Free to Pee – Freiheit und Geschäftsmodelle

Free to Pee – Freiheit und Geschäftsmodelle

Was man in ein paar Tagen in Kalifornien über Geschäftsmodelle lernen kann. 

Ich mag Kalifornien. Wobei das eigentlich eine dumme Aussage ist; ein Konstrukt, das in der Phantasie jedes einzelnen anders ist, zu mögen, heisst ja genau genommen, seine eigene Vorstellung, oder schlicht sich selbst zu mögen. Und je allgemeiner das Konstrukt ist, desto schwerer fällt es, dieses dann auch bei näheren Kennenlernen noch zu mögen. – Ein paar willkürliche Notizen nach ein paar Tagen Kalifornien.

“Careless Lifestyle” war das Motto eines Luxusautovermieters am Sunset Boulevard in Los Angeles. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Übersetzungsfehler war oder eine eben wirklich ansprechende Beschreibung. Die orange, silber und gelb glitzernden Schlitten waren bunter als die Transformer-Camaro-Remakes, mit denen sich Touristenkinder am Hollywood Boulevard fotografieren lassen können.

Am nächsten Tag parkten einige dieser Autos vor einer Galerie im West Hollywood Design District. Was im L.A. Weekly wie eine Vernissage für dich und mich angekündigt war, war ein für L.A.-Verhältnisse wahrscheinlich mickriges Society-Event mit Men in Black an der Tür und roten Absperr-Kordeln davor. Ich bin trotzdem reingegangen, obwohl ich nach einem Tag zu Fuß in den Hollywood Hills aussah, als wäre ich eben zu Fuß von Las Vegas nach Los Angeles gegangen. Rausgeworfen hat mich niemand, aber spürbar war doch: Die Offenheit hat dort ihre Grenzen, wo Zugehörigkeitssymbole außer acht gelassen werden.

Das ist in diesem Fall nichts neues. Plakate im Shepard Fairey-Stil für John Wellington Ennis’ Film Pay 2 Play ziehen sich derzeit durch die USA. Wer mitreden will, so die These, muss zahlen. Der Film bezieht sich auf die Politik und den Einfluß mächtiger Lobbyisten.
Die Grenzen zwischen bezahlt und gratis ziehen sich aber durch weit mehr Bereiche.
Das merkt man eben etwa auf dem Weg zu Fuss durch Los Angeles: Es gibt kaum öffentliche Plätze und die meisten Straßen sind nicht dafür gemacht, sich durch sie zu bewegen. Es sind Wohngegenden, in denen der, dem dort nichts gehört, ein Ärgernis ist, und die für den, dem dort nichts gehört, ein Hindernis auf dem Weg sind. (Wobei es auch Unsinn ist, dass man in L.A. unbedingt ein Auto braucht – das ändert wenig an der Stadt. Und das öffentliche Verkehrsnetz ist gut (abgesehen davon, dass die Busse mangels Busspuren im Verkehr steckenbleiben), nur dessen Beschilderungen in der Stadt und die digitalen Öffiplaner-Apps sind grottenschlecht.) Die Stadt sagt: Wenn dir etwas nicht gehört, dann hast du dort nichts verloren.
Das sagt auch der Highway: Die Express Lane ist für zahlende Kunden reserviert, nicht etwa für Busse oder Einsatzfahrzeuge. Ausnahmen gibt es immerhin für Fahrgemeinschaften.
Und auch Strassenfeste kosten Eintritt. Das sind Feste mit Volksfest- oder Flohmarkt-Charakter, also Events, die man besucht, um dort Geld auszugeben. Allerdings wird man vorher schon zur Kasse gebeten.
Genauso wie im Flugzeug: Sitzkategorien und Gepäck gegen Aufpreis ok, aber die Boarding-Reihenfolge? Für 15$ Aufpreis darf man nach Business Class, Militärangehörigen und anderen Priority-Gruppen und vor dem gemeinen Volk ins Flugzeug, mit dem Argument, mehr Zeit zu haben, um das Handgepäck zu verstauen.
Zumindest das Group 1 Boarding scheint nicht besonders beliebt zu sein. Kein Wunder. Schliesslich haben die gepäckbeladenen Fluggäste ja vorher auch schon 5$ für den Gepäckwagen bezahlt. Bezahlt, nicht als Kaution hinterlegt.
Das schafft Trennlinien und eine Dynamik, die noch deutlicher zwischen denen, die mitkönnen und denen, die es eben nicht mehr können, unterscheidet. Grenzen entstehen schneller und sind nicht mehr so leicht zu schliessen.

Die Verkaufsshow läuft. – Der Stern beklagte unlängst, dass sich Deutsche im Vergleich zu Österreichern immer unterverkaufen. Das ist aus Sicht des gelernten Österreichers, der Deutsche ja schon einmal grundsätzlich für großgoschert hält, lustig. Andererseits sagt es auch: Die einen sind unterverkauft, nicht die anderen überverkauft. Natürlich hat das eine Mengen an Gründen, die sich schon vom Kindergartenalter an entwickeln. Und es steigert die erzielbaren Preise. Was dabei aber offen bleibt: Die Preise wofür?
Ein Tag in den Universal Studios kostet 130$, und die Schlange an den Kassen wartet geduldig; neben der Hauptkasse gibt es noch die Sonderabfertigung für Jahreskartenbesitzer und die Expresskasse für Selbstbedienung per Kreditkarte. Ein Tag im wenige Kilometer entfernten Getty Center kostet nichts. Wobei auch das Getty Center in seiner Kommunikation nicht gerade schüchtern ist. “We preserve the world’s cultural heritage”, ist das Motto von Stiftung, Forschungseinrichtungen und Museum. Und es ist jetzt gar nicht so großgoschert, zu behaupten, dass die besseren Landschlösser in Europa kulturell eine größere Bandbreite abdecken als das Getty.
Was wird sonst so verkauft? – Fett, Salz, Zucker und eine Marketingindustrie, die sich als Technologie- und Innovationsbranche tarnt.
Und was mir zumindest neu war: Die USA haben wieder eine kommunistische Partei. Und auch die ist nicht nur eine kommunistische Partei, sondern die revolutionäre kommunistische Partei. Parteichef Bob Avakian tritt mit der Aura eines Gurus auf, und auch er verkauft seine Ideen: Die Ideen der kommunistischen Revolution gibt es in eigenen Revolutions-Buchgeschäften zu kaufen; das Personal dort wünscht dem Käufer dann alles Gute und viel Inspiration dabei, von den “tremendous improvements in humanity” zu lernen, die russische und chinesische Revolution mit sich gebracht haben. – Immerhin reden auch Leute wie Cornel West mit Avakian.
Und auch im Copyshop publizierte anarchistische Schriften kosten in den Anarcho-Shops in der Haight Street in San Francisco Geld – mehr als die Vervielfältigungskosten. Schliesslich sind auch Buchpräsentationen in den USA nicht kostenlos. Investor und Paypal-Mitbegründer Peter Thiel präsentierte in Santa Clara sein “Zero to One” mit gestaffelten Eintrittspreisen zwischen 25 und 55$ für das VIP-Package (inklusive Buch und Priority-Seating).
Und die Breakdancer an der Fisherman’s Wharf schaffen es ebenso 20$-Tips zu lukrieren wie die Obdachlosentanzcombo daneben, deren Geschäftsidee darin besteht, in Obdachlosenoutfits mit Obdachlosenmoves zu den Beats eines wahrscheinlich auch obdachlosen Schlagzeugers zu tanzen.

Der Reflex wäre ja, einfach nein zu sagen und Verkaufsshows zu verweigern. Denn die Frage, was wir eigentlich verkaufen wollen, bliebe dabei immer noch offen. Das Geschäftsmodell, einfach alles zu verrechnen, hat aber seinen Reiz. Allerdings auch seine Risiken: Buchpräsentationen in Europa setzen ja eher darauf, Gäste mit Geschenken oder Verlosungen anzulocken, statt sie zahlen zu lassen – weil sonst einfach gar niemand mehr kommt.
Die Idee, auf bargeldloses Wohlgefallen zu hoffen, ist allerdings genau so riskant. Wo nichts verlangt wird, wird nichts bezahlt. Und wo die Grenze zwischen „Das mach ich für Geld“ und „Das mache ich wirklich“ aufrecht bleibt, heisst es eigentlich:  Wer bezahlt, bekommt nicht die beste Qualität…

Die angebliche Gratismentalität, darauf möchte ich hinaus, ist kein Symptom eines Online-Zeitalters. Sie hat eher damit zu tun, dass wir viele Dinge als gratis empfinden, für die wir auf Umwegen (etwa über Steuern) zahlen. Wo es diese Umwege nicht gibt, wird eher direkt verrechnet. Wo es sie in abgewandelter Form gibt (wir zahlen für den Onlinezugang in Geld und für Werbung in Form von Zeit und Aufmerksamkeit), sinkt die Zahlungsbereitschaft wieder.
Ein weiterer Grund ist wahrscheinlich schlicht Neid. Warum sollte man für etwas zahlen, das man selbst in ähnlicher Form gratis anbietet? – Die Einstellung verhindert aber, dass das Geld dorthin fliesst, wo man es selbst gern hätte. Oder umgekehrt: Die Idee, Geld dorthin zu lenken, wo es sein sollte, verhindert, dass es dorthin fliesst, wo es eigentlich nicht sein sollte (um für Schrott zu bezahlen). Was aber wieder voraussetzen würde, dass sich als daran halten. Auch wenn es sich am Anfang komisch anfühlt, so komisch eben, wie wenn man sich im Café in San Francisco jedes Mal vor dem Pinkeln beim Barista anmelden muss, damit den elektronischen Türöffner der Klotür öffnet. Aber man hat ja bezahlt…

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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