David Graeber, The Dawn of Everything

David Graeber, The Dawn of Everything

Huronen-Häuptlinge waren den Aufklärern ebenbürtige Intellektuelle, Politik ist älter und komplexer als angenommen und der Einfluss von Europa wird überschätzt. - Alles in der Geschichte hätte immer auch anders sein können.

Alles hätte auch anders sein können, immer. David Graeber und und David Wengrow liefern eine Reihe von Hinweisen dafür, dass die Kulturgeschichte der Menschheit nicht nur anders hätte verlaufen können und an jedem beliebigen Punkt andere Wendungen hätte nehmen können, sie argumentieren vielmehr auch, dass vieles vermutlich deutlich anders verlaufen ist, als in der Geschichtsschreibung letztlich festgehalten wurde. Damit wenden sie sich vor allem gegen populären Determinismus, den erfolgreiche Autoren wie Yuval Harari predigen – und der mit seiner Eindeutigkeit Erklärkompetenz suggeriert und den Autoren Erfolge beschert. Bei Graeber und Wengrow bleibt vieles weniger eindeutig.

Ein Ausgangspunkt ihrer Recherchen ist Rousseaus Frage nach der Entstehung von Ungleichheit. Warum, fragen sie sich, ging er davon aus, dass einmal Zustände der Gleichheit gab? Rousseau ist mit dieser Annahme nicht allein; Spekulationen über Urzustände – seien sie friedlich oder kriegerisch – waren lang in Mode. 

Graeber und Wengrow zeichnen nach, wie Herrschaftsformen und soziale Organisationen in unterschiedlichsten Gesellschaften lange vor moderner Politik oder europäischen Einflüssen bestanden. Viele ihrer Forschungen beschäftigen sich mit mittel- und nordamerikanischen Gesellschaften und unterschiedlichen möglichen Entstehungsgeschichten von Herrschaft. Diese kann etwa das Resultat von Krieg und Unterwerfung sein, aber auch das Ergebnis von Fürsorge: Wohlhabenden fiel die Aufgabe zu, Waisen, Kriegswitwen oder Arme zu versorgen – was ihnen loyale Gefolgschaften sicherte.

Die beleg- und detailreiche Erzählweise macht das Buch nicht immer leicht und angenehm zu lesen. 

In Erinnerung bleiben aber etwa die Konversationen des Huronen-Führers mit Kondiaronk mit französischen Jesuiten, in denen Kondiaronk europäische Herrschafts- und Sozialsysteme aufs Korn nahm und – den Aufzeichnungen des Jesuiten nach – ein freierer Freigeist gewesen sein muss als die europäischen Aufklärer. Freien Huronen erschien europäische Zivilisation als Sklaverei und monotheistische Religion als unglaubwürdiger Spuk. 

Es ist möglich, dass Kondiaronk einige Zeit in Europa verbracht hat; möglich ist auch, dass Autoren, die von Konversationen mit ihm berichten, Positionen etwas überzeichnet haben. Plausibel ist jedenfalls, dass Kondiaronk eines der Urbilder des „edlen Wilden“ ist. Wobei diese Begriff als spöttische Überzeichnung europäischer Nationalisten seine Karriere startete. Rassisten hielten die Existenz Intellektueller außerhalb Europas für unmöglich und verspotteten die Literatur transatlantischer Dialoge als überzeichnete Romantik.

Zusammenarbeit, Herrschaft, Kooperation, Zwang, Freiheit – auf allen Kontinenten und über mehrere Jahrhunderte hinweg lassen sich unterschiedlichste Belege für die Organisation früher Gesellschaften finden. Das zentrale Argumenbt von Graeber und Wengrow: Diese Vielfalt und die vielfältigen Übergänge zwischen einzelnen Organisationsformen zeigen, dass es immer Optionen und Handlungsspielräume gibt. Soziale Entwicklung folgt nicht notwendigerweise Zwängen und Alternativlosigkeiten, es gibt immer auch Optionen. 

Das ist eine der Schnittmengen zwischen liberalen und anarchistischen Positionen.

Und es ist eine Position, die sich mehr und mehr in der Gesschichtswissenschaft durchsetzt. Man verabchiedet sich von Teleologien und dem Gedanken einer fortlaufenden Entwicklung zum Besseren. Denn dieser Gedanke setzt voraus, dass frühere Generationen und Gesellschaften zwangsläufig auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe standen; das verleitet dazu, Entscheidungen und Prozesse nicht ernst zu nehmen oder sie schnell mit fragwürdigen Erklärungen abzutun. Frühere Generationen haben genauso intensiv überlegt, geplant und gehofft wie wir. Und sie sind ebenso ernstzunehmen, wie wir uns ernstnehmen. 

Der Gedanke der ständigen Entscheidbarkeit – wir können jeden Moment wählen, in welche Richtung wir gehen – soll auch verdeutlichen, dass die Zukunft gestaltbar ist. Für Graeber bedeutete das: Anarchistische und antikapitalistische Positionen müssen sich nicht zwangsläufig an der Vergangenheit orientieren; sie könnten Perspektiven für die Zukunft zeigen. Graeber starb während der Arbeit an diesem Buch. 

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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