Christine Lagorio-Chafkin, We are the Nerds

Christine Lagorio-Chafkin, We are the Nerds

Reddit ist seit dieser Woche börsenotiert. Die Reddit-Story erzählt, wie die Geschichte vieler Onlineplattformen der letzten 20 Jahre, wie Neugierde und Experimentierfreude Extremen und Radikalisierungen in alle Richtungen weichen müssen.

Medium, Plattform, Publisher oder Free Speech-Protagonisten – Reddit war eine der ersten großen Plattformen, die einen Exit hinlegten. Für bescheidene, damals aber angemessene zehn Millionen Dollar kaufte Condé Nast 2006 die neuartige Plattform. Eine Tech-Plattform als Teil eines Medienhauses, das machte die Fragestellungen zur eigenen Identität zwischen reinem Kanal und für Inhalte verantwortlicher Plattform umso drängender. Sie sind aber bis heute offen. 

Lagorio-Chefkins Reddit-Buch, auch schon wieder sechs Jahre alt, ist ein schöner Streifzug durch Startup-Geschichte: Reddit war eines der ersten Projekte des damals neu gegründeten Y Combinator-Inkubators. Ebenfalls im ersten Jahrgang unter anderem: Sam Altman, späterer Open AI-Mitbegründer, oder Justin Kan, der mit seltsamen Liveübertragungen experimentierte, woraus später Twitch wurde. 

Plattformen in Abhängigkeit von Usern

Condé Nast war damals so ratlos, was mit der Übernahme anzufangen wäre, wie es Medien gegenüber Plattformen großteils heute noch sind. Zwei Jahre nach der Übernahm wuchs der Druck, zumindest eine Million Dollar Einnahmen zu erwirtschaften. Vergangenes Jahr hat Reddit das selbst gesetzte Ziel, eine Milliarde Dollar zu erwirtschaften, deutlich verfehlt, aber trotzdem über 800 Millionen Umsatz erzielt. Schon früh waren die Moderatoren einzelner Subreddits relevante Pressure Groups, die großen Einfluss auf Wachstum und Ausrichtung des Unternehmens ausüben konnten. Und auch heute noch wird in Hinblick auf den bevorstehenden Börsegang von Reddit viel darüber diskutiert, welchen Einfluss renitente Moderatoren und deren Ankündigungen, den IPO zu boykottieren, auf die ersten Börsewochen haben werden

Wichtigste Entwicklung in der Geschichte von Reddit ist aber die Verschiebung der politisch relevanten Strömungen bei den maßgeblichen Inhalten und Benutzergruppen. Ähnlich wie bei der Entwicklung von BuzzFeed, die im gleichen Zeitraum ab 2005 stattfand, haben anfangs liberale Strömungen sowohl die konkrete Plattform als auch das neue soziale Internet geprägt. Fast wie zu Zeiten der 68er-Autoritätskritik waren neue Onlinemedien Kanäle, die neuen anderen Inhalten Publikum brachten, die traditionelle Mittelsmänner ausschalteten und Chancen zu vervielfachen schienen. Was traditionelle Medien konnten, konnte das Internet hundert Mal.

Zwischen Free Speech und Verantwortung

Erste Gegenreaktionen waren drohende Regulierungen zu Copyrightverletzungen und Fragen der Haftbarkeit. Das grundlegende Problem dieser ersten Welle an Einwänden blieb allerdings auf dem Niveau von „Dürfen die das denn?“. Nebenfronten, die sich daraus entwickelten, war etwas die Open Access Bewegung für wissenschaftliche Publikationen, oder frühe Transparenz- und Informationsfreiheitsbewegungen. Zentrale – tragische – Figur  dieser Themen war Aaron Swartz, der über Y Combinator in der Frühphase zu Reddit stieß, bald nach dem Exit verabschiedet wurde und nach einem groß angelegten Open Access-Hack in Konflikt mit FBI und Justiz geriet. Swartz, der auch in diesem Buch als schwieriger Charakter porträtiert wird, erhängte sich noch vor Prozessbeginn. 

Nächstes großes Konfliktpotenzial waren früh schon Fake News und Desinformation – einige Jahre, bevor das so hieß. Ersten Anlass dazu gaben die Anschläge beim Boston Marathon. Reddit User beschäftigten sich mit einer Reihe falscher Fährten, identifizierten zwei falsche Verdächtige, die in der Folge sogar die Titelblätter von Zeitungen zierten und ließen sich auch nicht durch Aufrufe der Behörden, keine Spekulationen zu verbreiten, von ihren Aktivitäten abbringen. Neues Ziel war ein vermisster Student, dessen muslimischer Familienhintergrund zum Täterprofil passte. Der Student wurde einige Zeit später tot aufgefunden, er hatte sich schon vor dem Anschlag, mit dem er in keinerlei Zusammenhang stand, selbst getötet. Die Desinformationswelle verbreitete falsche Informationen, Verschwörungstheorien und vermeintliche Enthüllungen über durch Behörden unterdrückte Beweismittel und kam dabei ganz ohne den Input russischer oder chinesischer Trollfarmen oder KI-generierte Manipulationen aus. 

Hatespeech, Rassismus, Doxing, Frauenfeindlichkeit und die üblichen Katz- und Maus-Spiele mit Usern und Moderatoren waren immer wieder die Grundlage für Machtspiele entlang der Grenzen des Sagbaren und für die Frage, wieviel Freiheit man online gewähren kann, ohne selbst die schlagendsten Argumente für die Einschränkung dieser Freiheiten zu liefern

Der Endgegner einer noch immer andauernden Auseinandersetzung aber sollte Donald Trump sein. Der Subreddit r/The_Donald wurde zu einer der am schnellsten wachsenden Gruppen, die sehr oft die Grenzen dessen überschritt, was als sagbar gelten konnte. Bislang hat sich Reddit möglichst dagegen entschieden, solche Gruppen aufzulösen – auch, um sie im Tageslicht zu behalten. Heute sind große Plattformen bequem, aber sie sind nicht mehr notwendig. Messengerdienste und ihre Gruppenfunktionen sind passende Alternativen. Wichtig war allerdings die erste Phase der Vernetzung und der Schaffung von Sichtbarkeit.

Das knüpft am Anfang der Geschichte von Reddit und den anderen Plattformen an. In der Frühphase gehörten sie Nerds und waren Orte liberalen Experimentierens. Dort geschahen seltsame Dinge, das Internet war etwas anderes. Dort musste man „hinein“, es war nicht selbstverständlich und es war etwas neben der Gesellschaft. 

Spätestens mit Obama wurde das Neue normal. Obama war ein Zeichen dafür, dass sich das Neue möglicherweise durchsetzen könnte. Einige Huffington Post-Investoren, schreibt Ben Smith, machten ihr Investment davon abhängig, ob Obama die Wahl gewinnen würde, denn dann witterten sie Chancen. Obama hatte Facebook- und Twitter-Accounts und absolvierte einen „I am … – Ask me Anything“-Chat auf Reddit. 

Was liberale (im amerikanischen Sinn) konnten, konnte Konservative allerdings auch. Ben Smith beschreit, wie es zum Problem für BuzzFeed wurde, als Facebook erwachsen geworden war und mehr konservative Selbstbestätigung als Experimentierfreude bediente. Facebook und das Internet waren kein spezieller Teil der Gesellschaft mehr, sie bildeten ab, was die Gesellschaft beschäftigte. 

Radikalisierung mit Businessplan

Reddit erlebte das gleiche Schicksal. Jene, die vor ein paar Jahren Plattformen gern noch zensuriert hätten, erkannten nun das Potenzial zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen. Hat Reddit zu Trumps Wahlsieg beigetragen? Hätte es noch mehr zu dessen Popularität beigetragen, seine Anhänger von der Plattform zu verbannen?

Digitale Plattformen machen Aktivität sichtbar uns tragen zu Vernetzung bei. Das gilt für Teenies auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt ebenso wie für Rassisten auf der Suche nach Beifall und Gruppendynamik. Damit haben sich Netzwerkplattformen von Soziallaboren über Zensurkandidaten zu den Lieblingswerkzeugen aller möglichen Extreme gemausert. Mittlerweile haben auch eigene Plattformen, in denen man noch sicherer noch schneller Gleichgesinnte findet, das Potenzial, ausreichend schnell ausreichende Größenordnungen zu erreichen. 

Plattformen selbst kämpfen nach wie vor mit Business-Zielen. Andere Geschäftsmodelle als Werbung haben sich noch nicht etabliert, und auch Werbung ist oft nicht ausreichend. Es besteht durchaus die Gefahr, dass Plattformen traditionellen Medien Einnahmen absaugen – aber dennoch nicht genug zum Leben haben. Alternative Plattformen und ihre User sind da manchmal einen Schritt voraus. Wer eine lukrative Agenda hat, hat eben mehr von Reichweite und Netzeffekten. Das zeigt sich in der Politik-Finanzierung (wenn Kirchen und konservative Stiftungen für ihre Interessen lobbyieren), und das zeigt sich im Ausbau digitaler Netzwerkplattformen. Aufklärung kann man nicht verkaufen, um Spenden kann man in funktionierenden Demokratien, die ihre Politik gut finanzieren, nicht ewig bitten, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. 

Aber man kann guten Gewissens unverschämt sein. Eine solide Datenbasis ist durchaus etwas Nettes, allerdings ist sie nur eingeschränkt effizient, wenn ihr nicht die entsprechende Produktpalette gegenübersteht. PolitikerInnen einer Partei sind ein eingeschränktes Angebot. Der aktuelle Trump-Wahlkampf macht einmal mehr vor, wie sich Reichweite und Datenfülle bezahlt machen: Wählerstimmen, Trump-Messer, Trump-Tassen, Ivermectin-Carepakete gegen Long Covid für wohlfeile hundert Dollar (ist Covid jetzt doch gefährlich?) oder Chuck Norris-zertifizierte Investment-Pakete zur Rettung des Dollars vor dem Euro und den Brics-Staaten sind nur ein paar Angebote, mit denen Kontakte aus dem ehemaligen Parler-Netzwerk versorgt werden. 

Parler selbst erzählt die gleiche Geschichte davon, dass Internet, Politik und Gesellschaft nicht mehr getrennt werden können. Parler startete als Gegenbewegung zu liberal verseuchten Netzwerken, ist aber offline, seit es sich von einer Hack-Attacke nicht mehr erholte. Der Untergang des Netzwerks war zugleich dessen stärkster Wachstumsmotor. Ein eigenes Netzwerk ist gar nicht notwendig, die Story von unfairen Attacken dagegen (und gegen die Rechten und Gerechten) ist viel effizienter. 

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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