Gilt schwarzblau noch immer als überraschend?

Bei Monica Lewinsky und Bill Clinton fragten sich auch viele Politinteressierte, was da jetzt genau zwischen den beiden gelaufen war. Daran muss ich dieser Tage immer denken, wenn ich die Wahlunterstützungen aus Kunst, Wirtschaft oder Gastwirtschaft für diverse ÖVP-Landeskaiser und -kaiserinnen Revue passieren lasse. 

Sie unterstützen ja nicht die Partei, sagten jene, die sich im Licht der Öffentlichkeit einen Sonnenbrand holten, sondern nur die Person. Hanni, Wilfried und die anderen patenten Personen, die in ihrer anständigen Aufrichtigkeit Garanten gegen eine starke FPÖ oder gar deren Regierungsbeteiligung seien, hätten mit der Partei ja nichts zu tun. Deshalb könne man sie auch unterstützen, wenn man deren Partei nicht unterstütze. Man können sogar diese Person und gleichzeitig eine andere Partei unterstützen. Und überhaupt, wenn man so begehrt und relevant sei wie man selbst, dann scharen sich so viele Unterstützungsbegehren um die eigene Stimme, dass man da schon mal den Überblick verliere. Ähnlich verwirrend muss es für die ehemalige Praktikantin im Licht der Weltöffentlichkeit gewesen sein. Ihr Präsident war zwar weder ihr noch seiner Frau, aber seiner Politik so ungefähr einigermaßen annähernd treu geblieben.

Im Gegensatz zu den unterstützten Landeskaisern und -kaiserinnen, die sich, ihren Unterstützern zum Hohn, flugs in Koalitionen mit der FPÖ gestürzt haben. 

Das muss einen schalen Nachgeschmack bei den Unterstützern hinterlassen haben.

Hilfloser als sie bleibt da nur Othmar Karas zurück, der seine eigene Partei seit fünfzig Jahren kennt, immer wieder aufs Neue von ihr entsetzt ist und es trotzdem nie schafft, nach seinen angeblich eigenen Grundsätzen zu handeln.

Hoch 1. Mai

Doskozil macht also den trojanischen Storch für Kern. Beide schwelgen in sozialdemokratischen Erinnerungen, in Erinnerungen an die gute alte Zeit, in der sie beide noch wichtig waren. Bevor der eine Wahl, Würde und Nerven verlor und der andere erst seine Würde wegwarf, um anschließend als linksgesteuerter Rechtsausleger Wahlen zu gewinnen. Ihren vermeintlichen Erfolgen nachhängend vergessen sie dabei, dass diese gar nicht so selten nichts mit ihnen zu tun hatten. So meldeten sich unlängst Gewerkschaftsvertreter zu Wort, um das burgenländische Alleinunterhalter-Duo daran zu erinnern, dass so manche salopp ins Burgenland reklamierte Mobilisierungserfolg viel mehr der Macht der Gewerkschaften zuzurechnen sei.

So sieht Freundschaft aus. 

Bei so viel Nostalgie warte ich noch auf die Reprise eines Schlagers aus dem letzten Kern-Repertoire. Hat denn tatsächlich noch niemand „Wertschöpfungsabgabe“ oder „Maschinensteuer“ gesagt? Diese 2017 zur Verzweiflung sämtlicher zurechnungsfähiger SPÖ-Strategen spontan gegebene Zugabe entwickelte sich in Windeseile zum Sargnagel der Kampagne, über den alle lachen (oder sich ärgern) konnten. Konservative, weil ihnen das Maschinenstürmerische nicht gefiel. Wirtschaftsfachleute, weil sie die Praktikabilität dieser Idee in einer vernetzten Weltwirtschaft bezweifelten (ein Einwand, der übrigens bei der ersten Welle der Maschinensteuer-Diskussion vor knapp 100 Jahren ebenfalls schon ins Feld geführt wurde). Und Gewerkschaften waren ebenfalls sauer, weil sie sich das Thema nicht aus der Hand nehmen lassen wollten. 

Maschinensteuer und Ziegelarbeiter waren damals sozialdemokratische Folklore-Rituale die vor allem eines demonstrierte: Sozialdemokratische Bosse waren ihrer Tradition mehr verhaftet als den Problemen der Gegenwart. Sozialdemokratische Identität speiste sich stärker aus dem Bezug auf die Vergangenheit als aus Plänen für die Zukunft. Wenn nicht gerade von Maschinensteuer die Rede war, bemühte man so gar das sozialistische Gründungsevent im niederösterreichischen Hainfeld vor 130 Jahren. Hainfeld – ein Ort bei dem vermutlich auch Politisch-Junkies trotz allem eher an Bier denken. Und Sozialdemokratie interessierte sich schlicht nicht für jene Menschen, die sie für sich interessieren wollte. 

Kern kann sich gern seine Revanche holen, wenn es das ist, was ihn politisch antreibt. Manche unterstützen oder tolerieren Doskozil bei seinem Bemühen, Kern als dessen trojanischer Storch zurück in die Politik zu schmuggeln, weil er ja der einzige sei, der der FPÖ das Wasser reichen könne. Denen muss man allerdings sagen, dass jeder Versuch politischen Taktieren in den letzten Monaten die FPÖ in Regierungen gehievt hat. Und dann müssen wir alle die Krot fressen. Nicht nur der Storch. 

Diese Qualitätsmedien

Aktuell werden in Bausch und Bogen medienpolitische Maßnahmen durchgeboxt. Förderungen hier, Haushaltsabgaben dort, vielleicht ein paar vorbeugende Zensurmaßnahmen wie das Zitierverbot aus Aktien und nebenbei das Ende der Wiener Zeitung.

Im Schatten dieser Maßnahmenpakete wird erneut über Qualität und Förderkriterien diskutiert. „Keine Förderungen für rassistische Hetzer und Antisemiten!“, heißt es zum Beispiel. Dagegen hat natürlich niemand etwas. Aber wer entscheidet über die konkreten Tatbestände? Üblicherweise Gerichte. Also sollte es dann vielleicht lieber „Keine Förderungen für Verurteilte“ heißen?

Das würde zumindest auch sicherstellen, dass die unerwünschten Inhalte nicht ganz so leicht gewechselt werden können. Sonst heißt es nächstes Jahr: „Keine Förderungen für Schlafschafe und Impffreunde“ oder „Wer den großen Austausch verschweigt, bekommt auch nichts aus dem großen Geldtopf!“.

Manche sind bescheiden formal bei Qualitätskriterien – bezahlte JournalistInnen, keine offensichtlichen oder absichtlichen Fehlinformationen, Selbstkontrollgremien und Trennung von Redaktion und Sales sind da etwa schon Qualitätskriterien. Wer erfüllt das denn nicht? Oder wer könnte es denn zumindest proforma nicht erfüllen?

Andere fordern intellektuelle Qualität und schöngeistigen Bildungsanspruch, um Qualität diagnostizieren zu können. Das endet bei Geschmacksfragen und Naserümpfen über Medien, die man nicht liest.

Was soll man dann etwa mit so einem Text machen?

Er stammt aus Wolfgang Fellners Kasperlpost, also einer Zeitung mit Stallgeruch.

Er ist gut und eingängig formuliert, führt für manche sicher auch zu intellektuellen Freuden und enthält keine Schreibfehler. Das bringt Pluspunkte.

Er stammt von einem verhaltensauffälligen Autor, der sich für keinen Unsinn zu schade ist und stets in seinem politischen Sinn agitiert. Das bringt Minuspunkte. Meines Erachtens hilft in solchen Fällen auch Transparenz nichts. PolitikerInnen, Thinktank-BetreiberInnen und andere AgitatorInnen können punktuell Gastkommentare schreiben, aber es ist journalistische Selbstaufgabe von Medien, deren Texte als unkommentierte fixe Institutionen zu installieren. Da hilft auch kein Pro und Contra und kein OpEd. Und ich weiß, dass das billiger und schneller Content ist, den alle dringend brauchen.

Zurück zum Thema.

Im konkreten Fall brauchen wir uns die Fragen von vorhin gar nicht zu stellen. Denn der Text strotzt einfach von Fehlern.

Der Autor möchte gegen Vermägenssteuern argumentieren und führt laute Beispiele an, die nichts damit zu tun haben. Umsatzsteuern besteuern Transaktionen und keine Bestände, sie sind also, aus der Perspektive des Konsumenten, das Gegenteil von Vermögenssteuern. Sie fallen an, wenn etwas gekauft wird. Also meinetwegen ist das eine Konsumstrafsteuer. Mit Vermögen hat das aber nichts zu tun.

Grunderwerbssteuern fallen, wie der Name sagt, beim Erwerb von etwas an. Wer Grunderwerbsteuern zahlt, hat noch gar kein Vermögen – er oder sie schafft sich bestenfalls gerade eines. Ähnlich ist es bei Kapitalertragssteuern: In diesem Fall gibt es zwar Kapitalvermögen, aber es wird nicht besteuert. Nur realisierte Gewinne werden besteuert, das Vermögen bleibt unangetastet.

Der Text agitiert politisch und verzerrt nicht nur Fakten, sondern stellt sich eindeutig falsch dar. Diese Fehler müssten bei starken CvDs alle Alarmglocken läuten lassen.

Diese Fehler betreffen eigentlich auch keine journalistischen Kriterien. Über die Agitation kann man streiten. Die sachlichen Fehler sind eindeutig. Das heißt, dass journalistische Qualität ohne fachliche Qualität kaum möglich ist – und dass es vor allem eine Organisation geben muss, in der solche Fehler von verschiedenen Seiten schnell thematisiert und geklärt werden können.

Es darf keine unantastbaren Texte und AutorInnen geben. Das gilt im Boulevard genauso wie für die Edelfedern im Feuilleton. Und es muss Zeit und Respekt für solche Abläufe geben. Das braucht selbstbewusste CvDs, deren Job sich nicht darin erschöpft, jene abzuwarten, die immer wieder Deadlines großzügig ausschöpfen oder darin, Copyrights zu prüfen. Auf dem Weg dorthin und von dort aus finden sich dann wie von selbst eine Fülle von praktisch anwendbaren Qualitätskriterien für Medien jeder Art und Sorte.

Trocknet KI das Internet aus?

OMG, was wenn uns die Antworte von Chat GPT zu künstlich wissensbeschnittenen Konformisten machen? Macht uns die generative AI jetzt alle zu Halbgebildeten, die nur noch aus dem schöpfen, was ohnehin alle wissen? Und wird in Zukunft nur noch das als richtig gelten, was ohnehin schon immer für alle galt? Diese Fragen ventilieren zur Zeit geübte Kulturpessimisten aus aller Welt. 

Ich frage das, seit Google zu digitalen Existenzbedingung geworden ist. 

Existiert das, was durchsuchbare Daten nicht kennen, überhaupt? Kann man etwas, das nicht alle sagen, überhaupt verstehen? Und ist Entropie sowieso die Grundbedingung jeder Art von Kommunikation und Verständigung? 

Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Eines meiner liebsten Gedankenexperimente ist das Bar Hillel-Carnap-Paraxodon. Carnap und Bar Hillel greifen einfache Informationstheorien auf, die Information als Unterschied charakterisieren. Je mehr Unterschiede vorhanden sind, desto mehr Information ist möglich. Bei Claude Shannon etwa ist das schlicht zugespitzt: Je mehr unterschiedliche Zeichen ein Text enthält, desto informativer ist er. 

Der größte Unterschied, meinen nun Carnap und Bar Hillel, ist der Widerspruch. Etwas, das im Widerspruch zu allem bestehenden steht, ist demnach am Informativsten. Das hat allerdings zwei Nachteile: Wir verstehen es nicht. Und wenn der Widerspruch tatsächlich radikal ist (und nicht bloß ein simpler Gegensatz) erkennen wir es vermutlich auch nicht. 

Das bedeutet umgekehrt: Je gleichförmiger etwas ist, desto eher erkennen wir es wieder. Desto besser funktioniert es für uns. Und desto weniger führt es zu Neuem. 

Diese Form der Erwartbarkeit ist seit jeher ein Grundprinzip funktionierender Medien. Medien müssen Formvorgaben einhalten, um erkannt zu werden, verschiedene Kanäle verlangen nach verschiedenen Formaten, und sie müssen spezifische Publika bedienen, die bestimmte Merkmale wiedererkennen wollen. Diese Erleichterung, etwas bekanntes wiederzuerkennen, ist nicht nur auf dem Medienmarkt zu beobachten: Menschen freuen sich, wenn sie sich nicht verirren. Es verbindet aber auch, wenn Menschen in einer Unterhaltung Anspielungen verstehen. Und Menschen lachen sogar erfreut, wenn sie während einer Theateraufführung ein Zitat zuordnen können, auch wenn nichts daran lustig ist. 

Entropie, mehr vom Gleichen, ist heimelig. Das genießen gerade auch jede, die gern im Chor dazu aufrufen, die Komfortzone zu verlassen oder in neuen Bahnen zu denken. Hätte Entropie nicht so einen hohen Stellenwert für sie, sie wüssten ja gar nicht, was die Komfortzone ist – und sie wären schon gar nicht dort. 

Was hat das mit Künstlicher Intelligenz zu tun? 

Künstliche Intelligenz ist der fruchtbarste Nährboden für Entropie. Sprachmodelle berechnen Häufigkeiten aus möglichst breit angelegten Beispielen. Sie verwendet also den kleinsten gemeinsamen Nenner aus großen Mengen von Text und Meinungen – ohne eigene Meinung, Erfahrung oder Expertise. Künstliche Intelligenz ist ein Informations-Durchlauferhitzer, der weitergibt, worauf sich vermutlich alle einige können. Das bringt natürlich wenig neues. Das ist auch nicht der eigentliche Zweck von KI. 

Also: Natürlich verstärkt KI Konformität und Entropie. 

Das ist aber noch nicht das eigentliche Problem. Aktuelle KI-Lösungen fördern Entropie, weil sie das gleiche lesen. Aber wovon werden zukünftige KI-Generationen lernen? Experten-Blogs, Diskussionsforen, FAQs sind nicht mehr notwendig, wenn alle im Stillen ihre KI befragen können. Für künftige KI-Generationen wird es weniger öffentliche Daten als Lernmaterial geben. Werden künftige KI-Generationen wieder dümmer? Werden sie mehr Diversität ermöglichen? Aber wo werden wir nachsehen, wenn wir mit unserer KI nicht mehr zufrieden sind?

„Let AI do the magic“

Leider war ich zu baff, um die Gelegenheit beim Schopf zu greifen; ich ließ den Moment vorüberziehen, ohne ihn zu screenshotten. Es war ein offenbarender Moment, in dem sich zwei der größten Bullshit-Trends der Gegenwart auf beeindruckende Weise paarten. 

Der erste Trend: Es gibt eine merkwürdige neue Obsession für passende Männerkleidung. Da reden wir nicht von Anzügen oder Schuhen, sondern von T-Shirts und Allroundhosen. In Werbespots auf Instagram und TikTok streichen reife Männer bewundernd über ihre kaschierten Bäuche, freuen sich über jedes Spurenelement von Trizepsansatz, das in einem kurzen Ärmel sichtbar wird und erwarten Komplimente für Schulter- und Brust-Silhouetten unter mausgrauer Baumwolle. Andere Männer schreiten glücklich in elastischen Hosen in beige oder resedagrün aus, machen darin Liegestütz, fahren mit dem Rad, springen über Zäune, laufen, sitzen im Büro und treffen abends ihre Flamme zum Date. Die Hose müsste dann schon ziemlich streng riechen, aber sie sitzt noch immer gut. 

Der zweite Trend: Alle sind Experten für Künstliche Intelligenz. Jede Anwendung von Grundrechenarten, jede auch noch so schlecht belegte Schlussfolgerung ist eine Demonstration der eigenen Expertise in KI. 

Und dann kam es: In diesem neuen Mini-Werbespot, er begegnete mir als Insta-Story, zückte der Mitarbeiter eines findigen T-Shirt-Startup-Founders ein Maßband, nahm die Maße eines neugierigen T-Shirt-Interessenten und verkündete dann: „Let AI do the magic!“ 

Du wirst nicht glauben, was dann geschah: Nimmt man Maß, um die richtige Größe auszusuchen, dann kommt tatsächlich ein passendes T-Shirt heraus! Natürlich in mausgrauer Baumwolle! Es ist fantastisch! Wie haben Schneider nur vor der Entwicklung künstlicher Intelligenz gearbeitet? Und wie ist es uns ohne KI-gestützte App jemals gelungen, die richtige Größe zu finden? 

Hier wurde ein aufregendes Kapitel einer strahlenden Zukunft eröffnet. 

Medien und KI – Zeit für neue Bescheidenheit

Man wird bescheiden. Bald wird es als relevante Leisting künstlicher Inzelligenz gelten, Dinge oder Ereignisse mittels der ausgefeilten Technik der Stricherlliste abzuzählen. Das ist nur konsequent. Der Taschenrechner galt schließlich auch mal als Verblödungsinstrument. Und fragt man erstsemestrige Informatikerinnen nach Beispielen für Algorithmen, dann nennen sie Dijkstra und andere komplexe Lehrbuchbeispiele. Dass Grundrechenarten auch Algorithmen sind, gerät dabei in Vergessenheit. 

Künstliche Intelligenz ist heute ein dermaßen omnipräsenter Begriff, dass seine überdehnte Leere mit hohen Erwartungen gefüllt werden muss. Deshalb gilt Enthusiasten alles, was mit KI zu tun haben könnte, als großartig – auch wenn es simples Zählen ist. 

Wenn KI-Prediger auf Bühnen stehen und um Beispiele für die Relevanz der Technologie (und damit auch ihrer selbst) ringen, fallen ihnen Empfehlungsservices ein, manche reden gar nur von Analysen und Statistiken. Andere reden von Engaging Content oder gar von tausenden automatisiert erstellten Contenpieces zu stündlich aktualisierten Wahlergebnissen auf Gemeindeebene. Dahinter sind von technisch herausfordernde Lösungen, ob es Medien nützlich sein wird, ist damit noch nicht gesagt. Tausend Texte über ein Wahlergebnis, das nur ein mal zählt, machen User nicht klüger. Vielleicht bringen sie ein paar Zugriffe mehr – aber nicht unbedingt zufriedene UserInnen.

Empfehlungen, Personalisierung, Benachrichtigungen, Interessen statt Ressorts – das sind Versuche, die uns schon recht lang begleiten. 

Chief Digitalisation Officers reden jetzt von neuen Aufgabengebieten für Medien. Das Erstellen von Inhalten gerate in den Hintergrund, Plattform-Management und Packaging seien die neuen Hyperskills. 

Da muss ich mittlerweile gut 20 Jahre zurückdenken. jet2web.net war das Portal einer Zeit, in der Telekomunternehmen meinten, jetzt die echten und besseren Medienunternehmen zu sein. Ich war sogenannter Channel Manager und damit beschäftigt, Inhalte für verschiedene Themenkanäle (damals das Äquivalent zu Zeitungsressorts) zusammenzustellen. Wir schreiben die frühen 2000er, mitten in den Nachwehen des ersten Dotcom-Crashes. Als Telekom-Unternehmen hatten wir die finanzielle Ausdauer, die Macht darüber, welche Startseiten in den Browsern der Internet-Kunden eingestellt waren (und auch die Macht, ihnen nicht zu verraten, wie sie das ändern konnten), wir hatten die technischen Mittel, eine der ersten Webseiten mit Videos (lang vor Youtube) ins Internet zu stellen (und die Möglichkeit, Kunden den dafür notwendigen Breitband-Zugang günstiger zu verkaufen) und wir hatten einen etwas absurden Plan, das beste Nachrichtenportal für Österreich, Bayern und Südtirol aufzubauen und später auch englische Mutationen nachzuliefern. 

Was wir nicht hatten, war journalistisches Knowhow. Zumindest nicht im nötigen Ausmaß. Ich kam von einem Magazin und konnte Geschichten machen, aber damals nur wenig Blattmachen. Neben mir gab es noch einen Kollegen, der den alternden Kriegsreporter mimte. Wir wurden aber nie ganz schlau daraus, wo er denn jetzt tatsächlich geschrieben hatte. (Wir hatten übrigens, kurzer Exkurs, auch kein technisches Knowhow. Niemand kümmerte sich um die eigens eingeflogenen indischen Programmierer. Das wurde dann, ein paar Monate später, der Beginn meiner zweiten Laufbahn in der IT.)

Umso erstaunlicher war es, dass unsere Chefs für die ganz große Medienzukunft planten. Wir wären jetzt am Drücker, denn wir wären die Mittler zwischen Medien und Publikum, diejenigen, an denen Onlinezeitungen, wenn sie erfolgreich sein wollten, nicht vorbei kämen. Deshalb kauften sie für monatliche Unsummen Inhalte von Zeitungen, die mit diesen Einnahmen ihre eigenen Redaktionen und Plattformen ausbauten. Aber wir würden Pakete schnüren, Bundles packagen und mit Digital-Knowhow allen auf dem Markt davonstürmen. 

Es war eine Zeit des seligen Geld-Ausgebens. 

Und natürlich floppte der Plan ganz gewaltig. 

In einer gewagten Vision hatten wir alles – den Draht zu den UserInnen, Daten, die Möglichkeit, Userströme zu kontrollieren und auch das notwendige Kleingeld. 

Aber es fehlte das simpelste Handwerkszeug. Mit nach geschäftlichen Kriterien zusammengekauften Inhalten kann ein Team von Channel Managern mit gerade mal Spurenelementen von redaktionellem Knowhow kein journalistisches Produkt gestalten. Die effizienteste Personalisierung führt zu Langeweile und Redundanz (und war damals noch ein technisch herausforderndes Performance-Thema). Und jede Form von Statistik, Inferenz und datengetriebener Zukunftsplanung setzt voraus, dass die Welt morgen den gleichen Regeln gehorcht und die gleichen Interessen verfolgt wie in der Vergangenheit. Das gilt aber nicht, schon gar nicht in abwechslungs- und temporeichen Zeiten.

Ähnlich geht es mir, wenn nach Visionen ringende BeraterInnen Journalismus und KI anpreisen, Effizienzsteigerungen versprechen und betonen, dass KI natürlich nicht JournalistInnen ersetzen werde. Trotzdem werde KI die Branche revolutionieren, mit Ideen von vorgestern (wie Personalisierung und Empfehlung)  oder gestern (wie automatisierter Texterzeugung und Predictive Analytics). Wired hat eine sehr schlaue Einschätzung zu Sinn und Unsinn von KI im Medienbusiness zusammengestellt, der ich mich großteils anschließe. KI kann Redaktionen bei einer Reihe von Schimpansen-Tasks unterstützen, aber sie gestaltet kein Produkt. So wie KI-Tools in der Kunst auf der Arbeit von Künstlern aufbaut, generiert auch journalistische KI ihre Ideen anhand von dem, was JournalistInnen bisher gemacht haben. Vielleicht ist das eine sinnvolle Erweiterung der Redaktionskonferenz, die aus einer zeitlich und räumlich praktisch unbegrenzten Fülle schöpfen kann, schnell kombiniert und priorisiert. Aber danach geht es der KI-gestützten Redaktion wie uns zu jet2web-Zeiten: Ohne Knowhow, Erfahrung und die Lust daran, Geschichten zu machen, wird das nichts.

Falsche Diskurse

Gianni Versace war eben ermordet worden. “Passt”, sagte der Magazinherausgeber. “Wir versuchen eh immer, zwei Covers pro Jahr für diese Zielgruppe zu machen”, erklärte er uns angehenden Jungjournalisten in der Morgensitzung. “Dann haben wir schon unser erstes Homo-Cover für heuer.” Repräsentation,  Empowerment, Identität – das waren damals, 1997, weniger wichtige Themen in der damals größten Wochenzeitschrift Österreichs. Die Zielgruppe war bedient. Oder noch wichtiger: Den Werbekunden konnte erzählt werden, dass die Zielgruppe bedient worden sei.

Homosexualität, Mode, Luxus, Konsumfreude – das gehörte doch zusammen. Oder? 

Heute wirkt das befremdlich. Zuschreibungen von außen gelten als Mikroaggression; wenn sie kommerziellen Hintergrund haben – umso schlimmer. 

Heute nehmen “Zielgruppen” ihre Themen selbst in die Hand, kommunizieren in eigenen Medien oder auf Plattformen an traditionellen Medien vorbei, sie schaffen eigene Galionsfiguren, die als Testimonials auch kommerziell erfolgreich sind und ihre eigenen Geschichten schreiben. – Und das ist vielen dann auch wieder nicht recht. Man muss mit den Menschen reden statt über sie, das ist ein aktuelles Mantra in Minderheitenarbeit, politischer Kommunikation und kommerziellem Marketing. Wenn die Zielgruppen allerdings sprechen, dann ist das rhetorische Schlachtfeld erst recht eröffnet. Dabei ist man allerdings oft weniger in der Sache uneinig, als im Stil und stilbildenden Details. 

Unter anderem steht immer wieder Feminismus in der Kritik. Von Ausverkauf ist die Rede, von Etikettenschwindel , davon, dass aus politischem Anliegen Lifestyle geworden sei. Produkte für Frauen werden nicht mehr der Hausfrau verkauft, die gerade ein paar Minuten Freizeit hat, bevor ER nach hause kommt, sondern der selbstbewussten unabhängigen Frau. Sie kauft nicht mehr, um ihm zu gefallen, sondern um selbst zufrieden zu sein.

Opportunistische Feministinnen

Das sei falsch, wird kritisiert. Das berge die Gefahr der Verflachung und öffne der Vereinnahmung durch das etablierte Patriarchat Tür und Tor. Der politische Kampf müsse immer auch ein Klassenkampf sein, alles andere sei Kosmetik. 

Politische emanzipatorische Ziele nicht-linker Feministinnen? Das sind halbseidene Auswüchse einer vorweggenommenen Unterwerfung. Feminismus ohne Klassenkampf wird als Opportunismus jener diskreditiert, die ihre Schäfchen im Trockenen hätten. 

Um das zu verstehen, muss man ein wenig ausholen: Solche Argumente werden aktuell gern mit Hinweisen auf Karl Polanyi untermauert. Polanyi analysierte  soziale Transformationsprozesse und stellte dabei stets gegenläufige Bewegungen zwischen liberalisierenden und protektionistischen Strömungen fest. Polanyis Stärke liegt in dem Argument, Laissez Faire-Kapitalismus als Beispiel einer freien Wirtschaft ohne staatliche Einmischung sei alles andere als die Freiheit von staatlicher Einmischung – es brauche im Gegenteil eine Reihe staatlicher Eingriffe, um die Voraussetzungen für diese Freiheit zu schaffen. Polanyis Schwäche liegt in dem weniger deutlich ausgesprochenen Gegenargument, dass Gemeinschaften und das Soziale betonende Kulturen viel eher ohne Verordnung durch Regeln und Behörden entstehen als die Freiheit betonenden Ordnungen – den Menschen also näher sind. Mit dieser Tendenz hin zum Protektionistischen ist es ein Leichtes,  Argumente für Schutz, Gemeinschaft, Kultur und Zusammengehörigkeit als geradezu natürlich, im Sinn des Menschen und der Menschheit zu kennzeichnen. Aus dieser Perspektive macht es auch Sinn, Feminismus als weiteren Klassenkampf-Schauplatz zu sehen und mit einer Forderung nach Arbeitszeitverkürzung zu kombinieren.

Was bei Polanyi allerdings kaum vorkommt, sind Trennlinien wie Herkunft oder Geschlecht. Emanzipation von sexistischen und rassistischen Ausschlüssen wäre in Polanyis Perspektive nur als Liberalisierung möglich – und damit als Zerstörung jener sozialen Ordnung, die Menschen eigentlich glücklich machen sollte. Feminismus als Zerstörung sozialer Ordnung? Das klingt eher nach den Erkenntnissen einer hyperkonservativen Bibelgruppe als nach linker progressiver Politik. – Das stellte auch die Philosophin Nancy Fraser in ihren Überlegungen, ob Feminismus zwangsläufig antikapitalistisch sein müsse, fest. Die Erzählung, dass liberale Feminismus Unterwerfung sei gerät damit ins Stocken. Umgekehrt müsste sich linke Feminismus fragen lassen, warum Befreiung dem Kollektiv untergeordnet sein soll oder welches Kollektiv hier denn nun entscheidend wäre.

Dummes Volk

Feminismusdebatten sind ein plakatives Beispiel. Das Motiv der falschen Diskurse finden wir heute in vielen weiteren sozialen Auseinandersetzungen: In vielen wohlhabenden Ländern Europas rücken WählerInnen nach rechts, ausländerfeindliche und rassistische Parolen finden sich häufig in ruhigen, reichen Gegenenden, in denen Begegnungen mit fremden Kulturen gar nicht stattfinden. PolitikerInnen machen es WählerInnen recht und setzen auf angriffige, populistische und oft hetzerische Politik. – Was kann man dem schon entgegensetzen, klagen dann jene, die es  anders machen wollen? Es gehe hier ja schon längst nicht mehr um Fakten, das Volk sei williges Opfer populistischer Verführer. Nüchterne PopulismusgegnerInnen scheitern bei ihren Versuchen, andere Politik machen zu wollen, andere pfeifen auf ihre einstigen Ideale und setzen auf linken Populismus – der seinen rechten Vorbildern oft an Rassismus und Sexismus um nichts nachsteht. Dann fordern auch SozialistInnen Integration vor Zuzug oder Vorrang für Eingeborene auf dem Arbeitsmarkt.

Die generelle Erzählung dabei: Man kommt ja nicht anders durch. In den reichsten Ländern sind ökonomische Sorgen der Wohlhabenden kein ernstzunehmendes Thema. Würden sich die Menschen nur darauf besinnen, wie gut es ihnen geht, dann wären sie wohl auch offener – aber derzeit sind sie Opfer ihrer Instinkte, die von gewissenlosen Puppenspielern manipuliert werden. Sie beschäftigen sich mit Statusfragen und kulturell überhöhten  Luxusthemen, statt sich mit Fragen der Menschlichkeit und der besten Lösung für alle zu beschäftigen. Und sie haben relevante ökonomische Fragen wie den Klassenkampf vergessen.

Auch hier sehen wir das Motiv der falschen Diskurse, mit dem Gutmeinende anderen erklären, dass sie falsche Prioritäten setzen. Der Politikwissenschaftler Philip Manow setzt dem die Frage nach einer politischen Ökonomie des Populismus entgegen. Die Kulturalisierungshypothese allein, die den Kulturkampf in jeden Schrebergarten trägt (in dem es gar keine unterschiedlichen Kulturen gibt), sei nicht haltbar. Manow zieht eine Fülle ökonomischer Daten heran, um nach Zusammenhängen in der Entwicklung von populistischer Politik gesteuerten Ländern zu suchen. 

Die vereinfachte  Hypothese aus diesen Analysen: Für die politischen Entscheidungen der Menschen sind oft nicht deren Zukunftserwartungen  ausschlaggebend, anders als man es wohl vermuten würde. Es ist auch gar nicht die Gegenwart, die Entscheidungen am stärksten prägt. Für die Bewertung politischer Szenarien ziehen Menschen offenbar die Vergangenheit heran. Erlebte Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit – auch nur als soziales Phänomen, gar nicht notwendigerweise als persönliches Schicksal – ist hier offenbar relevanter als die Sorge, in naher Zukunft selbst von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. Mit dieser These liefert Manow einen Gegenentwurf zu wütenden alten Männern oder zornigen Globalisierungsverlierern als Erklärmodell für das Wachstum radikaler populistischer Politik. Das Erklärmodell der psychologisierten, kulturalisierten Unzufriedenheit stellt sich als ein anderes Beispiel falscher Diskurse heraus: Den Unzufriedenen vermeintlichen Populismusopfern werden irrationale Instinkte unterstellt – ihre Entscheidungen lassen sich allerdings auf reale Erlebnisse zurückführen. 

Wie kann man nur so unvernünftig sein ..!

Ein Umfeld voll drängender Entscheidungen schafft ein fruchtbares Klima für das Motiv der falschen Diskurse. In besonders plakativer Weise ist das überall dort zu beobachten, wo die Wissenschaft angerufen wird. Ob Klimawandel, Coronavirus oder Krieg: PolitikerInnen, EntscheiderInnen – wichtige Menschen sollen auf “die Wissenschaft” hören, wissenschaftliche Erkenntnisse liefern Richtlinien, an denen man sich doch problemlos orientieren könnte – und doch läuft aus der Perspektive der kritischen Beobachter nichts so, wie es laufen sollte. Dann hören wir wieder: “Ihr redet vom Falschen”. Unvernunft, Dummheit, Egoismus, Ignoranz – wie kann man angesichts so klarer Tatsachen nur so unvernünftig sein. Ähnlich wie beim Vorwurf des feministischen Ausverkaufs oder bei der Unterstellung irrationaler Ängste in der Politik richtet sich auch hier die Kritik auf ein formales Kriterium: Vernunft, Logik und Daten geben das abstrakte Geländer vor, an dem sich Entscheidungen orientieren sollen. Reale Entscheidungen des praktischen Alltags dagegen laufen nicht so klar: Sie müssen sich mit verworrenen Tatsachen, Wertfragen, nicht ganz klar vorhersehbaren Zusammenhängen und auch noch mit Launen beschäftigen. Das ist unvernünftig. Aber es ist nun mal angemessen. Wissenschaft liefert Antworten auf wissenschaftliche Fragen, nicht auf Problemstellungen des Alltagslebens. Die können mitunter daraus abgleitet werden. Aber streng genommen entscheidet Wissenschaft gar nichts: Sie liefert Tatsachen. Was daraus folgt, wer warum wie reagieren sollte – das steht auf einem anderen Blatt Papier. Und dazu muss man noch gar kein gefinkelter Relativist sein. Im Gegenteil: Abgrenzung ist eine der wichtigsten Eigenschaften wissenschaftlicher Expertise.

Der Wissenssoziologe Harry Collins führt in seinen Arbeiten zu Expertise mehrere Spielarten fachlichen und sachlichen Wissens an, die auf den ersten Blick bald auch den Eindruck strenger Wissenschaftlichkeit erfüllen: Fakten und Zahlen werden präsentiert, Menschen zitieren aus wissenschaftlichen Studien, praktisches Knowhow stützt sich auch auf feste Tatsachen und nicht bloß auf persönliche Vorlieben – aber erfüllt das schon die Kriterien, die wissenschaftliche Zugänge auszeichnen soll? Collins ist skeptisch und führt eine weitere Ebene von Expertise ein; der allgegenwärtige Ruf nach praktisch anwendbarer fundierter Expertise hat seiner Einschätzung nach dem Begriff der wissenschaftlichen Expertise nichts gutes getan und einen eben auch allgegenwärtigen, gemeinplatzhaften Begriff von Expertise erzeugt. Wissenschaftliche Expertise dagegen, die Wissen hervorbringt, Unerwartetes einschätzen kann und auch in unklaren Situationen klare Sicht behält, ist oft weniger schnell mit Empfehlungen und Entscheidungen bei der Hand. Deshalb findet sie auch weniger leicht Gehör als andere Formen von Expertise, wissenschaftliche Expertise konkurriert mit anderen Wissensformen und in dieser Vielfalt der formal gleichwertigen Ansichten gedeiht der Vorwurf der falschen Diskurse besonders gut. 

Harry Collins plädiert angesichts dessen für die Rückkehr des Elfenbeinturms: Expertise und wissenschaftliches Wissen bräuchten Respekt. WissenschaftlerInnen können sich nicht immer, zu jedem Thema und bei jeder Gelegenheit mit jeder anderen Ansicht um die Vorherrschaft in tagesaktuellen Angelegenheiten streiten. Sie wollen sich oft nicht so eindeutig festlegen, wie es der Wunsch nach klaren Entscheidungen erfordern würde. Sie formulieren anders, als es der Wunsch nach Imperativen sinnvoll erscheinen lassen würde.

Das Diskussionsmuster der falschen Diskurse lässt Skepsis wachsen: Wer sich zurückzieht, wird vergessen, wer sich nicht einmischt, und seine Position nicht verteidigt, wird überrannt und ignoriert. 

Im Fall der Wissenschaft und der sachlichen und klaren Entscheidungen mag das besonders tragisch sein (selbst wenn auch die scheinbar sachlichen, neutralen und wertfreien Entscheidungen der Wissenschaft nie so sachlich sind, wie sie gesehen werden möchten – schon das Formulieren einer Fragestellung beruht auf einer Wertentscheidung: Was ist wichtig genug, Gegenstand der Forschung zu sein?). Im Zusammenhang mit den anderen kurz angerissenen Fragestellungen ruft das Motiv der falschen Diskurse eine andere vergessen geglaubte Fragestellung auf den Plan: Es ist die Frage nach Positionskämpfen: Wer spricht von wo aus? Wer beansprucht auf Grund welcher Voraussetzungen welche Autorität? Warum und mit welchen Mitteln wird diese Autorität über andere ausgedehnt?

Wissenschafts- und ExpertInnenkritik war mal ein aufklärerisches und antiautoritäres Projekt, schreibt der Soziologe Alexander Bogner in “Die Epistemisierung des Politischen”. In den Sechziger Jahren richtete sich Kritik gegen Traditionen, auf unklaren Grundlagen beruhende Autoritäten und gegen ignorante Macht, die keine alternativen Ansätze gelten ließ.

Heute ist die unter vorgeblich ähnlichen Vorzeichen geübte Kritik esoterisch und obskur. KritikerInnen und Quer- oder SelbstdenkerInnen nehmen den Namen der Aufklärung für sich in Anspruch und sind in ihrer Kritik dennoch in Form und Inhalt esoterisch: Im Mittelpunkt steht geheimes Wissen, sie behaupten den Zugang zu besonderen Informationen – und sie müssen deshalb voraussetzen, dass Informationen unterdrückt, verheimlicht und manipuliert werden. Dieser doppelt esoterische Schachzug, der gleichzeitig Zugang zu Geheiminformationen behauptet und unterstellt, dass die relevanten Informationen verschwiegen werden, schafft den Freiraum für Kritik. Denn der Vollständigkeitsbeweis ist um einiges schwieriger anzutreten; punktuelle Kritik ist die weitaus leichtere Übung.

Vollständigkeit ist grundsätzlich auch ein Status, den Wissenschaft nicht für sich in Anspruch nimmt. Wissenschaftliches Wissen kristallisiert sich aus einzelnen Beobachtungen oder Ergebnissen in spezifischen Situationen zur reproduzierbaren Ergebnissen in weniger spezifischen Situationen und kann so im Lauf der Zeit ausgedehntere Gültigkeit und die Erklärung von Zusammenhängen für sich beanspruchen – als Information und Wissen sind wissenschaftliche Aussagen aber stets auf konkrete Kontexte und konkrete Fragestellungen unter klar abgegrenzten Rahmenbedingungen bezogen. Wenn dem entgegen Wissenschaft medial gefordert ist, wenn politische oder andere unwissenschaftliche Fragestellungen wissenschaftlich entschieden werden sollen, dann ist das eine Überstrapazierung von Wissenschaft. Das schürt falsche Erwartungen, schafft falschen Druck – und verleitet dazu, Unsinn zu behaupten. Wer sich dazu verleiten lässt, begibt sich selbst in das Fahrwasser des Vorwurfs der falschen Diskurse. Der Vorwurf ist nicht mehr nötig. 

Falsche Diskurse, falsche Schwerpunkte, falscher Stil – all das sind kritische destruktive Taktiken, die eine entscheidende Instanz außerhalb des eigentlichen Themas anrufen. Richtig und falsch ist dann nicht mehr eine Frage der Sache sondern eine Frage sondern eine Angelegenheit eines übergeordneten Wertegerüsts. Das allein ist gar nicht problematisch. Wo soziale, politische oder ethische Fragen debattiert werden, ist es letztlich immer ein externe Bezugsrahmen, der vorgibt, was richtig, akzeptiert oder wünschenswert ist. Über die Wahl dieses Bezugsrahmen kann sogar noch mehr diskutiert werden als über die inhaltliche Ebene – denn hier sind wahr oder falsch weitaus komplexer als in Sachfragen. Problematisch ist, wenn die Wahl des Bezugsrahmens außer Diskussion gestellt werden soll, wenn also eine Seite der anderen vorgeben will, welche Werte, politischen Ideen oder Ziele zu akzeptieren wären – ohne Argumente dazu zuzulassen. – Dann greifen eben nur noch Verbote und Unterstellungen. Und es ist fatal, wenn es diesen gelingt, sich als Notwendigkeiten zu inszenieren. Ich bin eigentlich allergisch auf Philosophen-Zitate, aber dieses ist aktuell tatsächlich eines der relevantesten: „Notwendigkeit ist Aberglaube“, meinte John Dewey, in Europa sträflich unterschätzter Gründungsvater des Pragmatismus.

Bildung, Daten und Evidenz werden uns auch nicht helfen

Sie haben korrekt zitierte Studien bei der Hand. Sie können Daten und Tabellen interpretieren und eigene Visualisierungen erstellen. Sie kennen die relevanten Datenpools, sie können die Insignien wissenschaftlicher Autorität lesen und ausspielen – und sie sind Verschwörungstheoretiker, Impfgegner oder Söldner politischer Kampagnen.

Bildung ist das beste Rezept gegen den Erfolg von Populisten, gegen gesellschaftliche Spaltungstendenzen und hin zu einer friedlicheren Zukunft, in der relevante Probleme gelöst werden können – das ist das Mantra der Optimisten, die sich in allen politischen Sphären finden können. Gebildete Menschen werden bessere Entscheidungen treffen.

Ein großer Teil jener Verschwörungstheoretiker, Impfgegner und geheimen Militärstrategen oder jener vermeintlichen Opfer populistischer Politiker ist allerdings alles andere als ungebildet. Ihre Behauptungen instrumentalisieren wissenschaftliche Studien, argumentieren mit gründlich durchforsteten Datensätzen, erstellen Visualisierungen, kritisieren Informations- und Argumentationslücken in veröffentlichten Unterlagen und fordern die Einhaltung komplexer logischer Zusammenhänge, die die logische Stringenz des Alltags – in dem nicht alles in geordneten Bahnen verläuft – überfordert.

Welche Bildung möchte man jenen Menschen nahelegen, die mühelos auf einem mathematisch-logisch-wissenschaftlichen Instrumentarium spielen?

“Wir müssen besser kommunizieren” – das sagen PolitikerInnen nach Wahlniederlagen. “Wissenschaftskommunikation ist so wichtig”, sagen WissenschaftlerInnen und UniversitätsmanagerInnen und organisieren Veranstaltungen, bei denen als Fruchtfliegen oder Elektronen verkleidete NachwuchsforscherInnen lustige Effekte auf Bühnen demonstrieren. “Wir müssen die Menschen und ihre Sorgen ernst nehmen”, sagen bedächtige VerantwortungsträgerInnen.

All diesen Ankündigungen sind einige Grundsätze gemein:

Erstens sehen sie Defizite beim Kunden, bei den viel strapazierten Menschen da draußen. Sie verstehen das Angebot nicht – also muss es besser kommuniziert werden. Die Option, dass das Angebot nicht interessant ist, wird nicht in Betracht gezogen. Das ist das Zeugen-Jehovas-Prinzip der Kommunikation: Man läutet an irgendeiner Tür und versucht, sein Gegenüber in ein Gespräch über bestimmte Themen zu verwickeln – ohne Rücksicht darauf,  ob der- oder diejenige das will, gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt ist oder vielleicht nur auf die Toilette muss. Die Annahme ist: Wenn sie nur wüssten, wie toll wir sind, dann werden sie uns auch toll finden.

Der zweite gemeinsame Grundsatz: Bestehende Rezepte gelten als Lösungen. Es gibt wenig Grund, sie zu verändern. Das Problem liegt nicht an Ideen und Konzepten, es liegt an den Menschen, die sich nicht ausreichend mit diesen auseinandergesetzt haben.

Ein dritter gemeinsamer Punkt betrifft weitere Unterstellungen an die Zielgruppe: In der Politik heißt es, Menschen entschieden nach kulturellen Gesichtspunkten, nach bloßen Wohlfühlkriterien – deshalb lassen sie sich von xenophobem Marketing beeindrucken, ohne die Konsequenzen von Migration auf das Wirtschaftswachstum zu berücksichtigen. Sie stimmen Law- & Order-Politik zu, ohne problematische soziale Erfahrungen gemacht zu haben. Sie haben zu wenig technisch-mathematisches Knowhow, um technische Abläufe einschätzen zu können, zu wenig Erfahrung mit komplexen abstrakten Zusammenhängen, um wissenschaftliche Aussagen einordnen zu können.

Ein kleiner Einschub dazu: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es solche Gruppen von Menschen gibt. Es ist durchaus zu bezweifeln, ob manche Gruppen von Menschen mit irgendwelchen Botschaften über irgendwelche Kanäle überhaupt erreicht werden können und was aus Inhalten, die sie auf verschlungenen Wegen erreicht haben dann wird. Die Rhetorik vergangener Jahrzehnte, die gerne Massen oder noch lieber “die Masse” instrumentalisiert, ist aber schon durch die simple Tatsache angekratzt, dass die Massen heute selbst reden. Vermeintliche Eliten konnten schon länger vermeintliche Sozialhilfeempfänger  in der sozialen Hängematte denunzieren, die morgens nicht aufstehen. Das Bild ist eine Karikatur. Und die vermeintlichen Sozialhilfeempfänger können heute ihrerseits vermeintliche Eliten karikieren, die schon im Elitekindergarten Elitekontakte knüpfen und nie vor der Herausforderung standen, ein lebensnahes Problem selbst bewältigen zu müssen. Auch in dieser Charakteristik werden sich nur wenige Menschen wiederfinden.

Mehr Menschen haben also mehr Möglichkeiten, Phantombilder von denen da draußen, denen da unten oder denen da oben zu zeichnen – und die Menge dieser Bilder macht die Situation nicht gerade übersichtlicher.

Eines dieser Bilder ist die Legende vom vom Populisten verführten Arbeiter, der gegen seine eigenen Interessen entscheidet. Dazu hat Philipp Manow relevante Ergebnisse geliefert.

Ein anderes Bild ist eben das der Unbedarften wenig Gebildeten, denen Bildung zu einer besseren Zukunft verhelfen wird. Das Zukunftsversprechen von Bildung ist natürlich politisch geprägt: Der gebildete Sozialist wird die Notwendigkeit der Revolution erkennen, die gebildete Liberale wird ihr Leben selbst in die Hand nehmen, der gebildete Konservative wird den Vorfahren und den Mächtigen Respekt zollen. – Allein diese schon an der Oberfläche so unterschiedlichen Verheißungen von Bildung sollten uns zu denken geben. Aber was sind ganz konkrete und etwas spezifischere Themenfelder, in denen Bildung als spielentscheidend betrachtet wird?

In den letzten zwei Jahren beschäftigen sich viele Studien mit dem epistemischen Weltbild von Corona-LeugnerInnen und ImpfskeptikerInnen. Die Frage nach dem epistemischen Weltbild zielt darauf ab, was jenen Menschen einen Grund gibt, Aussagen oder Daten zu akzeptieren, was also als Wahrheitskriterium gilt. Eine erste Unterstellung ist oft, mystische Weltbilder und Esoterik zu vermuten. Das steht nun in krassem Gegensatz zu jenen Situationen, in denen Menschen jenseits des wissenschaftlichen Konsenses umso strenger mit techno-mathematischen Argumenten punkten wollen. Dieser Fokus auf Mathematik kann manchmal plump und manchmal auch falsch sein: So bezweifelte der österreichische Fernsehsender Servus TV in seiner Corona-Berichterstattung die Gültigkeit von  Statistiken, die Aussagen über kleine Populationen treffen und insinuierte in seiner Berichterstattung, durch solche Statistiken würden Infektionszahlen in die Höhe getrieben. Konkret: Wie könne ein Dorf mit nur 1000 EinwohnerInnen eine Inzidenz von 200 pro 100000 EinwohnerInnen haben? Wenn es die 100000 EinwohnerInnen nicht gibt, dann könne es ja auch die 200 Infizierten nicht geben – also seien alle Zahlen in Zweifel zu ziehen.

Das ist ein plumpes und dummes Beispiel. Es hilft aber, ein Muster in anderen Kritikformen zu diagnostizieren, auch wenn diese deutlich besser argumentieren und nicht auf simple Rechenfehler angewiesen sind, um ihren Punkt machen zu können.

Forscherinnen des MIT haben 2021 verschiedene Gruppen von Corona- und ImpfgegnerInnen beobachtet, ihre Rhetorik analysiert und vor allem ihren Gebrauch von Daten, wissenschaftlichen Studien und Visualisierungen untersucht. Die Detailergebnisse lassen Rückschlüsse darauf zu, welche Art von Visualisierungen bei welchen Gruppen besonders populär sind – und es sind, für manche vielleicht überraschend, die besonders komplexen, besonders detailreichen Visualisierungstypen, die bevorzugt in der Verteidigung wissenschaftlich unorthodoxer Positionen eingesetzt werden. Die Komplexität wird dabei auch nicht als Nebelgranate eingesetzt, die mehr Verwirrung stiften als Klarheit schaffen soll. Die Komplexität und die damit zunehmende Vielschichtigkeit, wie Daten interpretiert werden können und welche Lücken sich in der zugrundeliegenden Datenbasis vermuten lassen, wird vielmehr dazu eingesetzt, Schwächen in den offiziellen Schlüssen aus diesen Daten aufzuzeigen. Daten werden dann als nicht detailreich genug infrage gestellt, es wird hinterfragt, warum nicht alle Erhebungsmethoden, Rohdaten und Berechnungsschritte offengelegt sind – und es wird besonderes Augenmerk auf mathematische Ausreißer gelegt, die mit der offiziellen Hypothese nicht ausreichend erklärt werden können.

An mangelnder Bildung oder mangelndem mathematisch-technischem Knowhow kann es also nicht liegen, dass Ergebnisse und Einschätzung oft diametral jenen offizieller Institutionen entsprechen. Der aufklärerische Gestus legt auch nahe, dass Gegenwissenschaften sich selbst – und ihren volksbildenden Anspruch – durchaus ernst nehmen. Die mathematischen und statistischen Argumente sind oft korrekt.

Wo ist der Fehler dann zu suchen?

Die Betonung von Komplexität, die Suche nach Details und das Beharren auf methodisch überkorrekten Ableitungen sind oft Indizien für die Überstrapazierung von Wissenschaft. Wissenschaft soll Handlungsanleitungen und Empfehlungen für sozial und politisch richtige Entscheidungen geben. Etwas, das Wissenschaft als Methode nie für sich in Anspruch genommen hat. 

Wissenschaftliche Ergebnisse gelten unter bestimmten Bedingungen für bestimmte Situationen, auch ihre Extrapolation oder Interpretation unterliegt strengen Regeln. Mit jeder Erweiterung nimmt die exakte Gültigkeit ab. 

WissenschaftlerInnen und ExpertInnen wissen um den Geltungsbereich ihrer Ergebnisse. Der Versuch, diesen Geltungsbereich zu  verlassen, käme dem Versuch gleich, mit Dunning-Kruger-Patienten mithalten zu wollen, die mit voller Überzeugung ihre eigene Ahnungslosigkeit ignorieren, aber umso sendungsbewusster sind.

Harry Collins kam in seinem Versuch, wissenschaftliche Expertise von anderen Formen des Know Hows abzugrenzen, letztlich auch nur zu dem Schluss, an goodwill zu appellieren: Wissenschaftliche Expertise unterscheidet sich dann maßgeblich von anderen Formen des Wissens, wenn diese Unterschiede akzeptiert werden und vor allem auch die Grenzen der Wissenschaftlichkeit als Stärke anerkannt werden und nicht in ihrer Beschränktheit eine auszunutzende Schwäche gesucht wird.

Mathematische Disziplinen oder auch Felder angewandter Informatik die Data Science fördern diese ungünstige Entwicklung. Starke Orientierung auf den Prozess und eine schwache Verbindung zur Ausgangslage, zum eigentlichen Gegenstand, von dem stark abstrahiert wird, verstärken das Problem. Die Perspektive auf Denken und Forschen als Gespräch geht verloren.

Der Fokus auf die Methode liegt durchaus im Kern der Wissenschaftlichkeit. Allerdings begründet diese Ausrichtung oft Missverständnisse, wenn vorausgesetzt wird, dass formale Methoden auch auf Gegenstände angewendet werden könnten, deren Formalisierungsregeln erst ausgearbeitet werden müssen. 

Häufige Beispiele dafür finden sich in mathematischen Metaphern und Modellen für wirtschaftliche Fragestellungen. Da werden Gleichungen aufgestellt, Formeln bemüht, manchmal schwappt Mathematik auch in Physik über und wir haben es mit Waagen, Röhren, Gefäßen und Fließbewegungen zu tun. Mathematische Metaphern können sehr nützlich sein, wenn sie punktuelle Sachverhalte veranschaulichen sollen. Die Regeln der Mathematik sind klar, damit sind auch die Aussagen der Metaphern klar. Allerdings bergen sie Missverständnisse: Gleichungen etwa werfen die Frage auf, ob sie Identität oder Gleichgewicht ausdrücken sollen. Bei allen Modellen steht die Frage im Raum, ob sie einen Zustand, ein Ziel oder vielleicht gar ein Problem beschreiben. Und Mathematik und Physik als klar definierte Regelsysteme können stets weiter ausgebaut werden. In der Mathematik können Gleichungen umgeformt werden, die Anwendung von Grundrechenarten gibt die Regeln für Erweiterungen und Reduktionen vor.

Auf Sachverhalte können diese Regeln meist nicht angewendet werden. Dieses Missverständnis entsteht aber oft – und es verfälscht die Perspektive darauf, sie sich Sachverhalte und Theorien dazu entwickeln können. Wir können nicht alles auf sinnvolle Art und Weise halbieren, es ist nicht immer möglich, zwei zu addieren.

Die mathematische Extrapolation von allem und jedem ist eine andere Spielart der Verallgemeinerung persönlicher Perspektiven und Vorurteile – sie benötigt zwar mehr formale Bildung, führt aber zu ebenso falschen Ergebnissen.

Das sind methodische Probleme. Diese finden wir bei jenen, die der Faszination von Zahlen erliegen und plötzlich alles datengetrieben vorantreiben möchten. Wir finden sie aber auch bei jenen, die mit vermeintlicher Logik und Rationalität die Schwächen anderer aufdecken möchten

Logik und Rationalität müssen sich ihrer eigenen Schwächen bewusst sein. Sie funktionieren nur innerhalb ihrer Systemgrenzen. Sie selbst können nicht entscheiden, wie zwischen diesen Systemen gewechselt werden kann. 

Das klingt auf den ersten Blick esoterisch, ist aber der Kern von David Bloors Soziologie des Wissens. Es ist ein Irrtum, Rationalität alle Fortschritte in Wissen und Erkenntnis zuzuschreiben und Irrtümer mit auszuräumender Irrationalität zu verbinden. Rationalität beschreibt eine Methode, die verlässlich und eindeutig funktioniert, solange wenig Alternativen zur Diskussion stehen. Sobald Alternativen und Optionen verfügbar sind, reicht Rationalität nicht mehr aus. Werte, Vorlieben und Vorurteile sind jetzt die Regelsysteme, nach denen wir die wirklich großen Entscheidungen treffen. Danach regiert dann wieder Rationalität – bis die nächste große Entscheidung ansteht.

Evidenz, Daten oder Mathematik helfen nicht dabei, das letzte Argument zu finden. Das rationale Argument ergibt nur dann Sinn, wenn es eine wertgetriebene Entscheidung unterstützt (oder ihr widerspricht). Im Rahmen einer anderen wertgestützten Entscheidung ergibt es keinen Sinn – es stützt sich auf Prämissen, die es hier nicht gibt.  

Der Versuch, mit rationalen Argumenten, Mathematik oder formell einwandfreier Wissenschaftlichkeit letzte Gründe und Argumente finden oder gar Fragen nach dem Sinn beantworten soll, ist stets manipulativ. Dieser Versuch ist vor allem ein Versuch, die Entscheidung und ihre Gründe zu überdecken. 

Bei allem Respekt für mathematische Gründlichkeit, logische Stringenz und rationale Unaufgeregtheit ist es doch genau dieser Weg der Überstrapazierung von Wissenschaft und wissenschaftlicher Methode, der geradewegs in jene Pizzerien-Keller führt, in denen kosmopolitische Eliten Kinderblut trinken. 

Jede stringente Wissenstheorie schließt auch den Punkt ein, der mit den Argumenten dieser Wissenstheorie nicht erklärt werden kann. Ich nenne diese Punkte Rumpelkammern und sie erfüllen einen wichtigen Zweck: So wie Rumpelkammern in Häusern nehmen diese Rumpelkammern der Theorie all das auf, das wir im Moment nicht brauchen können. Wir haben keine Verwendung dafür, wissen gerade vielleicht auch gar nicht, was es überhaupt ist – aber wir können und wollen uns davon nicht trennen. Vielleicht fällt uns zu einem späteren Zeitpunkt ein, was wir damit machen können, vielleicht werfen wir es später auch weg. Rumpelkammern sind sehr nützlich und sie erleichtern unser Leben – solange, bis sie sich doch unvermittelt und plötzlich ins Rampenlicht drängen, etwa weil sie ausgeräumt, übersiedelt, aufgeräumt oder geputzt werden sollen. Dann sind sie ein großes Problem.

Der Umgang mit Anomalien in Kuhns „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ ist so eine Rumpelkammer, Lakatos‘ Schutzgürtel von Hilfshypothesen ist eine Rumpelkammer, jede Formulierung, die Annahmen als Selbstverständlichkeiten oder als nicht zur Diskussion Stehendes einmahnt, ist eine Rumpelkammer. 

Rumpelkammern sind kein Problem für Wissenstheorie. Aber es ist eine Herausforderung für Wissensphilosophie, vor allem in Hinblick auf datengetriebenes Wissen, eine Theorie zur angemessenen Einbindung von Rumpelkammern zu entwickeln. Das ist nützlicher, als auf Daten, Evidenz und Bildung zu beharren.