Free Radicals in Supersize: Überleben in der Organisation

Free Radicals in Supersize: Überleben in der Organisation

Scott Belsky von Behance/99% beschreibt in einem aktuellen Blogpost die neue Arbeiterklasse der Free Radicals. Sie arbeiten, um einen Unterschied zu machen, sie nehmen sich das Recht, oft zu scheitern, sie haben wenig Toleranz gegenüber allem was bremst und sie betrachten sich mal als Künstler, mal als Handwerker und mal als Geschäftsleute. Ich finde das großartig und kann vor allem dem latenten Größenwahn viel abgewinnen.


Gerade in Unternehmen, die sich selbst durch ihre Organisation zu entscheidungsfreien Räumen ausbremsen, in Geschäftsfeldern wie der Mediengestaltung und der Kommunikation, die immer so lange Neuland bleiben werden, bis jemand einfach mit etwas Konkretem anfängt und in Unternehmen, in denen Mitarbeiter noch immer erst mal mehr gegen Organisation und Management arbeiten müssen als mit ihnen kann nicht genug Selbstbehauptung und Selbstpositionierung betrieben werden. Davon profitieren beide Seiten: Das Unternehmen bekommt effizienz- und zielorientierte Mitarbeiter (die sonst nie in einer Organisation arbeiten würden), und auch für Menschen, denen es schwer fällt, in einer Organisation zu arbeiten, ergibt sich so eine Überlebenschance.
Warum können wir das gerade jetzt? Ich sehe drei Ansatzpunkte für Erklärungen.

  • Wir haben die Möglichkeiten. Clay Shirky beschreibt in “Cognitive Surplus”, wie leicht es ist, geistiges Potential zu nutzen, durch Vernetzung zu verstärken, durch Feedback zu verbessern, durch größere Reichweite gezielt einzusetzen – und das alles, weil es andere Möglichkeiten des Medienverhaltens gibt, als einfach nur Fernzusehen. Digitale Spuren beginnen isoliert, zeigen aber mit der Zeit ihre Wirkung – und dieses Medienpotential steht jedem offen.Das gilt sogar auch innerhalb von Unternehmen: Wo Social Intranets die Möglichkeit bieten, können Experten direkt die Zusammenarbeit suchen. Wo diese Möglichkeiten nicht geboten werden, werden sie trotzten genutzt – eben ausserhalb des Unternehmens, mit Risiko für beide Seiten.
  • Große Möglichkeiten erfordern große Entscheidungen: finde ich mich zurecht oder nicht, kontrolliere ich oder werde ich kontrolliert, bin ich gefordert oder überfordert. Neue Onlinemedien haben die Tendenz, uns immer wieder zwischen Ohnmacht und Allmacht zu positionieren. Können wir alles erreichen oder sind wir maßlos gestresst? – Sind wir frei und radikal oder Hamster im Laufrad? Es ist zum Teil Ansichtssache, zum Teil unsere Entscheidung und zum Teil haben wir, nach wie vor, keine Wahl. Aber grundsätzlich haben wir mehr Mittel, unseren Teil von Kontrolle auszuüben, als noch vor einigen Jahren.
  • Zuletzt möchte ich David Chalmers empfehlen. Der australische Philosoph, der sich mit spannenden Fragen wie dem Bewusstsein von Zombies beschäftigt, schreibt im Vorwort zu Andy Clarks “Supersizing the Mind”: “A month ago, I bought an iPhone. The iPhone has already taken over some of the central functions of my brain. It has replaced part of my memory, storing phone numbers and addresses that I once would have taxed my brain with. It harbors my desires: I call up a memo with the names of my favorite dishes when I need to order at a local restaurant. I use it to calculate, when I need to figure out bills and tips. It is a tremendous resource in an argument, with Google ever present to help settle disputes. I make plans with it, using its calendar to help determine what I can and can’t do in the coming months. I even daydream on the iPhone, idly calling up words and images when my concentration slips. Friends joke that I should get the iPhone implanted into my brain. But if Andy Clark is right, all this would do is speed up the processing, and free up my hands. The iPhone is part of my mind already.” – Sobald wir uns auf Teile neuer Umgebungen einlassen, warden sie Teil von uns und wir Teil von ihnen. Das iPhone als Teil unseres Geistes erweitert unsere Möglichkeiten – aber es stellt auch Ansprüche und schränkt ein.

Free Radicals wie Belsky sie beschreibt nutzen Möglichkeiten. Und sie erlegen sich auch selbst neue Zwänge auf. Die eigenen Maßstäbe als Qualitätssicherung, die eigene Zufriedenheit als Antrieb – das kann zum Problem werden und zeigt auch das Manko der Free Radicals auf (so wie ich sie/mich verstehe): Wir sind nie zufrieden, und wir haben auch wenig Sinn dafür, Bestehendes, mögliche Vorteile voll auszuschöpfen. Das könnte dann nur Abhängigkeiten erzeugen. Und trägt ausserdem nur beschränkt zur persönlichen Zufriedenheit bei – anderes kann schon wieder spannender sein.
Das ist eben Teil der (gar nicht so) latenten Allmachtsvorstellungen und des Supersize-Selbstverständnisses.

Was heisst das jetzt ganz konkret?

  • Zufriedenheit durch Arbeit wird zu etwas sehr Persönlichem, das sicher nicht für jeden leicht zu erreichen ist.
  • Die Zeitfrage spitzt sich immer mehr zu: “Ich habe keine Zeit”, sagen die einen. Die anderen Fragen gar nicht danach und setzen ihre eigenen Prioritäten. Der anscheinend schon etwas aus der Mode gekommene Fredmund Malik formuliert es so: “First things first, and second things – not at all.”
  • Handwerk rückt inden Vordergrund. Den radikalen Zugang jenseits von bestehenden Regeln und Sicherheitsmechanismen kann nur glaubhaft machen, wer sein Handwerk absolut beherrscht. Alles andere fliegt binnen kürzester Zeit aud. Das kann gut oder schlecht sein…

Jedenfalls bedeutet das vermehrte Auftreten von Free Radicals harte Zeiten für alle: Für die, die es sich selbst schwer machen (und Freude daran haben) und die, die daran gemessen werden.
Wobei, und das kann Lösung oder Verschärfung des Problems sein, ich davon ausgehe, dass wir ohnehin immer weniger genau wissen, was wir meinen, wenn wir von Arbeit reden…

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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