Ben Smith, Traffic

Ben Smith, Traffic

Die BuzzFeed-Story - eine Kulturgeschichte des Verhältnisses von Medien und Internet in den letzten zwanzig Jahren.

Das Ende des Aufstiegs von BuzzFeed war auch das Ende des Social Media-Siegeszugs. Die New York Times schreibt von Post-Social-Media – kleinen Medien-StartUps, die auf Qualität statt Masse setzen, auf Umsatz statt auf Reichweite. Jahresabos für Spezialisten-Newsletter beginnen teilweise über 1000 Dollar und mehr. Unvorstellbar für eine Zeit, in der man dachte, Traffic könne alle Probleme lösen. 

Diese Zeit beschreibt Ben Smith in „Traffic“. Smith baute den Nachrichtenbereich bei BuzzFeed auf und veröffentlichte als erster das Dossier über die angeblichen Pinkel-Orgien von Donald Trump in Moskau. Diese Veröffentlichung läutete auch das Ende der Strategie des uneingeschränkten Publizierens von allem bei BuzzFeed ein. Das Dossier verselbständigte sich und zeigte, dass Informationen auch Medien leben können. Zumindest ohne solche wie BuzzFeed, die wenig einordnen und großteils auf Hintergrund und Orientierung verzichten.

Kontrollverlagerung: Von Email-Verteilern zu Netzwerkplattformen  

Aber der Reihe nach. „Traffic“ beschreibt den Aufstieg einer neuen Generation von Onlinemedien ab den frühen Nuller Jahren, beginnend mit der damals neuen Huffington Post. Protagonist ist Jonah Peretti, Traffictreiber bei Huffington Post und Gründer von BuzzFeed, der zu Beginn des Buchs aber eine andere Entdeckung macht: Pranks, Memes und andere einfache Inhalte, die Menschen neugierig machen, unterhalten oder aufregen, können  Eigendynamik gewinnen und sich ungeahnt schnell und weit verbreiten.

Smiths Analyse dieser Entdeckungen ist eine Kulturgeschichte des Verhältnisses von Internet und Medien: In den frühen Stadien sorgten Email-Verteiler und Newsgroups für die Verbreitung von Inhalten. In einer nächsten Phase waren es Links und Backlinks. Das war die Hochphase der Blogs. Bald darauf waren Suchmaschinen, schnell allen voran Google, die wichtigsten Trafficquellen für Websites. Diese wurden von Social Networks, allen voran Facebook, abgelöst.

Mit jedem Entwicklungsschritt verlagerte sich die Kontrolle über Tempo und Ausmaß der Verbreitung weg von Sender und Publikum hin zu Zwischenhändlern. Das ist genau das Gegenteil der Entwicklung, die die Frühphase des Internet erwarten ließ. „Weg mit den Mittelsmännern“, ein lang gepflegter Kampfruf der Digitalisierung in Medien und Handel, fand seine Erfüllung nur ganz kurz. Im Zeitalter der Mailverteiler wurde das Publikum selbst zum Sender – oder eben nicht. Später übten Blogs damit Macht aus, wen sie verlinkten und wen nicht. Die Aufnahme in Blogrolls erfolgreicher Blogger war ein Ritterschlag für Newcomer. Manche Seiten bestanden überhaupt großteils nur aus kommentierten Linksammlungen, etwa der berüchtigte Drudge Report, der die Lewinsky-Affäre veröffentlichte. Frühe Suchmaschinen waren eine Goldgrube für Clickbaiter. Sie ließen sich leicht austricksen, mit Schlagwortsammlungen auf den Seiten in die Irre führen und machten neue Seiten so von den Verlinkungen der großen Blogger unabhängig. Qualitätskriterien, verbesserte und geheimere Priorisierungen, ständig neue Rankingkriterien drehten die Verhältnisse allerdings bald um. Jetzt kontrollierten Suchmaschinen, welche Art von Inhalten erfolgreich war. Als Internet-Pionier galt, wer Google verstand.

Vokuhila-Strategie

Social Media und Facebook verhießen anfangs einen Schritt zurück in die Zeit, in der das Publikum bestimmte. Groß wurden jene, über die geredet wurde, so wie in der Zeit der Mailverteiler. Durch die Sichtbarkeit der Interaktion – alle sahen, was die Freunde ihrer Freunde teilten – vervielfachten sich Reichweiten und Wachstumsgeschwindigkeiten. Facebook war so lange relevante Trafficquelle für Medien, bis Facebook den Traffic selbst auf der Plattform behalten und nicht mehr durch ausgehende Links verlieren wollte. Heute sollen User mit Inhalten interagieren – egal ob sie sie mögen oder sich ärgern, und egal was die Inhalte sind.

Mit diesen Phasen wechselten die jeweils erfolgreichsten Medien ihrer Zeit. Die ersten Phasen dominierte Drudge oder Gawker. Smith beschreibt die Gründung der Huffington Post als Versuch, Drudges Erfolg ein liberales Gegengwicht entgegenzusetzen. Lustigerweise damals mit an Bord der Huffington Post: Andrew Breitbart, späterer Gründer des Rechtsaußen-Portals breitbart.com und früherer Mitarbeiter bei Drudge. Breitbart kehrte bald zu Drudge zurück, bevor er breitbart.com aus der Taufe hob und behauptete später,  er habe bei der Post nur spioniert. 

Die Huffington Post bemühte sich um liberale aufgeklärte Politik – also um Inhalte, wie sie niemanden interessierten. Der gewünschte Traffic, um geschäftlich erfolgreich zu sein, musste von anderswo kommen. Peretti beschreibt das als mullet strategy (Vokuhila-Strategie): vorne Business, hinten Party. Listicles, Howtow, identitätsorientierte Personalitystorys brachten den eigentlichen Traffic.

BuzzFeed war eigentlich nur das Experimentierlabor nebenbei, in dem veröffentlicht wurde, was für die um Seriosität bemühte Huffington Post zu abgedreht war. Damit überflügelte BuzzFeed allerdings bald die Post. 

Die wesentlichen Entwicklungen für beide Portale kamen rund um 2005 in Gang. In Österreich haben wir damals an oe24.at gearbeitet. SEO war ein Thema, Facebook war noch sehr neu und zu persönlich, um für Medien relevant zu sein. Traffic kam von Google oder über starke Marken. Die Pläne waren groß; kurz nach dem Start, als es ums Geldverdienen ging und die Printausgabe funktionieren musste, wurden sie sehr schnell wieder sehr klein.

Die Mitarbeiter der ersten Phase bei Huffington Post und BuzzFeed gehörten zu den prägenden Figuren der Onlinemedienbranche, hatten allerdings wenig journalistische Vorerfahrung. Credo der Redaktion war, wie bei vielen späteren Neugründungen, die Idee, alles zu veröffentlichen, was relevant ist – ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Rücksicht auf die Betroffenen. Für Gawker führte das auch bald zum Ende. Nach einigen umstrittenen Publikationen hatte das Portal auch ein privates Sextape des Wrestlers Hulk Hogan veröffentlicht. Nach einem langen Rechtsstreit wurden Strafzahlungen von 140 Millionen Dollar rechtskräftig, die Seite musste schließen. Der Prozess war von Peter Thiel finanziert worden – manche meinen, aus persönlicher Abneigung gegen Gawker-Betreiber Nick Denton und weil dieser Thiel als homosexuell geoutet und als seltsam bezeichnet haben soll.

Und man musste doch über Journalismus reden

Die Relevanz der Huffington Post nahm über die Jahre ab, übrig blieb BuzzFeed. Einige der viralsten BuzzFeed-Storys sind wohl noch allen im Gedächtnis. Ist das Kleid schwarz und blau oder gold und weiß? Wieviele Gummiringe können um eine Wassermelone gespannt werden, bis die zerplatzt? Und woher kam das Dossier zu Trumps Eskapaden in Moskau? Während die frühen Phasen von BuzzFeed noch gar nicht als Alternative zu Nachrichtenmedien geplant waren, erwachte später durchaus der Wunsch, auch News zu machen – und das veränderte das Medium, die Branche, und die Art und Weise, wie Traffic erzielt wird.

Ein erster großer Facebook-Erfolg für BuzzFeed war ein schlecht programmiertes Quiz. Hundertausende Facebook-User wunderten sich über ihre Ergebnisse – und brachten mit ihrer Interaktion Traffic. Dieser Erfolg war ähnlich weit weg von Nachrichten und Politik wie das Kleid oder die Melone. Liberale Ideale waren gar nicht Thema. Politik blieb aber nicht immer langweilig. Im Gegenteil. Mit der Zeit hatten Rechte gelernt, wie das neue Internet funktionierte, und ihnen fiel es noch leichter, auf Inhalte zu verzichten, Erregung hochzuhalten – und damit Politik machen. Spätestens mit Trump gab es dann auch jemanden, der an der Politik vorbei Politik machen und aus den neuen Erregungs- und Verbreitungsmechanismen Kapital schlagen konnte. Versuche, etwas daran zu ändern, etwa durch Enthüllungen, Skandale oder die Moskau-Leaks, halfen wenig. Sie lieferten im Gegenteil Material, neue Feindbilder aufzubauen und Verschwörungs- und Dolchstoßlegenden zu konstruieren. Die Sache lief sich tot. Und noch fataler: User langweilten sich. Aufregung brachte keinen Traffic mehr. Sie blieb auf Facebook oder wurde dort absorbiert. später schwappte sie vielleicht nich in Telegram-Gruppen über.

Vom hippen Neuland zum noch lauteren Stammtisch

Smith beschreibt diese Entwicklung als Generationenfrage. Coole Internetpioniere hatten Netzwerke, Suchmaschinen und Interaktion erfunden. Dann hatten ihre Eltern verstanden, wie das funktioniert, und ihren alten Zorn in diese Netzwerke mitgebracht. Aus Ironie, Hyperaktivität und der Suche nach dem nächsten heißen Ding war Ernst geworden. Und das Internet war nichts Neues, Außergewöhnliches, Fremdes mehr – nichts, dessen neue Regeln man lernen musste oder konnte, um dann einen Vorsprung vor anderen zu haben. Das Internet war, schreibt Smith, im Verlauf dieser zehn bis fünfzehn Jahre, zu einem Teil der Gesellschaft geworden, in dem sich abspielte, was sich auch sonst im der Gesellschaft abspielte. Im Internet waren alle – Rednecks, Stammtischbesucher und alle anderen, für die die liberalen Visionen der frühen Onlinemediengründer keinen Platz gelassen hatten.

Ein anderer Nebenstrang im Buch ist das Verhältnis von BuzzFeed und Disney oder der New York Times. BuzzFeed lehnte Übernahmeangebote im Höhe von hunderten Millionen, eine Bewertung summierte sich gar auf 1,7 Milliarden Dollar, immer wieder ab. Heute ist BuzzFeed wenig relevant, Disney ist eine der größten Nummern im Geschäft. Die New York Times war ein schüchterner Dinosaurier, der lernen wollte, und es schien, als könnte das alte Flaggschiff nie zu den coolen Leuten aufschliessen. Erst war die NYT nur alt und langsam, dann hatte BuzzFeed auch noch dazu die großen Scoops. Gerade diese brachten allerdings die Wendepunkte. BuzzFeed veröffentlichte – und überließ den Dingen ihren Lauf. Alle machten aus der Story, was sie wollten. Und alle machten auch aus ihrer Wahrnehmung von BuzzFeed, was sie wollten. Die Seite hatte kein Profil mehr – Interaktion fand auf Facebook statt, Nachrichten auf den alten Plattformen, und BuzzFeed hatte es mehr und mehr geschafft, obsolet zu werden. Heute ist BuzzFeed Vergangenheit, die New York Times ist die stärkste Medienmarke der Welt und ein Synonym für den Erfolg mit digitalen Abomodellen. 

Traffic verliert an Wert

Sind das gute oder schlechte Neuigkeiten für jemanden, der digitale Medien weiterentwickeln will? Die Zeiten der viralen Trafficwunder für Medien dürften vorbei sein. Nicht weil es weniger Traffic gäbe. Es gibt so viel Traffic überall, dass dieses ehemalige Gut immer wertloser wird. Es ist schwerer zu monetarisieren, schwerer zu behalten und zu steuern; User haben Ausweichmöglichkeiten. Umso wichtiger wird nachhaltiger Traffic von Usern, die häufiger wiederkommen, die bei einem bestimmten Medium bleiben und vielleicht sogar bereit sind, für dessen Nutzung zu zahlen. Das erfordert Content, die Ansprache passender Usergruppen, den richtigen Draht zwischen Usern und Content – und all das sind Anforderungen, für die sich noch nirgends die idealen Wege abzeichnen. Medien wie die NYT schaffen es mit Breite, andere mit Tiefe, alle die es schaffen, mit bestimmten Formen von Qualität. Kritisch beim breitenorientierten Zugang ist die potenzielle Reichweite: Welche Medien und ihre Märkte sind schon groß genug, um in all der Breite auch die relevanten Nischen bedienen zu können, die User dann wirklich schätzen und deretwegen sie auch bei diesem Medium bleiben? Kritisch beim spezialisierten tiefenorientierten Zugang ist die Frage, wie lange es noch funktionierende und ausreichend breite Netzwerke gibt, in denen sich solche Inhalte verbreiten können. Wer spezialisierte Inhalte erstellt verkauft, ist darauf angewiesen, dass es auch breitenorientierte Inhalte gibt, die Themen setzen, Aufmerksamkeit steuern und den Bedarf an tieferer Information wecken. Newsletter oder Podcasts, die vermeintlich Overhead einsparen und direkt zur Sache kommen, können nur solange funktionieren, wie andere den Overhead in Kauf nehmen und versuchen, damit Geschäft zu machen.

Wer kann überleben? 

Notwendige Zutaten für eine funktionierende zeitgemäße Medienlandschaft sind breitenwirksame Medien, die Themen setzen können und die für ihre Inhalte verantwortlich gemacht werden können. Es sind Netzwerke oder Suchmaschinen, mit denen Menschen Neues entdecken können. Es sind Spezialangebote und tiefgehende Inhalte, die fesseln, binden und User zurückbringen. Es ist ein Anspruch, etwas zu vermitteln – im Idealfall Orientierung, Aufklärung, Transparenz, Informationsfreiheit -, der in ein Markenversprechen gepackt werden kann und dazu beiträgt, dass User verstehen, warum sie dieses oder jenes Medium nutzen sollten. 

Überlebensfähig sind Medien, die in unterschiedlichen Ausprägungen von allem etwas bieten können. Die Bandbreite ist notwendig, weil immer auch alles schnell anders werden kann.  

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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