Sascha Lobo, Die große Vertrauenskrise

Sascha Lobo, Die große Vertrauenskrise

Lobo skizziert die Idee eines Neuen Vertrauens. Seine Vorschläge für den Weg dorthin überzeugen aber nicht.

250 Seiten Zeitdiagnose, vorne 20 Seiten Theorie, hinten ein paar Seiten Konsequenzen und Empfehlungen. Sascha Lobo ist ein sehr effizienter Autor. Die 250 Seiten Mittelteil in „Die große Vertrauenskrise“ können vermutlich mit recht geringfügigen Anpassungen in noch recht vielen Zeitdiagnosen der nächsten zehn Jahre wiederverwendet werden. Lobo spannt den Bogen potenzieller Vertrauensverlust-Ursachen sehr weit: Politische Korruption, Börsenflops, gebrochene Aufstiegsversprechen, Rückkehr von Krieg und Terror – alles keine neuen oder einzigartigen Phänomene – begründen ein Zeitalter des Vertrauensverlusts. Dazu kommen noch Wokeness (kann auch toxisch sein), Cancel Culture, mangelnde Diversity und breite Polarisierung – alles keine guten Startvoraussetzungen für vertrauensvolles Miteinander.

Der Anfang ist vielversprechend: Lobo unterscheidet zwischen altem und neuem Vertrauen. Altes Vertrauen orientiert sich an Institutionen. Altes Vertrauen wird durch Autorität vermittelt und fußt auf Pragmatismus und Zuversicht: Es wird schon klappen.

Neues Vertrauen dagegen ist persönlicher, es orientiert sich nicht mehr an großen Überlieferungen und Traditionen. Neues Vertrauen sieht sich Uneindeutigkeiten ausgesetzt, über neues Vertrauen wird in Einzelfällen entschieden. Wo altes Vertrauen überliefert ist, braucht neues Vertrauen Kontrolle. Demokratie ist in gewisser Weise institutionalisiertes Misstrauen, das durch Kontrolle und Konsequenzen Vertrauen schafft.

Kontrollmöglichkeiten sind heute vielfältig. Dieses Potenzial weckt Erwartungen, die nicht immer erfüllt werden können – manchmal ist Kontrolle nicht möglich, manchmal wird sie verweigert, manchmal deckt sie Schwächen auf. Auch das sind Quellen von Misstrauen. Neues Vertrauen ist volatiler und wird leichter enttäuscht. Altes Vertrauen dagegen ist per se heute oft nicht mehr vertrauenswürdig im neuen Sinn. Es mangelt an Kontrollmöglichkeiten. 

So weit, so verlockend. 

Ein großer Teil von Lobos Vertrauensanalysen beruht dann aber auf Polarisierungsdiagnosen, die schon deutlich detaillierter diskutiert werden. Auch die Analysen zu toxischer Wokeness und Cancel Culture werden anderso differenzierter geführt.

Das wahrhaft erstaunliche aber sind die skizzierten Lösungsvorschläge. Lobo zeigt sich zum Schluss optimistisch und setzt auf demokratische, vernetzende und transparenz- und kontrollförderliche Eigenschaften des Internet. Sogar sein Kernbeispiel für die Mobilisierung guter Kräfte im Netz, ushahidi.com, wurde von Clay Shirky in „Cognitive Surplus“ schon vor zwölf Jahren als ebensolches Beispiel vorgestllt (und auch hier besprochen).

Lobo sagt, was man immer schon vom Internet gesagt hat. Das könnte eine schön konsistente Position sein, würde man darauf hinweisen, in welchen Tradition die Idee steht. Lobo präsentiert die Idee allerdings ohne Bezug zur Vergangenheit. Das verwirrt, man macht sich auf die Suche nach dem Neuen – und findet es nicht.

Das macht misstrauisch. 

Und das macht schließlich auch skeptisch gegenüber der von Lobo als Ausweg aus der Vertrauenskrise vorgeschlagenen Idee des Maschinenvertrauens. Lobo plädiert für pragmatisches zweckorientiertes Vertrauen – pragmatisch im Sinn des alten Vertrauens – gegenüber Maschinen.

Da bin ich misstrauisch. Ich bin kein Technik-Pessimist und kann auch technischem Determinismus nicht viel abgewinnen. Einem pragmatischen Technik-Zugang, der experimentiert, testet, verwendet und verwirft, kann ich viel abgewinnen. Es ist notwendig, sich mit Technik auseinanderzusetzen und sich darauf einzulassen – aber Vertrauen kann allenfalls das Ergebnis eines souveränen Umgangs mit Technologie sein, Vertrauen kann nicht am Anfang stehen. 

Angemessener – in Anlehnung an Lobos eigene Kennzeichnung von Demokratie als institutionalisiertem Misstrauen – fände ich eine Idee von Maschinendemokratie anstelle von Maschinenvertrauen. Wer sich Technologie beschäftigt und zu verstehen versucht, kann sinnvoll mitreden. Wer das nicht tut, muss wohl oder über vertrauen. Das ist aber die schlechtere Wahl.

So wie Open Source Intelligence als Kontrollmöglichkeit weitaus mehr als simple Google-Recherche bedeutet, reicht Höflichkeit gegenüber Robotern nicht aus, um ihnen Vertrauen zu können. Das wäre eine einseitige Angelegenheit; ich wäre mit Vertrauen nicht so leichtfertig bei der Hand. 

In der Idee eines Maschinenvertrauens kann ich keinen sinnvollen Ausblick aus einer soliden Vertrauenskrise sehen. 

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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