Es wird ungemütlicher. Darüber waren sich selten so viele unterschiedliche Ideologien einig. Wo aus konservativer Perspektive vielleicht ein allgemeiner, schleichender, grundsätzlich ohnehin immer schon stattfindender Werteverfall ausreicht, um das Weltbild aus den Fugen geraten zu lassen, wo ethnisch, religiös, sozial oder sonst wie fundamental orientierte Phobiker Werte und Bestände durch alles nicht ihren Überzeugungen entsprechende bedroht sehen, dort haben jetzt auch Liberale ein massives Problem, entspannt zu bleiben. Das gilt für albern theoretisierende Kommentatoren auf der Suche nach dem wahren, unbekümmerten und wirklich freien Liberalismus genauso wie für Fundamental-Liberale, die fern von aller Praxis absurde Wortkonstruktionen schaffen, die „Zentralorgan“ und „Liberalismus“ im einem Begriff verwenden und das wahrscheinlich lustig finden, und für Wirtschaftspublizisten, die sich fragen, wie lange alle möglichen Betroffenen sich absurde Zustände eigentlich noch gefallen lassen werden.
Eine mögliche Ursache für die Ungemütlichkeitsszenarien sind anhaltende Krisenszenarien, die nicht mehr so populär sind wie vor einigen Jahren, weil sie andere Kreise betreffen. Märkte erholen sich, Kapital wächst, Kapitalismuskritiker wachsen auch – und das Wahrwerden der Vorstellung, dass Reichtum irgendwie irgendwann nach unten durchsickert, lässt auf sich warten. Im Gegenteil. Thomas Pikettys “Capital in the 21 Century” und die aktuelle Vermögensstudie der Julius Bär Bank sind zwei sehr unterschiedliche Quellen, die den gleichen Trend bestätigen: Kapital konzentriert sich, jetzt mehr denn je.
Und das ist wohl einer der Gründe, die jenen die davon nicht profitieren, einen Grund geben, für Ungemütlichkeit zu sorgen. Nicht zuletzt, weil diese Konzentration auch durch öffentliche Sparmassnahmen und Geldpolitik abgesichert wird.
Was sind jetzt zeitgemäße Argumente, mit denen man dieser Situation begegnen kann, und was sind Kriterien, anhand derer man sie einschätzen kann?
Wir haben oft genug vorgeführt bekommen, dass weder Regulierungen noch Verbote, weder Liberalisierungen noch Marktorientierung zu wünschenswerten Ergebnissen führen. Solidarität hatte oft mit Bescheidenheit und mit Passivität zu tun, Freiheit mit Verantwortung und mit Gier. Nur sind die Grenzen halt leider nicht mehr so einfach.
Adam Smiths Theorien von freien Märkten und unsichtbaren Händen sind über 200 Jahre alt – und es ist nicht eine Schwäche seiner Theorien, sondern eine schlichte Tatsache, dass Adam Smith noch keine Ahnung haben konnte, was der einzelne heute anrichten kann, als er seine Theorien formulierte und auf die Freiheit des einzelnen pochte. – Das bemerkt Lisa Herzog in ihrem Buch „Freiheit ist nicht nur für Reiche“. Adam Smith verliess sich darauf, dass der einzelne ohnehin nur in seiner Umgebung agieren könne und sehr wohl auch darauf achten werde, dass diese Umgebung lebenswert bleibt. Wenn wir heute von gemütlichen Büros in westeuropäischen Innenstädten aus Unternehmen in anderen Kontinenten steuern oder wenn Finanzmärkte Entscheidungen produzieren, von denen zwar viele einzelne im kleinen profitieren, deren Konsequenzen im Großen aber eigentlich niemand wollte, dann ist das nicht ganz so einfach.
Die Idee, dass derjenige, der das Risiko trägt, auch den Gewinn einstreifen können soll, muss sich also auch die Frage stellen: Wessen Risiko? Und was kann die Übernahme der Risiken von anderen bedeutet; wie weit kann Haftung gehen? Liegen, wenn irgendwie ohnehin alles alle betrifft, Haftungen und Konsequenzen nicht ohnehin auf der Hand? Offenbar nicht. Umweltpolitisch sind Freikaufsmechanismen etabliert, sozialpolitisch wird damit argumentiert, dass ein paar Tropfen des Reichtums der Vielen schon nach unten durchsickern werden, und wirtschaftlich hat der Begriff des Verdiensts im Deutschen eleganterweise auch den Beigeschmack des Gerechten und Gerechtfertigten: Wer sein Geld nicht gestohlen hat, der hat es verdient – als wäre es auf Leistung zurückzuführen.
Kann man heute also noch von Freiheit, Solidarität und Ungleichheit sprechen? Viele Ökonomen tun es.
Allen voran Thomas Piketty, der sich in seinem „Capital in the 21st Century“ mit der Geschichte von Kapital und Ungleichheit und mit möglichen zukünftigen Regulierungsformen beschäftigt. Lustigerweise wurde er daraufhin von amerikanischen Kommentatoren als Linker eingestuft und auch ausgerechnet von der Arbeiterkammer nach Wien eingeladen. Um Pikettys Studie lesen zu können, hilft es allerdings, die Links-Rechts-Kategorisierungen erstmal zu vergessen und auch die beliebte Verwechslung von Sein und Sollen sein zu lassen: Einen Zustand zu beschreiben, heisst nicht, ihn zu bewerten, und auch die Bewertung – also die Klassifizierung als „Problem“ – sollte sich weniger an Ideologien als an praktischen Konsequenzen orientieren (deren Bewertung in letzter Konsequenz natürlich dann auch wieder irgendwo an Ideologien gekoppelt ist).
Vielleicht ist die Ungleichheit, mit deren Entwicklung sich Piketty beschäftigt, kein Problem, sondern ein Risiko. Ungleichheit muss nicht mit Ungerechtigkeit verbunden sein, um ein Risiko zu sein. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es sich nicht mehr auszahlt, reich zu sein. – Kapitalwachstum ist darauf angewiesen, dass andere, die das Kapital nicht haben, es brauchen könnten. Sie leihen es aus und zahlen dafür Zinsen, sie konsumieren mit dem Kapital geschaffene Produkte oder sie zahlen Miete für Güter, die zu kaufen sie sich mangels Kapital nicht leisten können. Auf die Spitze getrieben bedeutet die entropische Tendenz des Kapitals, die dazu führt, dass mehr dorthin kommt, wo schon mehr ist, und dass es sich dann nur in noch größeren und noch rentableren Schritten bewegen möchte, dass also irgendwann der Punkt erreicht wird, an dem Kapital nicht mehr wachsen kann. Wenn wenige alles haben und andere nichts, kann deren Kapital nicht mehr wachsen.
Damit arbeitet das Kapital gegen sich selbst und seine Ideen. Es bringt das hervor, was es vermeiden wollte; statt freier und handlungsfähiger Individuen schafft es Abhängige und Überflüssige. Ist das ein Hinweis darauf, dass mit dem Grundprinzip etwas nicht stimmt? Oder ein Kriterium, anhand dessen sich einschätzen lässt, ob die Grundprinzipien “richtig” eingesetzt werden?
Richtig steht hier fürs erste unter Anführungszeichen, weil richtig in den Vorstellungen jener, die gern mit absolutistischen Liberalismusideen um sich werfen, ein gefährlicher Begriff ist. Richtig ist hier allerdings ein Kriterium, das anhand der eigenen, selbst bemessenen Massstäbe gilt oder eben nicht gilt. Ist es das Ziel, Freiheit, Unabhängigkeit und reale Wahlmöglichkeiten für alle zu schaffen? Und mit welchen Mitteln wird es zu erreichen versucht? Massstab sind dabei Tatsachen, nicht Ideen: Theoretische Wahlmöglichkeiten gelten nicht wirklich, wenn sie praktisch nicht ausgeübt werden können.
Um diese Entwicklungen wirklich einschätzen zu können, dafür fehlen dann allerdings die großen zeitgemäßen Entwürfe. Sie leiden allesamt an ähnlichen Problemen wie der Versuch, Adam Smith in die Gegenwart zu retten: Ihre Voraussetzungen stammen aus anderen Zeiten.
Besonders deutlich wird das bei Lieblingsreizthemen wie Geschlechtergerechtigkeit und geschlechtergerechter Sprache, wo autoritäre Konservative autoritäre diktatorische Massnahmen orten, wenn sich die rechten Identitären gegen Rassismus aussprechen (Anmerkung: sie tun das, weil sie sich als „Weiße“ als Opfer von Immigrantenrassismus sehen, und weil es keine Probleme gäbe, wenn jeder dort bliebe, wo er ethnisch hingehört – wo auch immer das ist) oder eine Mac Donalds-Filiale stürmen und gegen Fast Food und für regional nachhaltigen Konsum agieren, wenn Millionen-Erben zu Kapitalismuskritikern mutieren oder wenn wortverliebte Schöngeister wie Richard David Precht mathematisch-ökonomische Skills als relevante Kulturtechnik einmahnen.
Politische Richtungen lassen sich schwer einschätzen; für politische Strategien gilt das noch viel mehr.
Solidarität, Mässigung und Verzicht waren lange bewährte Strategien zur Weltverbesserung. Neuen linken Denkern gelten sie als Symptome der andauernden Unterwerfung, als Instrumente zur Bewahrung eines Status Quo, in dem der, der nichts hat, sich mit weniger zufrieden gibt, damit die Erträge desjenigen, der mehr hat, ungehindert steigen können. Der Rückzug in archaisch-solidarische vorkapitalistische Phantasien ist kein Gegenmodell zu einer gierigen Gesellschaft, sondern ein Rückzug, der diese nicht stört – und der Beginn einer Ordnung, die selbst wieder kapitalistische Grundzüge entwickeln wird, um sich wirtschaftlich zu organisieren. Oder einer Ordnung, die sich die Frage stellen muss: Wenn ich das Geld nicht habe, wo ist es dann? Und woher kommt es, wenn wir es brauchen? Verzicht ist eine reaktionäre Strategie, die eher bestätigt, als zu verändern. Wählerische Skepsis ist eine produktivere Strategie.
Kapitalismus an sich ist nichts schlechtes – darin sind sich so unterschiedliche Protagonisten wie Naiv-Liberale, Wolf Lotter und die Autoren des Akzelerationistischen Manifests einig. “Wir glauben, dass jedes postkapitalistische System einer postkapitalitstischen Planung bedarf. (…) Dafür muss die Linke jede vom Kapitalismus ermöglichte technologische und wissenschaftliche Errungenschaft zu ihrem Vorteil ausnutzen. Wir behaupten, dass Quantifizierung kein abzuschaffendes Übel ist, sondern ein Werkzeug das auf die bestmögliche Art eingesetzt werden muss. (…) Die akzelerationistische Linke muss ihren Analphabetismus in diesen Fachgebieten überwinden“, schreiben die Autoren Nick Srnicek und Alex Williams in ihrem Manifest. Und laufen damit natürlich auf den ersten Blick Gefahr, ebenfalls in die Falle von Selbstdisziplinierung und allgegenwärtiger Selbstkontrolle zu fallen, die Foucault seit den 70er Jahren beschreibt. Die Autoren haben aber ihre Poststrukturalisten gelesen (vor allem Deleuze & Guattari sind in der akzelerationistischen Szene überaus beliebt).
Srnicek und Williams bleiben in ihren Ausführungen sehr abstrakt. Vereinfacht steht Akzelerationismus für die Überlegung, ob nicht die Schwächen der aktuellen Ausprägung eines kapitalistischen Systems viel eher mit dessen eigenen Mitteln zu beheben, ob nicht der Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen sei. Anstelle von Rückzug und Verzicht sind ökonomische Kenntnisse und der Aufbau wirtschaftlicher Macht revolutionäre Instrumente, anstelle vorsichtigen Bremsens und verweigernder Subversion soll der Crash mit radikaler Beschleunigung herbeigeführt werden.
Klingt abstrakt, findet aber durchaus seine realen Entsprechungen. – Selbst dort wo Werte und Agitation im Vordergrund stehen (und nicht rein wirtschaftliches Handeln), sind die wirtschaftlichen Gewichte zwischen recht und links (oder jenseits davon) äußerst ungleich. – Für ein anderes Projekt habe ich eine grobe Analyse der Vermögensverhältnisse hinter politischen Blogs begonnen. Einige linke oder anarchistische Blogs werden von Berufspolitikern betrieben, von Vereinen, die fallweise Auszeichnungen oder Förderungen bekommen, insgesamt sind sie aber wenig ökonomisch orientierte und nicht unternehmerisch organisierte Medien. Auch in einzelnen Fällen, in denen Verlage oder Buchhandlungen mit den Betreibern vernetzt sind, verfolgen diese andere wirtschaftliche Modelle. Hinter den führenden rechten Blogs stehen mit politischen Organisationen vernetzte Vereine, die ebenfalls Förderungen beziehen, fallweise stehen GmbHs dahinter, in einem Fall sogar eine Vermögensverwaltungsgesellschaft, die neben dem Blog Verlage für Jagd-, Militär- und ähnliche Publikationen besitzt. Es braucht keine Verschwörungstheorie, um hier materiell unterschiedlich stark abgesicherte und Positionen zu sehen. Es sind unterschiedliche Herangehensweisen zum Ausbau der eigenen Position – auf der einen Seite werden etablierte Instrumente eingesetzt, um Macht und Durchsetzungsfähigkeit zu erlangen, auf der anderen Seite ist es eine vage Zurückhaltung, die sich kommerziell betrachtet den Vorwurf der Naivität gefallen lassen muss.
Aber das war nur ein kurzer Exkurs. Die Argumentation des Akzelerationismus bringt etwas anderes auf den Punkt: Werte werden heute ökonomisch argumentiert. Freiheit bezieht sich auf Wirtschaft, Verantwortung und Moral finden wirtschaftliche Ausprägungen und auch Macht ist wirtschaftlich legitimiert und wird wirtschaftlich ausgeübt.
Die praktische Seite von Wirtschaft ist Arbeit. Für einige wenige ist es Kapital; der Anteil jener, für die Kapital als Einkommensquelle wirtschaftlich relevant ist, ist aber verschwindend gering (auch das zeigt im übrigen Piketty in seiner Langzeit-Studie). Unternehmer sind dabei ein Mittelding – sie setzen Kapital ein, es bewegt sich aber ohne ihre eigene Arbeit nicht und es ist zwar notwendig, aber nicht massgeblich (sondern oft auch nur eine Zugangshürde im Gründungsprozess).
Arbeit war vielleicht mal ein Mittel zum Zweck. Seit aber kaum noch jemand mit seinen Händen und seinem Kapital für sich selbst arbeitet und seit Marx-Zitate in allen Gesellschaftsschichten wieder häufiger werden, ist Arbeit ein Wert an sich. Sie schafft nicht nur Werte (in realer praktischer Form, die man ausgeben kann), sie macht auch die Arbeitenden wertvoll. Sie sind Teil einer Gesellschaft, leisten etwas, zahlen Steuern – und sind nicht überflüssig. Arbeit ist ein Mittel, um an der Welt teilzuhaben – und um Kapital, das den Arbeitenden nicht gehört, zu vermehren. “Der Begriff der Arbeit hat schon immer zwei widersprüchliche Dimensionen umfasst: eine Dimension der Ausbeutung und die Dimension der Beteiligung“, schreibt das Autorenkollektiv „Unsichtbares Komitee“ in seinem Text „Der kommende Aufstand“. Social Business, Enterprise 2.0, offene Organisationen und Open Innovation sind Sichtweisen von Arbeit, die den Beteiligungsaspekt hervorheben. Beteiligung ist dabei nicht kapitalistisch zu verstehen. Diese Form von Beteiligung bedeutet keine Mitarbeiteroptionsprogramme und keine Umverteilung von Produktionsmitteln, sondern sie bedeutet immaterielle Beteiligung an dem Prozess, Materielles zu schaffen. Immaterielle Beteiligung bedeutet Engagement: Mitarbeiter sind bei der Sache, leisten mehr, Sinnvolleres und Wertvolleres – in erster Linie, damit Gewinne steigen. In zweiter Linie vielleicht, damit Produktionsprozesse „menschlicher“ und auch Produkte sinnvoller werden. (Damit sind wir aber schon weit über die Arbeitsorganisation hinaus – sinnvolle Produkte setzen Unternehmen voraus, die ihre Umwelt kennen und mit ihren Umwelten kommunizieren können, ohne das als Bedrohung zu empfinden. Die Entwicklung von „Goods“ zu „Betters“ (das sind Produkte die ihre Konsumenten glücklicher, klüger oder gesünder machen) beschreibt Umair Haque in seinem New Kapitalist Manifest.
Beteiligung setzt Interaktion voraus, und Interaktion erweitert den Horizont und schafft neues Wissen. Was hat der engagierte Arbeiter davon? In der Regel weniger als der Geldgeber – Wirtschaftswachstum ist langfristig betrachtet immer langsamer als Kapitalwachstum (was auch in Pikettys Studie nachlesbar ist).
Der Arbeiter soll also engagiert, bewusst und mobilisiert sein – so wie einst der Revolutionär.
Denn Arbeit ist seine Möglichkeit zur Entfaltung, schreibt das „Unsichtbare Komitee“ weiter: “Wenn der Arbeitslose, der sich seine Piercings rausnimmt, zum Frisör geht und ‚Projekte’ macht, tatsächlich ‘an seiner Beschäftigungsfähigkeit arbeitet’, wie man so sagt, heißt das, dass er dadurch seine Mobilisierung bezeugt.“ Der Arbeiter muss mobilisiert sein, weil man ihn letztlich nicht mehr braucht.
Es gehört zwar auch zum guten Ton aktueller Visionen moderner Arbeit, mit Geburtenrückgängen und veränderten Werten zu argumentieren und jungen Menschen in Aussicht zu stellen, dass sie sich ihren Job werden aussuchen können und dass sie Unternehmen gegenüber in einer starken Position wären. Dem widersprechen allerdings reale Phänomene wie Dauerpraktika, ein Verständnis lebenslanges Lernens, das Wissen und Praxis gleichermassen entwertet und stattdessen auf Kontakte und Auftreten setzt, sowie die Tatsache, dass sich gerade viele junge, gut ausgebildete Menschen gern schnell einen Platz in der Organisation suchen, um dort auf die angekündigten Reichtümer zu warten.
Es gehört auch zum guten Ton, über neue Führungsmodelle und Formen der internen Kommunikation zu sprechen, die den Mitarbeiter respektieren, Autorität überdenken und stattdessen auf Selbstverantwortung setzen – auf mündige, engagierte, mobilisierte Mitarbeiter. Moderne Führung „wird der Ausübung von Disziplinarmassnahmen entbunden, um ohne Autorität vertrauenswürdiger zu wirken. Die unsichtbare Hand hört aber nicht auf, Organisator zu sein, genausowenig, wie sich Unternehmen in ein unabhängiges und offenes System verwandeln, was die Dynamik der Selbstorganisation eigentlich erfordern würde. Was beschworen wird, ist eine Pseudo-Selbstorganisation. In erste Linie sollen die Angestellten ihre Disziplinierung auf der angemessenen Augenhöhe übernehmen – ihre Selbstführung soll für die Interessen des Unternehmens mobilisiert werden. An der langen Leine gelenkter Selbstkontrolle wird ihnen die Illusion von Teilhabe vorgespiegelt. Jeder wird zum Schmied des gemeinsamen Glückes verklärt. Teilgehabt wird an den Freuden der Pflicht, meist ohne dass sich Wesentliches an der Verteilung der Produktionsmittel ändert. Werden die Angestellten, die jetzt immer öfter Mitarbeiter heissen, am Kapital des Unternehmens beteiligt, dann so, dass sie das Systemprinzip des Unternehmens stabilisieren“, schreibt Hans-Christian Dany in seinem Buch “Morgen werde ich Idiot“, das kybernetische Effekte von Vernetzung und Selbstorganisation analysiert.
Mobilisierung ist nicht zuletzt das Symptom eines Versprechens – des Versprechens, es selbst auch einmal zu schaffen. Deswegen, so vermutet es zumindest Ilija Trojanow in „Der überflüssige Mensch“, solidarisieren sich Mittelschichten mit Reichen, nehmen Kürzungen in Kauf und sprechen sich gegen Mehrbelastungen aus, die sie, realistischerweise betrachtet, nie betreffen würden. Als Gegengeschäft werden sie am Leben erhalten, denn Kapital (sprich Produzenten) braucht Konsumenten. – So wird Arbeit immer mehr „wert“, ohne eigentlich noch gebraucht zu werden. “Die Arbeit hat restlos über alle anderen Arten zu existieren triumphiert, genau in der Zeit, als die Arbeiter überflüssig geworden sind. (…) Wir erleben das Paradox einer Arbeitergesellschaft ohne Arbeit, wo Ablenkung, Konsum und Freizeitbeschäftigung den Mangel an dem, wovon sie uns ablenken sollten, nur noch verstärken“, schreibt das „Unsichtbare Komitee“.
Was heisst das für politische Entwürfe, wenn Wirtschaft das eigentlich relevante politische Paradigma ist, dem allenfalls noch der Vernetzungsgedanke etwas annähernd gleich mächtige entgegensetzen kann? Vernetzung ist heute auch eines dieser Heilsversprechen, das es Einzelnen und Kleineren ermöglichen soll, sich durchzusetzen.
Vernetzung ermöglicht den von Haque beschriebenen New Capitalism, Vernetzung schafft Formen von Freiheit, in denen sich der Einzelne bewegen kann und nur sich selbst kontrolliert. Aber er kontrolliert sich.
Byung Chul Han nennt diese Politik Psychopolitik. Und er beschreibt damit ähnliches, wie die Autoren des „Unsichtbaren Komitees“, nur ohne die revolutionäre Komponente.
Selbstkontrolle ist eine formale Hülle, deren inhaltliche Ausprägung davon abhängig ist, an welchen Werten sich der Kontrollierende, der zugleich der Kontrollierte ist, orientiert. Sind es die, die erwartet werden? Oder sind es die, die für den Einzelnen in seinen Einstellungen und seiner Umwelt für ihn persönlich akzeptabel sind?
Kontrolle hat mit Autorität zu tun. Und Autorität muss sich heute die Frage stellen, welche Autorität akzeptabel ist. Unabhängigkeit, auch eines der Versprechen des Vernetzungs-Heilsgedankens, ist neo-primitive Einsiedelei, wenn sie sich der Autoritätsfrage nicht stellt. Autoritäten sagen dabei weniger, wo es lang geht, sondern unter welchen Bedingungen Handlungen funktionieren und Effekte bewirken können. Das kann auf unterschiedliche Art und Weise verstanden werden: Autorität sagt, was funktioniert – eben weil Autoritäten darüber entscheiden können. In dieser Sichtweise geht es um das Wie-es-sich-Gehört, darum, die richtigen Dinge zu tun, die man eben tun muss, um unter den gegebenen Voraussetzungen mitspielen zu können. Auf der anderen Seite ist Autorität eine ganz praktische Eigenschaft, die sich nicht behaupten muss, sondern über ihre eigenen Auswirkungen spürbar wird. Dabei gibt Autorität nicht vor, was sich gehört oder was zu tun richtig wäre, sie entsteht dadurch, dass Dinge richtig gemacht werden. Im ersten Fall ist Autorität also eine Voraussetzung, um über richtig und falsch entscheiden zu können, im zweiten Fall eine Folge richtiger Handlungen und Entscheidungen. Im ersten Fall ist der Rahmen des Richtigen vorgegeben. Etwas anderes ist dabei vielleicht nicht falsch, aber es fällt einfach aus dem Rahmen. Im zweiten Fall ist die Frage des Richtigen nicht vorentschieden. Richtig oder falsch bleiben eine Frage der jeweiligen Zielsetzung und die Entscheidung ist vom Ergebnis abhängig. Autorität ist damit nicht die Eigenschaft des Erfolgreichen oder Mächtigen, sondern die des Problemlösers. Die gelösten Probleme haben dabei nicht mit Machtfragen oder mit etablierten Zielsetzungen zu tun. Sie ergeben sich aus persönlichen Zielsetzungen – Autorität hat aus dieser Perspektive derjenige, der Antworten geben kann und einem anderen auf den Weg hilft.
Das zweite Autoritätskonzept ist etwa das, das Michail Bakunin als auch anarchistisch tolerierbare Autorität entwirft. Anarchie fällt, in Bakunins Darstellung, nicht in den Retroprimitivismus zurück, der sich weltfremd verweigert und praktische Gesetzmäßigkeiten ignoriert. Anarchistische Verantwortung ist im Gegenteil die, Autoritäten zu suchen und sie auf die Verwendbarkeit für eigene Ziele zu überprüfen. (Wozu, als Randbemerkung, auch die Fähigkeit und der Wille, zu lernen, gehören. Anarchist zu sein setzt also eine Menge Wissen und Bildung voraus…)
Wenn dazu auch wirtschaftliche Ziele und Fähigkeiten gehören, dann deckt sich diese Vorstellung recht weitgehend mit dem, was die Akzelerationisten als neue erforderliche Skills beschreiben.
Die Frage ist nur, wodurch sich diese Ökonomisierung von der des ursprünglich kritisierten Ausgangspunkts unterscheidet. Formell gesehen vielleicht gar nicht. Sie verwendet die gleichen Instrumente, setzt die gleichen Methoden an und funktioniert nach den gleichen Regeln. Der Unterschied liegt in der Vielfalt der Akteure und in den Kreisen, die der Konsum zieht.
Ich glaube nicht an eine große Paralleldynamik, wie sie der akzelerationistische Kapitalismus vielleicht entwirft. Das klingt nach einer grundsätzlich naiven Hoffnung, als würden sich die Mechanismen, die bisher funktioniert haben, wiederholen lassen, um ökonomische und damit auch Machdefizite aufholen zu können. Das wird nicht passieren: Wo nichts ist, wird das Wachstum immer langsamer sein als dort, wo schon viel ist.
Kapitalistische Methoden, die ja letztlich damit zusammengefasst werden können, Leistungen gegen kommerzielle Werte zu verrechnen, entscheiden nicht nur, wohin Geld (und damit Werte und Macht) im einzelnen fließen, sondern auch, wohin sie ingesamt fließen.
Damit entstehen Wahlmöglichkeiten. Diese sind grundsätzlich einmal klein. Aber sie wirken doppelt: Geld, das einmal wohin fliesst, kann kein zweites Mal wohin fliessen. Vorausgesetzt natürlich, dass das Spiel funktioniert. Es beruht jedenfalls auf Gegenseitigkeit.
Der Turbokapitalist von heute ist der anarchistische Konsumverweigerer, der sein Geld nur dorthin trägt, wo er es sehen möchte.
Er schafft neue Märkte. Auch das wäre, aus dem Blickwinkel des Liberalabsolutismus, eine weitere Form von Knechtschaft, die schliesslich einigen Einschränkungen begegnet.
Mag sein.
Freiheit ist aber mittlerweile selbst zur Tyrannei geworden. Wir müssen wenig, können viel, und etwas – egal was, ein Job, eine Beziehung, ein Stück Kuchen – gilt nur dann als gut, wenn es auch wirklich das ist, was wir wollen. In ihrem Buch “Tyrannei der Freiheit” stellt Renata Salecl die Frage, ob der Aufwand, der notwendig ist, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen, und der Stress, ob es vielleicht doch auch einmal eine falsche Entscheidung war, nicht vielleicht größer sind als die eventuellen Nachteile einer zweit- oder drittbesten Entscheidung.
Damit wirft uns auch die ursprünglich von so großen Fragen wie der von Freiheit, Ungleichheit und Solidarität ausgehende Überlegung auf recht persönliche Fragen der Lebensform zurück. Oder: Jetzt sind diese Fragen persönlich, vor einigen Jahrzehnten waren sie es ganz und gar nicht. Nach welchen Möglichkeiten können persönliche Lebensentscheidungen kritisiert werden? Die Philosophin Rahel Jaeggi führt in ihrer “Kritik von Lebensformen” ein wesentliches Argument an: Entscheidend für die innere Qualität von Lebensformen ist deren Lernfähigkeit. Solange sie mit ihrer Umgebung zurechtkommen, auf Veränderungen reagieren können und sich innerhalb des selbstgesteckten Rahmens weiterentwickeln können, funktionieren Lebensformen. Problematisch ist es vor allem, wenn sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden können. Aus den eigenen Werten abgeleitete Ziele werden nicht erreicht, und es gibt keine angemessenen Methoden, um diese Ziele auf anderen Wegen zu erreichen – dann ist es Zeit, neue Perspektiven und Paradigmen zu akzeptieren.
Damit kommen wir zur eigentlich spannenden Frage am Schluss: Wer, wenn wir diese Frage auf das Verständnis von Politik- und Wirtschaftsformen beziehen, ist jetzt so weit, dass die Lernfähigkeit an die Grenzen stößt und ein Abschied dringend notwendig wäre?
Wobei das zu einfach wäre, wenn sich damit nicht eine neue Frage öffnete: Welche Grenzen? Wer soll uns Grenzen setzen? Grenzen haben heute immer zwei Seiten – den einen beschränken sie, der andere setzt sie. Und es ist ein Leichtes, den Setzenden auch in seine Schranken zu verweisen, denn die naturgegebenen, allgemeingültigen Grenzen, die scheint es heute nicht zu geben.
Im Gegenteil, die wirksamste Grenze ist die, wenn wir an den Punkt kommen, an dem wir sagen müssen „Oh, das wollte ich nicht.“ Wenn wir die Ursache dieser Aussage auf uns selbst zurückführen können, dann schwingt vielleicht ein kleiner Genierer mit, wenn wir sie ernst meinen, dann hat sie vielleicht auch mit Mitgefühl für den Betroffenen zu tun.
Jeder vernünftige Mensch muss sich heute eigentlich sagen „Das wollte ich nicht“. Egal ob er aus wirtschaftsliberaler Sicht zusieht, wie er seinen Feind züchtet, oder ob er aus regressiv-verweigernder, romantisch-archaischer Rückzugsperspektive erkennt, wie bedeutungslos sein Rückzug ist. Insofern ist die allgegenwärtige Selbstkontrolle vielleicht nichts schlechtes. Sie lässt uns nicht allein; sie zeigt uns, dass es Konsequenzen gibt und dass wir nicht so allein und unabhängig sind, wie wir es vielleicht manchmal gerne wären. Heisst auf der einen Seite: Freiheit ist nicht alles. Und auf der anderen Seite: Solidarität macht nur dann Sinn, wenn sie Freiheit voraussetzt.
Und irgendwie gibt es damit zwei Leitfiguren der Zukunft: Den vernünftigen Langweiler, der sich Dinge überlegt, Abhängigkeiten erkennt und bis drei zählen kann, und den Anarchisten, der kein Problem, mit sachlichen Autoritäten hat, wenn sie Sinn machen – aber mit allen anderen schon.
Und wahrscheinlich sind diese beiden gar nicht so weit auseinander.
Und so sehr es einem Menschen, der gewohnt war, auf sich selbst zu schauen und andere zu respektieren, widerstreben mag: Es wäre an der Zeit, Forderungen zu stellen, oder auch anderen mal zu sagen, dass sie dumm sind.
Und um auf noch einmal auf die Frage der Ungleichheit zurückzukommen: