Sie haben korrekt zitierte Studien bei der Hand. Sie können Daten und Tabellen interpretieren und eigene Visualisierungen erstellen. Sie kennen die relevanten Datenpools, sie können die Insignien wissenschaftlicher Autorität lesen und ausspielen – und sie sind Verschwörungstheoretiker, Impfgegner oder Söldner politischer Kampagnen.
Bildung ist das beste Rezept gegen den Erfolg von Populisten, gegen gesellschaftliche Spaltungstendenzen und hin zu einer friedlicheren Zukunft, in der relevante Probleme gelöst werden können – das ist das Mantra der Optimisten, die sich in allen politischen Sphären finden können. Gebildete Menschen werden bessere Entscheidungen treffen.
Ein großer Teil jener Verschwörungstheoretiker, Impfgegner und geheimen Militärstrategen oder jener vermeintlichen Opfer populistischer Politiker ist allerdings alles andere als ungebildet. Ihre Behauptungen instrumentalisieren wissenschaftliche Studien, argumentieren mit gründlich durchforsteten Datensätzen, erstellen Visualisierungen, kritisieren Informations- und Argumentationslücken in veröffentlichten Unterlagen und fordern die Einhaltung komplexer logischer Zusammenhänge, die die logische Stringenz des Alltags – in dem nicht alles in geordneten Bahnen verläuft – überfordert.
Welche Bildung möchte man jenen Menschen nahelegen, die mühelos auf einem mathematisch-logisch-wissenschaftlichen Instrumentarium spielen?
“Wir müssen besser kommunizieren” – das sagen PolitikerInnen nach Wahlniederlagen. “Wissenschaftskommunikation ist so wichtig”, sagen WissenschaftlerInnen und UniversitätsmanagerInnen und organisieren Veranstaltungen, bei denen als Fruchtfliegen oder Elektronen verkleidete NachwuchsforscherInnen lustige Effekte auf Bühnen demonstrieren. “Wir müssen die Menschen und ihre Sorgen ernst nehmen”, sagen bedächtige VerantwortungsträgerInnen.
All diesen Ankündigungen sind einige Grundsätze gemein:
Erstens sehen sie Defizite beim Kunden, bei den viel strapazierten Menschen da draußen. Sie verstehen das Angebot nicht – also muss es besser kommuniziert werden. Die Option, dass das Angebot nicht interessant ist, wird nicht in Betracht gezogen. Das ist das Zeugen-Jehovas-Prinzip der Kommunikation: Man läutet an irgendeiner Tür und versucht, sein Gegenüber in ein Gespräch über bestimmte Themen zu verwickeln – ohne Rücksicht darauf, ob der- oder diejenige das will, gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt ist oder vielleicht nur auf die Toilette muss. Die Annahme ist: Wenn sie nur wüssten, wie toll wir sind, dann werden sie uns auch toll finden.
Der zweite gemeinsame Grundsatz: Bestehende Rezepte gelten als Lösungen. Es gibt wenig Grund, sie zu verändern. Das Problem liegt nicht an Ideen und Konzepten, es liegt an den Menschen, die sich nicht ausreichend mit diesen auseinandergesetzt haben.
Ein dritter gemeinsamer Punkt betrifft weitere Unterstellungen an die Zielgruppe: In der Politik heißt es, Menschen entschieden nach kulturellen Gesichtspunkten, nach bloßen Wohlfühlkriterien – deshalb lassen sie sich von xenophobem Marketing beeindrucken, ohne die Konsequenzen von Migration auf das Wirtschaftswachstum zu berücksichtigen. Sie stimmen Law- & Order-Politik zu, ohne problematische soziale Erfahrungen gemacht zu haben. Sie haben zu wenig technisch-mathematisches Knowhow, um technische Abläufe einschätzen zu können, zu wenig Erfahrung mit komplexen abstrakten Zusammenhängen, um wissenschaftliche Aussagen einordnen zu können.
Ein kleiner Einschub dazu: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es solche Gruppen von Menschen gibt. Es ist durchaus zu bezweifeln, ob manche Gruppen von Menschen mit irgendwelchen Botschaften über irgendwelche Kanäle überhaupt erreicht werden können und was aus Inhalten, die sie auf verschlungenen Wegen erreicht haben dann wird. Die Rhetorik vergangener Jahrzehnte, die gerne Massen oder noch lieber “die Masse” instrumentalisiert, ist aber schon durch die simple Tatsache angekratzt, dass die Massen heute selbst reden. Vermeintliche Eliten konnten schon länger vermeintliche Sozialhilfeempfänger in der sozialen Hängematte denunzieren, die morgens nicht aufstehen. Das Bild ist eine Karikatur. Und die vermeintlichen Sozialhilfeempfänger können heute ihrerseits vermeintliche Eliten karikieren, die schon im Elitekindergarten Elitekontakte knüpfen und nie vor der Herausforderung standen, ein lebensnahes Problem selbst bewältigen zu müssen. Auch in dieser Charakteristik werden sich nur wenige Menschen wiederfinden.
Mehr Menschen haben also mehr Möglichkeiten, Phantombilder von denen da draußen, denen da unten oder denen da oben zu zeichnen – und die Menge dieser Bilder macht die Situation nicht gerade übersichtlicher.
Eines dieser Bilder ist die Legende vom vom Populisten verführten Arbeiter, der gegen seine eigenen Interessen entscheidet. Dazu hat Philipp Manow relevante Ergebnisse geliefert.
Ein anderes Bild ist eben das der Unbedarften wenig Gebildeten, denen Bildung zu einer besseren Zukunft verhelfen wird. Das Zukunftsversprechen von Bildung ist natürlich politisch geprägt: Der gebildete Sozialist wird die Notwendigkeit der Revolution erkennen, die gebildete Liberale wird ihr Leben selbst in die Hand nehmen, der gebildete Konservative wird den Vorfahren und den Mächtigen Respekt zollen. – Allein diese schon an der Oberfläche so unterschiedlichen Verheißungen von Bildung sollten uns zu denken geben. Aber was sind ganz konkrete und etwas spezifischere Themenfelder, in denen Bildung als spielentscheidend betrachtet wird?
In den letzten zwei Jahren beschäftigen sich viele Studien mit dem epistemischen Weltbild von Corona-LeugnerInnen und ImpfskeptikerInnen. Die Frage nach dem epistemischen Weltbild zielt darauf ab, was jenen Menschen einen Grund gibt, Aussagen oder Daten zu akzeptieren, was also als Wahrheitskriterium gilt. Eine erste Unterstellung ist oft, mystische Weltbilder und Esoterik zu vermuten. Das steht nun in krassem Gegensatz zu jenen Situationen, in denen Menschen jenseits des wissenschaftlichen Konsenses umso strenger mit techno-mathematischen Argumenten punkten wollen. Dieser Fokus auf Mathematik kann manchmal plump und manchmal auch falsch sein: So bezweifelte der österreichische Fernsehsender Servus TV in seiner Corona-Berichterstattung die Gültigkeit von Statistiken, die Aussagen über kleine Populationen treffen und insinuierte in seiner Berichterstattung, durch solche Statistiken würden Infektionszahlen in die Höhe getrieben. Konkret: Wie könne ein Dorf mit nur 1000 EinwohnerInnen eine Inzidenz von 200 pro 100000 EinwohnerInnen haben? Wenn es die 100000 EinwohnerInnen nicht gibt, dann könne es ja auch die 200 Infizierten nicht geben – also seien alle Zahlen in Zweifel zu ziehen.
Das ist ein plumpes und dummes Beispiel. Es hilft aber, ein Muster in anderen Kritikformen zu diagnostizieren, auch wenn diese deutlich besser argumentieren und nicht auf simple Rechenfehler angewiesen sind, um ihren Punkt machen zu können.
Forscherinnen des MIT haben 2021 verschiedene Gruppen von Corona- und ImpfgegnerInnen beobachtet, ihre Rhetorik analysiert und vor allem ihren Gebrauch von Daten, wissenschaftlichen Studien und Visualisierungen untersucht. Die Detailergebnisse lassen Rückschlüsse darauf zu, welche Art von Visualisierungen bei welchen Gruppen besonders populär sind – und es sind, für manche vielleicht überraschend, die besonders komplexen, besonders detailreichen Visualisierungstypen, die bevorzugt in der Verteidigung wissenschaftlich unorthodoxer Positionen eingesetzt werden. Die Komplexität wird dabei auch nicht als Nebelgranate eingesetzt, die mehr Verwirrung stiften als Klarheit schaffen soll. Die Komplexität und die damit zunehmende Vielschichtigkeit, wie Daten interpretiert werden können und welche Lücken sich in der zugrundeliegenden Datenbasis vermuten lassen, wird vielmehr dazu eingesetzt, Schwächen in den offiziellen Schlüssen aus diesen Daten aufzuzeigen. Daten werden dann als nicht detailreich genug infrage gestellt, es wird hinterfragt, warum nicht alle Erhebungsmethoden, Rohdaten und Berechnungsschritte offengelegt sind – und es wird besonderes Augenmerk auf mathematische Ausreißer gelegt, die mit der offiziellen Hypothese nicht ausreichend erklärt werden können.
An mangelnder Bildung oder mangelndem mathematisch-technischem Knowhow kann es also nicht liegen, dass Ergebnisse und Einschätzung oft diametral jenen offizieller Institutionen entsprechen. Der aufklärerische Gestus legt auch nahe, dass Gegenwissenschaften sich selbst – und ihren volksbildenden Anspruch – durchaus ernst nehmen. Die mathematischen und statistischen Argumente sind oft korrekt.
Wo ist der Fehler dann zu suchen?
Die Betonung von Komplexität, die Suche nach Details und das Beharren auf methodisch überkorrekten Ableitungen sind oft Indizien für die Überstrapazierung von Wissenschaft. Wissenschaft soll Handlungsanleitungen und Empfehlungen für sozial und politisch richtige Entscheidungen geben. Etwas, das Wissenschaft als Methode nie für sich in Anspruch genommen hat.
Wissenschaftliche Ergebnisse gelten unter bestimmten Bedingungen für bestimmte Situationen, auch ihre Extrapolation oder Interpretation unterliegt strengen Regeln. Mit jeder Erweiterung nimmt die exakte Gültigkeit ab.
WissenschaftlerInnen und ExpertInnen wissen um den Geltungsbereich ihrer Ergebnisse. Der Versuch, diesen Geltungsbereich zu verlassen, käme dem Versuch gleich, mit Dunning-Kruger-Patienten mithalten zu wollen, die mit voller Überzeugung ihre eigene Ahnungslosigkeit ignorieren, aber umso sendungsbewusster sind.
Harry Collins kam in seinem Versuch, wissenschaftliche Expertise von anderen Formen des Know Hows abzugrenzen, letztlich auch nur zu dem Schluss, an goodwill zu appellieren: Wissenschaftliche Expertise unterscheidet sich dann maßgeblich von anderen Formen des Wissens, wenn diese Unterschiede akzeptiert werden und vor allem auch die Grenzen der Wissenschaftlichkeit als Stärke anerkannt werden und nicht in ihrer Beschränktheit eine auszunutzende Schwäche gesucht wird.
Mathematische Disziplinen oder auch Felder angewandter Informatik die Data Science fördern diese ungünstige Entwicklung. Starke Orientierung auf den Prozess und eine schwache Verbindung zur Ausgangslage, zum eigentlichen Gegenstand, von dem stark abstrahiert wird, verstärken das Problem. Die Perspektive auf Denken und Forschen als Gespräch geht verloren.
Der Fokus auf die Methode liegt durchaus im Kern der Wissenschaftlichkeit. Allerdings begründet diese Ausrichtung oft Missverständnisse, wenn vorausgesetzt wird, dass formale Methoden auch auf Gegenstände angewendet werden könnten, deren Formalisierungsregeln erst ausgearbeitet werden müssen.
Häufige Beispiele dafür finden sich in mathematischen Metaphern und Modellen für wirtschaftliche Fragestellungen. Da werden Gleichungen aufgestellt, Formeln bemüht, manchmal schwappt Mathematik auch in Physik über und wir haben es mit Waagen, Röhren, Gefäßen und Fließbewegungen zu tun. Mathematische Metaphern können sehr nützlich sein, wenn sie punktuelle Sachverhalte veranschaulichen sollen. Die Regeln der Mathematik sind klar, damit sind auch die Aussagen der Metaphern klar. Allerdings bergen sie Missverständnisse: Gleichungen etwa werfen die Frage auf, ob sie Identität oder Gleichgewicht ausdrücken sollen. Bei allen Modellen steht die Frage im Raum, ob sie einen Zustand, ein Ziel oder vielleicht gar ein Problem beschreiben. Und Mathematik und Physik als klar definierte Regelsysteme können stets weiter ausgebaut werden. In der Mathematik können Gleichungen umgeformt werden, die Anwendung von Grundrechenarten gibt die Regeln für Erweiterungen und Reduktionen vor.
Auf Sachverhalte können diese Regeln meist nicht angewendet werden. Dieses Missverständnis entsteht aber oft – und es verfälscht die Perspektive darauf, sie sich Sachverhalte und Theorien dazu entwickeln können. Wir können nicht alles auf sinnvolle Art und Weise halbieren, es ist nicht immer möglich, zwei zu addieren.
Die mathematische Extrapolation von allem und jedem ist eine andere Spielart der Verallgemeinerung persönlicher Perspektiven und Vorurteile – sie benötigt zwar mehr formale Bildung, führt aber zu ebenso falschen Ergebnissen.
Das sind methodische Probleme. Diese finden wir bei jenen, die der Faszination von Zahlen erliegen und plötzlich alles datengetrieben vorantreiben möchten. Wir finden sie aber auch bei jenen, die mit vermeintlicher Logik und Rationalität die Schwächen anderer aufdecken möchten
Logik und Rationalität müssen sich ihrer eigenen Schwächen bewusst sein. Sie funktionieren nur innerhalb ihrer Systemgrenzen. Sie selbst können nicht entscheiden, wie zwischen diesen Systemen gewechselt werden kann.
Das klingt auf den ersten Blick esoterisch, ist aber der Kern von David Bloors Soziologie des Wissens. Es ist ein Irrtum, Rationalität alle Fortschritte in Wissen und Erkenntnis zuzuschreiben und Irrtümer mit auszuräumender Irrationalität zu verbinden. Rationalität beschreibt eine Methode, die verlässlich und eindeutig funktioniert, solange wenig Alternativen zur Diskussion stehen. Sobald Alternativen und Optionen verfügbar sind, reicht Rationalität nicht mehr aus. Werte, Vorlieben und Vorurteile sind jetzt die Regelsysteme, nach denen wir die wirklich großen Entscheidungen treffen. Danach regiert dann wieder Rationalität – bis die nächste große Entscheidung ansteht.
Evidenz, Daten oder Mathematik helfen nicht dabei, das letzte Argument zu finden. Das rationale Argument ergibt nur dann Sinn, wenn es eine wertgetriebene Entscheidung unterstützt (oder ihr widerspricht). Im Rahmen einer anderen wertgestützten Entscheidung ergibt es keinen Sinn – es stützt sich auf Prämissen, die es hier nicht gibt.
Der Versuch, mit rationalen Argumenten, Mathematik oder formell einwandfreier Wissenschaftlichkeit letzte Gründe und Argumente finden oder gar Fragen nach dem Sinn beantworten soll, ist stets manipulativ. Dieser Versuch ist vor allem ein Versuch, die Entscheidung und ihre Gründe zu überdecken.
Bei allem Respekt für mathematische Gründlichkeit, logische Stringenz und rationale Unaufgeregtheit ist es doch genau dieser Weg der Überstrapazierung von Wissenschaft und wissenschaftlicher Methode, der geradewegs in jene Pizzerien-Keller führt, in denen kosmopolitische Eliten Kinderblut trinken.
Jede stringente Wissenstheorie schließt auch den Punkt ein, der mit den Argumenten dieser Wissenstheorie nicht erklärt werden kann. Ich nenne diese Punkte Rumpelkammern und sie erfüllen einen wichtigen Zweck: So wie Rumpelkammern in Häusern nehmen diese Rumpelkammern der Theorie all das auf, das wir im Moment nicht brauchen können. Wir haben keine Verwendung dafür, wissen gerade vielleicht auch gar nicht, was es überhaupt ist – aber wir können und wollen uns davon nicht trennen. Vielleicht fällt uns zu einem späteren Zeitpunkt ein, was wir damit machen können, vielleicht werfen wir es später auch weg. Rumpelkammern sind sehr nützlich und sie erleichtern unser Leben – solange, bis sie sich doch unvermittelt und plötzlich ins Rampenlicht drängen, etwa weil sie ausgeräumt, übersiedelt, aufgeräumt oder geputzt werden sollen. Dann sind sie ein großes Problem.
Der Umgang mit Anomalien in Kuhns „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ ist so eine Rumpelkammer, Lakatos‘ Schutzgürtel von Hilfshypothesen ist eine Rumpelkammer, jede Formulierung, die Annahmen als Selbstverständlichkeiten oder als nicht zur Diskussion Stehendes einmahnt, ist eine Rumpelkammer.
Rumpelkammern sind kein Problem für Wissenstheorie. Aber es ist eine Herausforderung für Wissensphilosophie, vor allem in Hinblick auf datengetriebenes Wissen, eine Theorie zur angemessenen Einbindung von Rumpelkammern zu entwickeln. Das ist nützlicher, als auf Daten, Evidenz und Bildung zu beharren.