch, um vielen zu helfen. Zum größeren Teil wird es aber daran liegen, dass sie es sich nicht leisten können, auf Hilfe zu warten. Sie müssen sich etwas anderes überlegen, sich neu orientieren – das tun, womit sie sich immer schon über Wasser gehalten haben. Wahrscheinlich werden viele nicht einmal sofort das Handtuch werfen – es kann zwei oder drei Jahre dauern, bis sich herausstellt, ob der neu eingeschlagene Weg Sinn macht oder nicht. 
  • Eine logische Konsequenz für Selbstständige muss es sein, die eigenen Stundensätze deutlich zu erhöhen, bei Kalkulationen knausriger zu werden und größere Margen anzustreben. Viele kalkulieren unscharf, wollen den Job, und nehmen viele zusätzliche Aufwände, Planänderungen und Richtungsschwankungen im Projekt unbezahlt auf sich, weil es nicht wirtschaftlich wäre, um die Mehraufwände zu streiten. Der Streit kostet mehr Zeit als der Mehraufwand bringt – man stiege dann wieder bei Null aus. In diesen Wochen wird deutlich, dass das Risiko ausschließlich beim Einzelnen hängt – und dass man es verrechnen muss. 
  • Unterschiedliche Selbstbilder von Selbstständigen werden noch unterschiedlicher werden. Manche – vor allem in der Kreativbranche – sehen sich als ewig unterbezahlte, sich selbst ausbeutende Abhängige, die schlecht behandelt werden. Andere sehen sich als Generalunternehmer, die auch Aufträge und Geld verteilen und die, wenn sie schon arbeiten, dann lieber Projekte machen, die auch Geld bringen. Die einen wollen Absicherung, die anderen wollen Spielraum. Die einen sähen ein Grundeinkommen als Freiheit, sich mit eigenen Themen zu beschäftigen, die anderen sähen es eher als bürokratischen Aufwand, der Steuer und Buchhaltung komplizierter macht. Beide brauchen Planungs- und Entscheidungssicherheit – die fällt jetzt für einige Zeit weg. – Manche werden dann noch mehr Hilfe wollen, andere werden zu dem Schluss kommen, dass man sich eben auf andere nicht verlassen kann. So können alle ihre eigenen Vorstellungen bestätigt sehen. 
  • Kleine Unternehmen und Ein-Personen-Unternehmen haben noch einen langen Weg vor sich, um zeitgemäße Interessen schlagkräftig und öffentlichkeitswirksam formulieren zu können. Sie sehen sich nicht als Arbeitsplatzmaschinen, sie sind nicht auf plakative StartUp-Rallyes aus, sie knüpfen manchmal, aber nicht notwendig an Megatrends wie Nachhaltigkeit an. Sie sind einfach ein Weg, in einer sehr dynamischen Umwelt geschäftlich zu überleben; sie sind oft das Vehikel für jene, die ihr Ding machen wollen – ohne an einer großen Organisation andocken zu müssen, ohne den Ballast großen Wachtstumszwangs oder noch komplizierterer bürokratischer Auflagen mitzuschleppen, ohne anderen Versprechungen zu machen oder andere abhängig machen zu wollen. – Das ist kein Zwischenstadium, das ist eine legitime Organisations- und Arbeitsform. Unternehmerisch orientierte Lobbys sehen dagegen im Ein-Personen-Unternehmer oft eine untere Entwicklungsstufe, die es auf dem Weg zu Wachstum und Angestellten zu überwinden gilt, sozialistisch orientierte Lobbys betrachten Selbstständige als eine Art Straßenköter, die man zu ihrem eigenen Schutz sterilisieren und ins Heim stecken sollte. Beides ist unangemessen. 
  • Die Ratlosigkeit darüber, wie Selbstständigen nun am ehesten zu helfen sei, wäre ein guter Anlass, sich mit einigen großen Problemfeldern zu beschäftigen, die ihnen das Leben schwer machen. Um nur ein paar Beispiele herauszugreifen: Für die am unteren Einkommensrand sind es Mindest- und Mehrfachversicherungen, die große Hürden darstellen. Das erschwert auch den Übergang zwischen (Teilzeit-)Anstellungen und beginnender Selbstständigkeit. Die mit besseren Einkommen dagegen können kaum Rücklagen bilden. Jeder Gewinn ist sofort zu versteuern, Rücklagen für Forschungs- und Entwicklungsphasen oder einfach für ein Sabbatical können kaum gebildet werden. Internationale Umsatzsteuerregelungen schränken ebenfalls den Bewegungsspielraum von Kleinen ein: Wer auf Messen im Ausland verkaufen möchte, braucht eine Umsatzsteuernummer eben dort und muss Ausfuhrlieferungen an sich selbst verbuchen. Onlineriesen wie Amazon laden zwar auch Kleine auf ihre Plattformen ein, wälzen aber ebenfalls das Risiko korrekter Umsatzsteuern auf sie an. Das betrifft nicht nur Ein-Personen-Unternehmer – aber diese haben keine Buchhaltungs- und Rechtsabteilungen, die sie da durchführen. Freibeträge, die die Größenverhältnisse widerspiegeln, wären ein erster Ansatz. – Das klingt vielleicht nach weit hergeholten sehr groß angelegten Änderungen. Realwirtschaftliches Verständnis lässt sich aber auch im Kleinen und im Umgang miteinander erkennen: Zahlungsziele von 90 Tagen (die dann ohnehin nicht eingehalten werden), völlig fehlendes Verständnis für Mehrkosten durch exzessive Korrektur- und Änderungsrunden, lange zögerliche Entscheidungswege und mangelnde Verlässlichkeit bei Zeitplänen sind dann auch nur einige Beispiele, wie kleine Angestellte großer Unternehmen Selbstständigen im Alltag das Leben schwer machen. – Und diese Beispiele, damit sich der Kreis wieder schließt, zeigen auch, warum die aktuell geplanten Unterstützungsprogramme an vielen Selbstständigen vorbeigehen werden. Ihre Verluste werden später eintreten und langer anhalten, und sie werden nicht im Monatsvergleich messbar sein. 

Man braucht keine spektakulären Visionen, um Entscheidungen in Wirtschafts- und Sozialpolitik zu treffen. Ein wenig mehr Bereitschaft, sich mit dem auseinanderzusetzen, was ist, würde fürs erste – und auch für länger – ausreichen. 

Die Edda des Snorri Sturluson

Ein Lesegenuss ist es ehrlich gesagt nicht gerade. Frühe Prosa ist nun mal sehr prosaisch, da werden Schicksale ganzer Generationen mit viel Blut in zwei knappen Sätzen besiegelt. Sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was nun wichtig und erwähnenswert sei, machen die Storys etwas schwer zugänglich.  Das gilt auch für die Edda des Snorri Sturluson, eine Neu-, Kurz- und Prosafassung einiger Edda-Lieder.

Diese Fassung hat zudem gar nicht den Anspruch, Geschichten zu erzählen, sie ist vielmehr ein Poetik-Lehrbuch, das poetische Synonyme erklärt. Die wiederum sind dann allerdings storybasiert; mit Logik kommt man bei ihrer Entschlüsselung nicht weit. – „Granis Last“ etwa ist ein Synonym für Gold, weil Grani Sigurds Pferd war (der aus dem Nibelungenlied), auf das er den Schatz des Drachen Fafnir packte, nachdem er ihn erschlagen hatte.

Das spannendste am Buch ist der Prolog. Der Text entstand im 13. Jahrhundert – und auch damals herrschte offenbar der Drang, die eigene kleine Welt mit den großen Megatrends dort draußen zu verbinden. So schlägt Sturluson ganz salopp und kühn in wenigen Absätzen eine Brücke von Island nach Troja. Thor wird so zu einem Türken, vielleicht sogar zu einem alternativen Namen für Hektor, die  Edda wird zu einem Spin Off von Ilias und Odyssee – und wer das nicht glaubt, der möge mal darüber nachdenken, ob es denn Zufall sein kann, das Asen (also der Sammelname für die nordische Göttergang) so ähnlich klingt wie Asiaten.

Diese Anschauung dürfte sich in der Literaturgeschichte aber nicht ganz durchgesetzt haben.

Martin Schürz, Überreichtum

Es klingt aufregend: In „Überreichtum“ verspricht Martin Schürz, zu erklären, was das Problem an Überreichtum ist und wie er die Demokratie bedroht. Zunächst liegt das ja auch auf der Hand: Überreichtum verhilft Leuten wie Trump zu Präsidentenämtern. Allerdings gewann Trump eine demokratische Wahl – und das mit kleinerem Budget als Hillary Clinton. – So konkret möchte Schürz aber offenbar auch nicht werden, die Bedrohungsszenarien bleiben unspezifisch. Reiche haben Macht oder Zugang zu Macht. Das ist so, und das kann abhängig von ihren und unseren Absichten gut oder schlecht sein. 

Schürz hat einige gute Vergleiche bei der Hand, um Vermögensunterschiede greifbar zu machen. Das Medianvermögen in Österreich liegt bei 83.000 €, die Mediankörpergröße bei 1,71 Meter. Im 90. Perzentil der Vermögen wäre man dann etwa zehn Meter hoch, im 99. so hoch wie der Donauturm (252 Meter). Um es in die Forbes-Reichenliste zu schaffen, müsste man etwa 2000 Meter groß sein, die Spitze wäre erst bei einer Körpergröße von 800 Kilometern erreicht. Das ist knapp das Hundertfache des Mount Everest. 

Das ist eine ordentliche Schieflage, die jedenfalls auch bedrohlich wirken kann. Es gibt auch nichts, was ein Mensch mit diesem Geld anfangen könnte – es reicht, auch ohne sich zu vermehren, für mehr Generationen, als man planen könnte. Dabei kann allerdings schon etwas dazwischen kommen – und damit beginnen auch schon die Schwächen in Schürz‘ Argumentation. Nicht jeder Reichtum ist flüssig, sodass man einzelne Teile herausnehmen und nützen könnte. Oft sind es Unternehmensbeteiligungen, oft aber auch Luxusgegenstände – die nur solange einen Wert haben, solange sie jemand zahlen kann. Bei einer Obergrenze von 30 oder 50 Millionen Euro für privates Vermögen, die Schürz mehrmals anspricht, wären wohl einige Luxusobjekte auch für die dann Reichsten plötzlich zu teuer – und damit weniger wert. Wer will schon ein abgelegenes Chalet in den Bergen oder eine Hütte auf der einsamen Insel, wenn man sich nicht den Helikopter oder die Yacht dazu leisten kann, um auch schnell hin und wieder weg zu kommen, von passenden Sommer- und Winterdomizilen für mehr als ein Wochenende gar nicht zu reden? 

Das bedeutet nicht, das Superreiche nicht superreich sind, aber ihre Mobilisierungskraft ist vielleicht nicht ganz so gigantisch … 

Aber so konkret möchte Schürz gar nicht werden. 

Ihn interessiert die moralische Frage mehr. Reichtum ist ungerecht. – Auch dabei kann ich allerdings nicht ganz mit. Gerade der Superreichtum der Superreichen ist durch Konsum enstanden. Sie sind reich geworden, weil sie etwas kontrollieren, das andere haben wollen. Und das sind nicht mal überlebenswichtige Dinge. Niemand muss bei Amazon einkaufen, niemand muss Apple-Geräte verwenden, man muss nicht einmal Microsoft-Software nutzen oder Red Bull trinken. Für alles gibt es Alternativen. Die Superreichen von heute sind keine Großgrundbesitzer aus alten Adelsgeschlechtern, die ihr Vermögen Leibeigenen abgepresst haben. Ihr Reichtum ruht auf dem Konsum der Armen.

Natürlich ist auch nicht alles allein auf ihre Leistung zurückzuführen. Sie nutzen Infrastruktur, die andere über ihre Steuern mitfinanziert haben, profitieren von staatlich finanzierter Bildung und Forschung – das sind allgemeine Güter, die allen zur Verfügung stehen. 

Ist es nicht recht egal, ob Reichtum gerecht ist? Ist es nicht wichtiger, allen Menschen die gleichen Chancen einzuräumen? Das findet Schürz offenbar nicht, Chancen- und bedarfsorientierte Gerechtigkeitskonzepte sind für ihn „ideologisch und wirklichkeitsfremd“. Deshalb steht er auch der Betonung von Bildung als wichtige Lebensvorausetzung skeptisch gegenüber. Für ihn ist das ein Ablenkungsmanöver, Bildung wäre also sinngemäß Opium für das Volk. Wer Bildung als wichtig darstellt, trägt dazu bei, die Schürz‘ Meinung nach falsche Ansicht zu verbreiten, jeder könnte „es“ schaffen. 

Wer „es“ nicht schafft, sei dann eben faul oder müsse mit anderen negativen Zuschreibungen werden. 

Das ist eine andere Argumentationslinie, die sich durch Schürz’ Buch zieht: Die Welt sei auf Reiche ausgerichtet; Reiche beachte man und man schreibe ihnen positive Eigenschaften zu. Arme dagegen seien ein Mangel, etwas, das es zu beseitigen gilt und mit negativen Eigenschaften verbunden. Jetzt wirft das natürlich auch die Frage auf, welche Armen denn gern arm sind und welche Reichen ungern reich; noch auffälliger ist aber, dass Schürz lauter Beispiele aus doch schon recht lange vergangener Zeit anführt. Bemitleidete und verteufelte Arme in viktorianischen Arbeitshäusern haben wir schon etwas länger hinter uns gelassen, ebenso wie für Fleiß und Arbeitsethos bewunderte Reiche. Nicht einmal mehr die Geschichte von der Hindernisse überwindenden Selfmade-Person ist noch besonders spannend – heute bewundert man Erfolgreiche ja eher dafür, dass sie mit möglichst wenig Aufwand durchs Leben kommen und ausreichend Zeit finden, ihren Instagram-Account zu kuratieren (Rich Kids of the Internet lässt Schürz im übrigen aus). 

Schürz’ Anklage ist ähnlich wie viele misslungene Versuche, linke Positionen zu argumentieren: Die Sozialdemokratie hat ihre unverzichtbaren Verdienste. Aber ihre Erzählungen finden heute einfach keinen Halt mehr. Ihre Subjekte sind ihr abhanden gekommen, ihre eigenen Profiteure außerhalb der Parteien interessieren sich nicht mehr für sie. 

Martin Schürz setzt zu einer großen Erzählung an – und liefert dann wenig. Reichtum kann Unbehagen verursachen, Charity, Spenden und Philanthropie sind auch Machtinstrumente – geschenkt. Absurde Vermögenskonzentrationen stehen Nullzinsen und stagnierenden Gehältern gegenüber – Aber was wäre wirklich gewonnen, würde man das ändern? Weniger reiche Menschen hätten nach einer Umverteilung etwas mehr Geld – aber auch nicht ausreichend, um ihr Leben von Grund auf zu ändern.  Schürz’ Vorstellung von Gerechtigkeit ist eine anspruchsorientierte. Gerecht behandelt fühlt sich, wer den Eindruck hat, seine oder ihre Ansprüche wurden erfüllt; er oder sie hat, was ihm oder ihr zusteht. Vor diesem Hintergrund können sich alle immer ungerecht behandelt fühlen – auch Superreiche (wie auch Schürz einräumt). Das ist eine sehr unpraktikable Vorstellung. 

Schade an Schürz’ Buch ist weniger, dass es keine Lösung entwirft, sondern dass es auch das Problem nicht auf den Punkt zu bringen vermag. Da sind Pikettys radikale Steuersätze noch sinnvoller.

Zygmunt Bauman, Wieder allein

Was für ein schöner Titel für ein Buch über Ethik: Wieder allein. Niemand sagt dir, was du tun sollst, niemand zieht dich zur Rechenschaft, Feindbilder sind zu Staub zerfallen. Möglichkeiten stehen im Raum. 

Zygmunt Baumans kurzer Text wurde 1994 geschrieben. Der Fall des Eisernen Vorhangs war Vergangenheit, das Internet war in der Öffentlichkeit noch der Datenhighway und seine Macht eine ferne Ahnung am Horizont.

Institutionen und Gemeinschaften, die Rahmen, Normen und Horizonte vorgegeben haben, sind damals noch ein Stück weiter und schneller zerbröckelt als in den Jahrzehnten davor. Bauman, als Denker des Unbehagens, steht vor der Frage, wie sich Werte, aber auch wie sich Argumente in diesem Umfeld eigentlich noch begründen lassen. Dabei landet er schließlich bei Hans Jonas. Es wundert mich schon länger, dass Jonas noch nicht zur großen Leitfigur diverser Klimabewegungen wurde. Schließlich war er es, der die Bedingungen für den Fortbestand des Lebens auf der Erde zum Leitprinzip des Handelns machte – aber dorthin kam er aus einer anderen Richtung. 

Auch Bauman nähert sich Jonas’ Prinzip Verantwortung auf Umwegen. An erster Stelle steht Jonas’ Gedanke, wir hätten jetzt, nachdem Institutionen, Gemeinschaften, Religionen, Diktaturen und Traditionen einen großen Teil ihrer Macht aufgeben mussten, vor der Freiheit, eigene Normen zu entwickeln. Allerdings hätten wir diese Freiheit um einen teuren Preis erlangt: Nämlich um den Preis, jetzt keine stabile Grundlage mehr zu haben, auf der sich neue Normen unstrittig argumentieren ließen oder aus der sie für Mehrheiten einleuchtend problemlos abgeleitet werden könnten.  Auf der Suche nach neuer Orientierung, zu einer Zeit, als auch der Begriff des Anthropozäns noch nicht geprägt war, landet Bauman schließlich bei Jonas’ Prinzip Verantwortung. Der selbst sagte damals noch, es sei eine Behauptung, ein Gefühl, dass sich noch nicht ganz klar logisch argumentieren lasse: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Ein Spruch, der eigentlich allen KlimaaktivistInnen und nach dem Zeitgeist suchenden Marketing- oder Parteimanagerinnen auf der Zunge zergehen müsste. Natürlich, was denn sonst. 

Jonas setzte alles Leben als wertvoll voraus, manche sehen in seinen Schriften auch die Theorie einer Pflicht der Menschheit zum Leben – das macht ihn fallweise etwas umstritten. Bauman legt seine Schwerpunkte anders. 1994 herrschte noch nicht die aktuelle Alarmstimmung in Fragen der Ökologie. Auch andere Themen waren noch nicht von Alarmismus dominiert; es war noch nicht ausgeschlossen, einen zweiten Gedanken zu investieren, nachdenklich zu sein. Bauman beobachtet vor allem das Entstehen neuer Gemeinschaftsangebote, die Menschen einladen, die ihnen – 1994 – Identitätsangebote machen und damit Ersatz für Normen und Regeln schaffen. Bauman beobachtet das kritisch. Für ihn sind die neuen Gemeinschaften Machtinstrumente jener, die sie steuern, er sieht sie als Entmündigungsmaschinen. In Anlehnung an Albert Hirschmans Exit, Voice and Loyalty sieht er für unzufriedene oder nachdenkliche Menschen, oder auch für solche, die schlicht Fragen haben, nur zwei Möglichkeiten: Die Stimme zu erheben oder den Ausgang zu suchen. Die neuen Gemeinschaften und Institutionen, die sich Menschen andienen, seien vorrangig darauf ausgelegt, ihnen den Abgang zu empfehlen. Sie dürfen nicken, zur Kenntnis nehmen und „unterstützen“ (wie es heute in Form von Social Media-Likes und Newsletter-Abos passiert), dann dürfen sie abtreten. Sie werden repräsentiert, man beruft sich auf sie, man vertritt sie. Dabei sollen sie aber nicht mehr mitreden; die sollen das schöne Bild nicht stören (davon erzählt auch Darren McGarvey in “Poverty Safari”). 

Bauman schlägt keine Lösung vor. Er kommt lediglich auf den Punkt zurück, dass wir in unseren Entscheidungen nun wieder allein sind. Je nach Sichtweise bedeutet das unterschiedliches. Für manche bedingt das vielleicht die dringende Suche nach Gemeinschaft, manche suchen dort Solidarität, andere Autorität. Für andere heißt es schlicht: Du musst es selbst machen. Und du kannst nicht immer ausweichen. 

Allein sein ist nichts schlechtes, Verantwortung übernehmen ebenso wenig. Bauman schrieb diesen Essay, als Populismus noch nicht der Gottseibeiuns von Politik und Medien war. Seine Analyse könnte allerdings das treffendste Gegenmittel sein.

Laura Wiesböck, In besserer Gesellschaft

LauraWiesboeckInbessererGesellschaft

Ich hatte mein Problem mit diesem Buch. Ein griffiger Titel, eine neugierig machende These – und das wars dann auch schon. Ich weiß, dass „Selbstgerechtheit“ ein zeitgenössischer Universalvorwurf ist, der sich sehr vielen machen lässt und eigentlich immer passt. Es gibt schließlich kein Entkommen – auch Selbstkritik ist selbstgerecht, schließlich wird sie vorrangig von Privilegierten geübt; außerdem dient sie auch der Distinktion.

Wiesböck beschreibt viele Szenarien, reißt viele Perspektiven und Themen an – und immer dann, wenn man auf die Analyse, die Essenz, den eigentlichen Gedanken wartet, ist das Kapitel auch schon wieder aus.

Ich konnte keinen roten Faden, keinen eigentlichen Gedanken finden, keinen Ansatz, der die im Buch beschriebenen Szenarien produktiv oder intellektuell nutzbar machen würde. Vielleicht war das auch der falsche Zugang zum Buch. Mir fehlt jedenfalls viel. Ein wenig kommt mir auch die hier beschriebene Fragestellung wieder in den Sinn: Was muss alles gesagt werden, was dürfen wir als bekannt und anerkannt voraussetzen, und was gilt nur dann, wenn wir es selbst gesagt haben? Wie weit müssen wir uns von einer anderen, einer alten, einer abgelehnten Welt abgrenzen, indem wir deren Geschichten und Theorien mit eigenen Worten wiederholen – auf die Gefahr hin, dann keine Zeit und keine Energie mehr für unseren eigenen, eigentlichen Punkt zu haben?

Ein Punkt, den man herauslesen kann: Für die Autorin wird Abgrenzung oft zu Abwertung. Die Enttarnung dieser Abwertung geschieht dann oft ebenfalls abwertend oder tendenziös. Das halte ich für problematisch und kontraproduktiv: Die Vorstellung von Abwertung als Abgrenzung funktioniert nur dann wirklich, wenn wir Normen und Ideale in den Raum stellen, die für alle gelten sollen. Abgrenzung ist aber oft etwas sehr persönliches: Manche Menschen fühlen sich in Gesellschaft nicht wohl, andere wollen sich lieber mit Modelleisenbahnen oder Fantasy-Rollenspielen, seltenen Comic-Ausgaben oder einer bestimmten Periode der Philosophiegeschichte beschäftigen, als von anderen, die sie nicht kennen, die ihnen nichts bedeuten, vor denen sie sich vielleicht ein wenig fürchten, toll gefunden zu werden. Darin steckt kein Werturteil, das ist in erster Linie eine persönliche Entscheidung. Eine persönliche Wahl sollte auch nicht als kritisierbares Werturteil über andere gesehen werden, wenn sich dieses Urteil nicht auch an konkreten Handlungen und Aussagen erkennen lässt.

Eine meiner bescheidenen Meinung nach spannende Fragestellung wäre es, die von Wiesböck beschriebenen Szenarien daraufhin zu analysieren, was sie konkret und aktiv über andere aussagen. Ein Beispiel: Wiesböck sieht in einer von Erfüllung, Selbstverwirklichung und „Do what you love“ geprägten Arbeitswelt die Abwertung des Brotjobs. Möglicherweise handelt es sich aber auch eher um die Abwertung des Individuums, das sich nicht mehr genügt, das Sorge hat, anderen nicht zu genügen, und deshalb auch vermehrt symbolisches Kapital ansammeln muss.

Vermutlich ist das eine Frage der Perspektive. Manche Menschen beginnen mit jeder Form der Kritik bei sich selbst. Andere richten Kritik immer zuerst an andere. Und wieder andere verstehen alle möglichen Reaktionen von anderen zuerst mal als Kritik an sich selbst, auch wenn sie weder angesprochen noch gemeint waren. – Dazwischen tun sich Abgründe auf, die zu überwinden es einer neuen Gesprächsgrundlage bedürfte, die genau diesen Fallen ausweichen kann.

Das klingt reichlich kompliziert. Die Kurzfassung: Ich weiß auch nach 200 Seiten nicht, welches Problem Wiesböck in ihrem Buch thematisiert. Das hat mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu tun, dass ich eine grundlegend andere Auffassung von Problem habe.

Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe

Slavoj  Žižek hat in letzter Zeit wohl eher nicht Simone de Beauvoir gelesen. Sonst wäre ihm erinnerlich gewesen, welche große Rolle Sex und Sinnlichkeit schon in den frühen Zeiten des Feminismus gespielt haben. Eigentlich hätte er nur die letzten Seiten durchblättern müssen, um einer Peinlichkeit wie dem Rant über die Entmystifizierung der Vulva durch Feminismus entgehen zu können. Auf diesen letzten Seiten fasst Simone de Beauvoir nach über tausend Seiten noch einmal zusammen, was Freiheit bedeutet, wie sie sich von Gleichheit unterscheidet und wie entscheidend dabei die Spielräume der handelnden sind. Die freieste und tatkräftigste Frau kann das faszinierende und verlockende Wesen sein, den Mythen gerecht werden und die Träume erfüllen, die mancher Mann hegt. Wenn sie es will. Und wenn sie es für ihn will. Und wenn sie es gerade jetzt will. – Damit ist auch noch nichts darüber gesagt, ob sie das soll, und schon gar nicht, ob sie das für alle soll.

Beauvoirs „Le deuxième sexe“ ist eines von der Art Bücher, die man heute kaum noch machen kann. Eine gelehrte, gebildete Frau nimmt sich ein Thema vor und bearbeitet es auf über tausend Seiten aus verschiedensten Perspektiven und in einem Zeithorizont, der praktisch die gesamte nachvollziehbare Menschheitsgeschichte einschließt. Es ist ein im besten Sinne ausschweifendes Buch, es ist interdisziplinär, vermutlich bevor es das Wort gab.  Das Buch spürt Ausschließungsmechanismen nach, die erklären, wie durch die Erzählung aus einer anderen Perspektive ein fremdes Bild entsteht. Das Bild der Frau ist eine männliche Vorstellung – dem spürt Beauvoir aus kultureller, historischer, wirtschaftlicher, psychologischer und soziologischer Perspektive nach.  Dabei geht sie fallweise auch hart mit Frauen ins Gericht: Autorinnen etwa spricht sie die ihres Erachtens notwendige Verachtung, Erfahrung, der schwarzen Humor ab, der für große Literatur notwendig sei (ok, das Buch erschien 1948, lange vor Sibylle Berg oder Elfriede Jelinek), Frauen hätten bisher ihr Potenzial verschwendet.

Befreiungsbestreben sieht Beauvoir als Energieverschwendung, Ablenkung und Beschäftigungstherapie, sofern sich diese auf das Erlangen von Gleichheit richten oder solange sie in Beziehung zu Männern und Herrschaft stehen.  Anstelle von Befreiung oder gar Gleichheit sollte Freiheit treten, und die muss mit Selbstverständlichkeit einhergehen: Die Abgrenzungen gegenüber Männern, die Gegenüberstellung von „freien“ und verheirateten Frauen, von Hausfrauen und arbeitenden Frauen – all das suggeriert noch immer Erklärungsbedarf, als müsste eine Frau rechtfertigen, warum sie nicht einem Bild entspricht, dass sie nicht selbst gezeichnet hat und das sie nicht für sich reklamiert hat. (Heute kann man das überdies in vielfacher Hinsicht auch auf Männer anwenden.)  Das einzig Misstrauen erweckende Moment ist Beauvoirs Begeisterung für kommunistische Gesellschaftsvisionen, in deren Lippenbekenntnissen sie wohl tatsächlich die Chance für eine formelle Freiheit der Frau sah. Dazu gibt es eine kurze, aber sehr klare Passage im Buch. In den 70er Jahren hat sich Beauvoir dann von kommunistischen Visionen abgewendet.

Beauvoir spricht viele Themen an, die in den folgenden Jahrzehnten weitgehend in der Versenkung verschwunden sind. So stellt sie beispielsweise fest, dass die Öffentlichkeit oft für Frauen feindliches Gebiet ist, egal ob die dunkle Straße, der bürgerliche Salon oder das Büro. Sie thematisiert Erotik und Passivität, unterschiedliche Erwartungen in der Partnerschaft und die absurde Belastung, der sich Männer aussetzen, die ihrer Ehefrau alles nehmen und daher alles für sie sein müssen. Es macht keinen Sinn, das Buch nachzuerzählen. Lest es; so sperrig es auf den ersten Blich wirkt, so lesenswert ist es. 

Eigentlich sollte „Le deuxième sexe“ Pflichtlektüre vor jeder erstmaligen Eheschließung sein, zumindest für Unter-35jährige. 

Hannah Arendt, Über das Böse

Moralphilosophie hat zwei recht unterschiedliche große Fragestellungen: Was ist das Richtige, Gute und Angemessene? – Das ist der eine große Fragenkomplex. Wen betrifft das und warum soll man sich daran halten? – Das ist die andere Gruppe von Fragen. In beiden schwingt dann auch die Vorstellung mit, wer oder was die eigentlich sanktionierende Instanz ist und ob es eine solche braucht.  Diesen Fragen geht Hannah Arendt in „Über das Böse“ nach. Das Buch wurde aus einer Vorlesungsreihe zusammengestellt, es streift daher viele Themen nur und baut kein durchgängiges Argument auf. Der rote Faden ist jener nach der Verantwortung: Wer oder was gibt vor, welche moralischen Regeln zu befolgen sind? Dabei zieht Arendt eine Grenze zwischen christlicher und vorchristlicher Philosophie: Platon lässt Sokrates sagen, es sei besser, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. Das wirft vor allem die Frage auf, was hier mit Unrecht gemeint ist. Unrecht wird hier das, was getan zu haben man nicht ertragen kann, das nicht ins eigene Selbstbildnis passt. Die moralische Letztinstanz bleibt damit bei mir: Ich kann tun, was ich für angemessen halte – wenn ich damit leben kann, wenn mir das einem guten Leben zuträglich erscheint und wenn ich mir nicht selbst widerspreche, wenn ich nicht zu meinen Gunsten Ausnahmen mache.  Das sind strenge Kriterien, die der Mensch mit sich selbst ausmacht.  Diese Einstellung steht in klarem Widerspruch zu einer christlich orientierten Moralphilosophie, die klare Vorgaben und Kontrollinstanzen außerhalb des einzelnen sieht. Es ist in dieser Auffassung klar, was zu tun ist, man muss nur den Anweisungen folgen.

Warum ist es dann trotzdem manchmal schwierig, eine Entscheidung über richtig und falsch zu treffen?  Arendt sieht hier einerseits ein Problem des Willens, andererseits eine Verschiebung grundsätzlich einfacher Fragen auf höhere Ebenen. Moralische Fragen seien in der Praxis nämlich meist nicht so schwierig; das Ausweichen oder Anrufen moralischer Prinzipien in Alltagsfragen sei für gewöhnlich eher ein Indiz von Schwindel.  Die Frage des Willens dagegen berührt das Problem, dass man ja oft wüsste, was zu tun wäre – es aber nicht tut. Auch hierbei verläuft eine klare Trennung zwischen vorchristlicher und christlicher Philosophie. In der Antike entschied die Vernunft; wenn sie nicht die Oberhand behielt, war sie eben zu schwach. Zwischen Wille und Vernunft passte wenig Raum.  Augustinus sah dagegen den Geist als Vernunft als Herrscher über den Körper, sich selbst konnte der Geist allerdings widersprechen und auf manchmal unerklärliche Weise Widerstand leisten. Damit entstand Raum für das Böse.

Der wesentliche Punkt dabei ist der Dialog. Dieser findet im Inneren statt (als Frage der Verantwortung, des Abwägens, was sich in der Folge dann auch als Gewissen äußern kann) oder öffentlich im sozialen Raum oder als direkter Diskurs.  Wo diese Unterhaltung ausbleibt, dort ist das Böse zuhause.  Das klingt in der Verkürzung ein wenig nach dunklen, unbekannten Flecken, in denen sich etwas – Böses – breitmacht, das wir nicht erkennen oder kontrollieren können. Gemeint ist aber das Fehlen von Nachdenklichkeit und Reflexion. Böses wird oft einfach getan. In dieser Einschätzung spiegelt sich Arendts Einstellung zu Kriegsverbrechen und insbesondere dem Eichmann-Prozess wider. Das Besondere in diesem Fall des Bösen sah sie darin, dass es sich als reine alltägliche Pflichterfüllung tarnen konnte, dass es anscheinend nie die Frage aufwarf, ob hier eine moralische Qualität zur Diskussion stehe. Heute geht man vielfach davon aus, dass diese These zumindest in Bezug auf Eichmann nicht so formuliert worden wäre, wenn alle Vernehmungsprotokolle und weiteren Dokumente bekannt gewesen wären, in denen sich Eichmann sehr wohl als aktiven und an der Sache interessierten Täter beschrieb, oder wenn mehr über Absprachen und Verfahrensstrategien seiner Anwälte bekannt wäre. Das schwächt allerdings die grundlegende These nicht: Wer sich selbst (und nicht nur einer äußeren Instanz) keine moralischen Fragen stellt, der hat das Zeug zum Bösen.

Die Falle wäre es, jetzt eine Vorstellung von sozial minderbemittelten Psychopathen als Prototypen des Bösen zu sehen. Die gibt es sicher auch. Arendt ist aber vielmehr darauf aus, dass das eigentliche Problem im Vernachlässigen und Vermeiden von Positionen und Argumenten zu sehen ist.  Wer keine klaren Entscheidungen trifft, mit dem kann man über diese nicht verhandeln. Wer sich gar keine Gedanken darüber macht, dass und wo Klarheit notwendig wäre, bleibt fremd und unangreifbar. Umgekehrt ist jeder, der Entscheidungen trifft und Urteile fällt, mit anderen in Beziehung. Arendt bezeichnet das auch als repräsentatives Denken, eines, das über den einzelnen hinausgeht und sich in Beziehungen und Beispiele verständlich zu machen versucht. Dazu ist der Umgang mit anderen Menschen notwendig, und nur durch diesen hat Gemeinsinn eine Chance, zu entstehen.  Wer sich dieser Wahl seiner Gesellschaft entzieht, wer indifferent bleibt, sich nicht der Auseinandersetzung stellt, gleichgültig, unwillig oder unfähig dazu ist, verpasst die Gelegenheit, Gemeinsinn und moralisch verhandelbare Positionen zu erlangen. „So entstehen die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.“

Das Unbekannte und Ungreifbare als Grundlage des Bösen – das könnte der grobe Plot eines Horrorfilms sein oder das Schwarzweiß-Klischee populistischer Politik. Es ist geradezu ein Rezept dafür, wie vermeintlich Böses geschaffen werden kann, um es dann als solches darzustellen und zu bekämpfen.  Für Arendt als Philosophin, der weniger Theoriegebäude als das schlichte Verstehen wichtig waren, war es allerdings das Unverständliche, Unfassbare, aus dem die katastrophalsten Wirkungen entsprangen. Wäre es demnach ein Mittel gegen das Böse in der Welt, unbekannte Flecken zu erschließen, auf Unbekanntes zuzugehen? Oder ist es nur ein nachträgliches Erklärungsmodell, das in dem, was sich nicht erklären lässt, das Böse vermuten kann? Einem Menschen, der verstehen möchte, macht es jedenfalls Angst, nicht verstehen zu können. Man muss sich allerdings vor Plattheiten hüten: Wahrscheinlich gilt hier der Umkehrschluss nicht. Böses ist unverständlich. Aber das Unverständliche ist nicht böse. – So sehr viele Feuilletonisten auch nach Amokläufen und Eifersuchtsmorden ihnen unbekannte Welten entdecken und beschreiben, so wenig ist das geschehene Böse in der Unbekanntheit dieser Welten begründet. Es ist eher dieser letzte Schritt, dieser entscheidende Unterschied, der letztlich unverständlich bleibt.