„Fakten sind doch per Definition wahr!“ – das hielt mir unlängst jemand entgegen, der meine Notizen zu Knorr Cetinas „Die Fabrikation von Erkenntnis“ gelesen hatte. Das ist ein interessanter Einwand – allerdings weniger seiner eigentlichen Intention nach, sondern weil damit die Rolle und Funktion von Definitionen in den Mittelpunkt gerückt werden.
Kurz zum Ausgangspunkt: Knorr Cetina vertritt pragmatisch-konstruktivistische Positionen zu Wahrheit und Erkenntnis. Denen zufolge finden wir keine Fakten, wir nähern uns nicht einer Realität, die es zu entdecken gilt, sondern wir – je nach Perspektive – einigen uns auf Fakten, wir schaffen sie oder wir setzen sie innerhalb eines Regelsystems, um innerhalb dieses Systems weiterarbeiten zu können. Grundsätzlich ist das in der Wissenschaftsphilosophie seit der Kritik an Francis Bacon und dessen Idee, einen über der Welt liegenden Schleier lüften zu wollen, weitverbreiteter Konsens. Also etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Gerade unter Menschen, die viel mit scheinbar einfachen und klaren Zusammenhängen zu tun haben – oft im Finanzbereich, manchmal auch unter Technikern – ist diese Sichtweise heute noch umstritten. Eigentlich ist das zu kurz gegriffen: Es stößt manche nach wie vor vor den Kopf. Und dann entstehen solche Gegenargumente wie jenes mit den Definitionen.
Definitionen kommt bei allen Auseinandersetzungen mit dem Themenkreis rund um Daten, Fakten oder Wahrheit eine tragende Rolle zu. Definitionen machen Begriffe greifbar, so dass überhaupt erst sinnvoll darüber gestritten werden kann, ob etwas wahr ist oder nicht. Zugleich ist die Notwendigkeit von Definitionen aber ein Hinweis darauf, dass ein Begriff problematisch ist und nähere Untersuchung braucht.
Definitionen von Daten, Fakten und Wahrheit sind so alt wie die moderne Wissenschaft selbst. Die frühen experimentierenden Wissenschaftler der Royal Society des 17. Jahrhunderts schufen durch ihre Experimente Fakten, die ganz gezielt als möglichst neutrale, nicht näher zu hinterfragende, aber durchaus interpretationsbedürftige Wissenselemente zu sehen waren. Fakten waren etwas Wahrnehmbares und Messbares. Wahrheit allerdings war etwas anderes. Beobachtbare Fakten führten Robert Boyle, Experimentator mit der Luftpumpe, zu der Annahme, es müsse so etwas wie einen luftleeren Raum geben. Rationalistische Dogmatiker wie Thomas Hobbes schlossen aus den gleichen Fakten, dass dort, wo keine Luft war, Äther sein müsse – denn Leere könne es nicht geben.
Fakten sind etwas gemachtes – das sagt schon der Wortstamm.
Umso größerer Hoffnungsträger waren Daten. Schließlich suggeriert deren Wortstamm, sei seien simpel gegeben. Nachdem Daten aber ebenso gewissen Kriterien, in mancherlei Hinsicht sogar bestimmten Formaten entsprechen müssen, stellt sich auch hier bei geringfügig näherer Betrachtung heraus: Daten sind nicht so einfach, sie sind auch nicht gegeben, sie sind ebenfalls gemacht. Wie Fakten. Oder sie sind zumindest gesammelt – Data sind eigentlich Capta, um bei lateinischen Wortstämmen zu bleiben.
Das führt jetzt endlich zu Frage der Definitionen. Definitionen sind etwas anderes als Theorien und als Kriterien. Eine Definition von etwas liefert noch nicht unbedingt Hinweise dafür, wie etwas als das Definierte zu erkennen sei. Beliebte Beispiele dafür kommen aus der Chemie: Die Definition von Flüssigkeiten als sauer oder basisch setzt an deren pH-Wert an. Das Kriterium, um über diese Eigenschaft einer Flüssigkeit zu entscheiden, liefert die Färbung eines Teststreifens. Eine Definition hat also recht wenig mit Wahrheit zu tun oder mit der Frage, ob die als notwendig definierten Eigenschaften tatsächlich vorliegen. Das muss auf anderer Ebene festgestellt werden.
Die Wissenschaftstheorie kennt mehrere Arten von Definitionen:
Stipulative Definitionen legen die Bedeutung eines Begriffs fest. Oft führen stipulative Definitionen neue Begriff ein, die als Kürzel für bislang mit mehreren Bedingungen beschriebene Sachverhalte eingesetzt werden.
Deskriptive, nominale Definitionen beschreiben, sie erklären etwas mit anderen Worten. Oft werden dabei auch Kriterien aufgezählt.
Reduktive Definitionen schließlich führen Begriffe auf Bekanntes zurück. Reduktiv definierte Begriffe sind Kombinationen anderer, als bekannt vorausgesetzter Begriffe.
Deskriptive und reduktive Definitionen funktionieren im Idealfall ähnlich wie Mathematik. Sie setzen auf einem funktionierenden akzeptierten System auf, so wie Mathematik etwas herleiten, berechnen oder beweisen kann, weil es zuvor so festgelegt wurde. Das Ergebnis einer mathematischen Fragestellung ist immer schon in den Regeln der Mathematik enthalten. Aber manchmal sind die Regeln kompliziert anzuwenden. Dennoch: Regeln sind meistens Konventionen. Ihre Wahrheit liegt darin, dass sie akzeptiert sind. Oft basieren Regeln auf Näherungen (wie bei der Arbeit mit Funktionen und Ableitungen), manchmal sind sie auch Erfindungen, deren Zweck es ist, etwas möglich zu machen – so wie imaginäre Zahlen eingeführt werden mussten, weil die bislang geltenden Regeln bei manchen Prozessen trotz korrekter Ausführung unmögliche Ergebnisse produzierten. Eine Wurzel aus -1 kann das Ergebnis einfacher Rechnungen sein, aber sie kann mit diesen einfachen Rechnungen nicht dargestellt werden.
Deskriptive und reduktive Definitionen sind analytische Techniken. Vorher hergestellte Zusammenhänge werden nachher untersucht. Daher eignen sie sich nicht für die Arbeit mit großen unscharfen Begriffen wie Wahrheit. Das zeigt sich nicht nur in der Mathematik. Auch das Rechtssystem ist ein komplexes geschaffenes System, das erst geschaffen wurde, dann analysiert und auf seine Grenzen hin untersucht wird – und dabei so behandelt wird, als wäre es Gesetz …
Synthetisches dagegen ist immer spekulativ. Stipulative Definitionen sind synthetisch, sie stellen neue Verbindungen her. Sie führen einen Begriff ein und geben ihm eine Bedeutung, oder sie finden ein Wort für eine bestehende Situation. Stipulative Definitionen haben soviel mit Wahrheit zu tun wie die Benennung eines neuen Asteroiden oder eines neuen Insekts mit ihren EntdeckerInnen – es heißt nun mal so, weil jemand das so vorgeschlagen hat. In bezug auf die Ausgangsfrage und Fakten bedeutet das: Wenn man möchte, kann man durchaus Fakten als per Definition wahr definieren. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass diese Definition auch wahr ist.
Denn „per Definition“ bedeutet: Innerhalb dieser Regeln (und dann meist nur noch implizit: auf die wir uns geeinigt haben, die ich voraussetze, zu denen ich aktuell keine Alternative sehe ) gilt dieses oder jenes. „Per Definition“ schließt daher, wie jeder Appell, immer ein: Es könnte auch anders sein. Deshalb brauchen wir Regeln, deshalb wollen wir uns abgrenzen.
Tritt das einen endlosen Regress los, in dem immer weiter Abgrenzungen und Regeln notwendig werden, in dem wir immer weitere Bedingungen akzeptieren müssen? Am Beispiel von Fakten: Fakten sind wahr, weil sie durch bestimmte Prozesse wissenschaftlichen Arbeitens gewonnen wurden und geprüft werden können. Diese Prozesse sind relevante Qualitätskriterien, die sich unter der überwiegenden Mehrheit von Wissenschaftlerinnen etabliert haben. Sie haben sich etabliert, weil sie Kritik, Diskussion und Nachvollziehbarkeit ermöglichen. Das sind relevante Merkmale wertfrei und neutral geführter Diskurse. Wertfrei und neutral sind wichtige Eigenschaften, die nicht den Blick auf Tatsachen verstellen. – Solche Diskussionen, die Wissenschaftstheorie, -philosophie und -soziologie seit den 70er Jahren beschäftigen, sind zuletzt in Verruf geraten. Die Post-Corona-Ratlosigkeit angesichts der vielen katastrophal schlechten Kommunikationsaktivitäten vieler Behörden und Regierungen lassen aber erkennen, dass eben diese Diskussion nicht ganz müßig ist. Wissenschaft wurde verunglimpft, überstrapaziert, verachtet, mit Verantwortung überladen – alles weil unausgesprochen blieb, welche Spielregeln für das aktuell verfügbare Wissen galten und nach welchen Regeln die dadauf aufbauenden Empfehlungen zustandegekommen waren.
Allein die theoretische Möglichkeit des Regresses (Harry Collins hat diesen Regress in vielen Laborsituationen beschrieben) ist für viele Kritiker, die sich für vernunftorientiert halten, Frevel an den vermeintlichen Errungenschaften der Aufklärung, der Punkt, an dem rationale Diskussion unmöglich wird und reiner Unklarheit, Ungewissheit und langweiligen Wiederholungen weicht. Auch für jene, die hier ein Abenteuer sehen, beginnt hier dünnes Eis. Es ist aber nicht nur Knorr Cetina, die hierzu Orientierung und Argumentationshilfe liefert. David Bloor mit der Wissenschaftssoziologie, Ludwik Fleck mit den Überlegungen zur Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache, die Urahnen der Wissenschaftstheorie Kuhn und Lakatos, und, möglicherweise unfreiwillig, auch Karl Popper sind Zeugen, die man hier anrufen kann.
Wir befinden uns mitten in der Rumpelkammer der Logik. Die Rumpelkammer erfüllt ihren Zweck dadurch, dass sie vergessen werden kann. Sie enthält vieles, das uns aktuell vor ein Problem stellt, das wir nicht in unmittelbarer Nähe oder in unserem Sichtfeld haben möchten, von dem wir aber glauben, dass wir es später noch mal brauchen können. Vielleicht wissen wir auch gerade nicht, was es ist, aber es sieht wichtig aus. Oder es hat irgendeine sentimentale Bedeutung für uns. Solange die Rumpelkammer noch Dinge aufnehmen werden kann und die Tür nachher noch geschlossen werden kann, ist die Welt in Ordnung. Jede Theorie, jede Form von Logik braucht diese Rumpelkammer. Sogar Mathematik lässt hier vieles verschwinden und beweist, was sie vorher definiert hat, ohne sich Gedanken über die Grundlagen dieser Definitionen zu machen (die natürlich praktisch, pragmatisch und in diesem Sinn richtig sind – aber auch anders sein könnten). In der Rumpelkammer landen Anomalien, Unerklärliches, das in viele Einzelteile zerlegt und erklärt werden kann. Es gibt keine durchgängig rationalen Erklärungen dafür, warum manches in der Rumpelkammer landet und anderes im Salon ausgestellt wird. Die Erklärungen sind Wert- und Geschmacksurteile oder zweckorientierte Schlusssfolgerungen.
Deshalb entstehen Probleme vor allem dann, wenn die Rumpelkammer geöffnet wird. Vielleicht ist kein Platz mehr, vielleicht hat jemand eigenartige Geräusche gehört, vielleicht erliegen wir auch nur dem alle paar Jahre wiederkehrenden Rappel, ausmisten zu wollen (obwohl wir uns dann ohnehin kaum von etwas trennen können). Dann müssen wir uns der Frage stellen, warum wir etwas aufheben oder wegwerfen, welchen Wert wir diesem Gegenstand (also diesem Argument) beimessen, was wir noch brauchen, damit diese alten Sessel im Salon gut aussehen (also unter welchen Voraussetzungen ein Argument sinnvoll sein kann) – und das führt oft zu Ärger.
Definitionen zu hinterfragen, das führt ebenso in die Rumpelkammer. Da muss aufgeräumt, neu sortiert und abgestaubt werden – und auf dem Weg dorthin stellt man sich viele unliebsame Fragen, denen man lieber nie begegnet wäre. Wenn wir verständlich bleiben wollen, dann schließen wir die Tür zur Rumpelkammer möglichst bald wieder – neue Definitionen haben das Potenzial zu Missverständnissen, langwierigen Diskussionen und größeren Veränderungen, als man sie eigentlich anstoßen wollte.
Wenn allerdings zweckmäßige, angemessene und sachlich brauchbare Definitionen mit Wahrheit verwechselt werden, dann müssen wir tief hinein in die Rumpelkammer. Und es ist zu erwarten, dass auf diesem Weg einige Menschen verloren gehen werden, die keinen Sinn darin sehen, die Rumpelkammer aufzuräumen. Deshalb lassen wir sie ja so gerne verschlossen. Aber manches fordert eben dazu heraus …