Sozial ist das neue dystopisch

Sozial ist das neue dystopisch

Drei sehr verschiedene aktuelle Bücher widmen sich sozialen Dystopien. Vernetzung, früher ein Weg zu Freiheit und Unabhängigkeit, ist in diesen Texten Bedrohung und Mittel der Unterdrückung.

Überwachung, das ist auch das freundliche Nudging, das Umweltsünder davor bewahrt, Plastikmüll falsch zu entsorgen, das Autoraser entlarvt und nachts für Sicherheit sorgt. Überwachung hat viel von ihrer bedrohlichen Seite als allgegenwärtige Kontrolle mit Konsequenzen und Sanktionen verloren. Dauerpräsenz ist Alltag. Allwissende Instanzen sind per se nicht mehr schlecht – es kann auch ganz nützlich, wenn alles irgendwo registriert wird. Durch Dauerpräsenz treten Gewöhnungseffekte ein. Manchmal verkehrt sich dann auch, was als störend empfunden wird: Ist es die Dauerpräsenz? Oder ist es deren Fehlen? 

Drei aktuelle Bücher widmen sich dem Themenkreis von Sozialem, Sichtbarkeit und möglichen neuen Dystopien. Es ist Zufall, dass ich alle drei in unmittelbarer zeitlicher Nähe gelesen habe. Ihre Perspektiven sind sehr unterschiedlich. Léa Murawiecz greift in „Die große Leere“ das Motiv der Bestätigung durch und Abhängigkeit von Beachtung auf. In einer angedeuteten Gesellschaft sterben Menschen, wenn niemand an sie denkt. Das ist aber kein Vergissmeinnicht-Romantik, eher eine Drogenmetapher. Wer nicht beachtet wird, stirbt im Entzug, wer viel Beachtung bekommt, entwickelt rücksichtslosen Größenwahn. Die Protagonistin der Graphic Novel arbeitet anfangs in einer Art Call Center, im dem bezahlte Agents an jene denken, sie sonst zu wenig Beachtung bekommen und die sich über diese Dienstleistung das lebensnotwendige Aufmerksamkeitsmaß sichern. Murawiecz erzählt wenig, die Story bleibt dünn. Optisch schön umgesetzt ist die Dauerpräsenz der Beachtung in Großstadtszenen mit Werbeschildern in Straßenschluchten, die die Materialisierung von Aufmerksamkeit verkörpern. Jenseits dieser Straßenschluchten lockt oder droht die Große Leere, in der es diese Aufmerksamkeit nicht gibt. 

Kontrolle und Überwachung sind bei Murawiecz kein Thema. Beachtung ist lebensnotwendig; die Abhängigkeitsverhältnisse sind Grund für Kritik. Dystopisch ist der Entzug von Aufmerksamkeit, der einer tödlichen Krankheit gleichkommt. 

Bei Joshua Cotter in „nod away“ leben die Protagonisten in einer Welt, die keine Kommunikationsdevices mehr braucht. Was wir heute als Social Media-Nutzung kennen, heißt dort Streaming und es passiert direkt über die Gehirne der Streamenden. Vereinzelt verweigern sich Menschen, sie gelten als eher rückständig. Streamen ist eine passive Angelegenheit, in der Konsumenten wenig Wahl haben. Wer nicht streamt, ist ein verdächtiger Außenseiter, ist von wichtigen Informationsflüssen abgeschnitten, vergibt sich Karrierechancen

Die Handlung verlagert sich auf eine Raumstation, Vorgesetzte steuern Mitarbeiter per Streaming, ein paar Monster treten auf, die Story zerfällt dann ein wenig. 

Nincshof von Johanna Sebauer hat eine vielversprechenden Klappentext – eine Gruppe Menschen in einem kleinen burgenländischen Dorf nennt sich Oblivisten, ihr Ziel ist es, das Dorf dem Vergessen anheimfallen zu lassen, um ungestört zu bleiben. Das klingt spannend. Das war es aber auch schon. Die Story bleibt dünn und hätte bestenfalls eine kurze Erzählung getragen. Mit bemühtem Schmäh und der versagenden Originalität eines öffentlich-rechtlichen Fernsehkrimis wird der nicht vohandene Plot auf Buchlönge ausgewalzt. Das eigentliche Thema gerät zusehends in Vergessenheit. Die Idee bleibt gut, aber ihre Auswalzung in Buchlange löst auch etwas Fremdscham aus.

Entzug von Aufmerksamkeit, direkte Gedankenkontrolle, Freiheit durch Vergessenwerden – soziale Bindungen sind relevant, ihre Auswirkungen werden in unterschiedichen Texten sehr unterschiedlich gelesen. Allen dreien ist gemeinsam: Der einzelne ist gegenüber eine umfassenden Vernetzung und (virtuellen) Sozialisierung machtlos. Da ist keine Rede mehr von bottom up- und grassroots-Vernetzung, die Allgegenwart von Kommunikationskanälen dient Mächtigen, Freiheit durch Digitalisierung, Social Media und Kommunikation ist nicht einmal mehr ein Lichtstreif einer längst untergegangenen Sonne. 

Es ist selbstverständlich, dass Vernetzung und Kommunikation der Kontrolle dienen. 

Und das wird fallweise auch gar nicht mehr als Problem gesehen. Die Texte haben mich auch an ein Informatik-Seminar vor ein oder zwei Jahren erinnert, in dem Studierende aufgefordert waren, technische Visionen zu entwickeln, Skizzen für Technologien zu entwickeln, die Probleme der Gegenwart lösen. Mehr als die Hälfte der Projektgruppen entwarf Üverwachungsinfrastrukturen, mit deren Hilfe sich erwünschtes Verhalten steuern lassen sollte. Mülltrennung, Verkehrsverhalten, Rücksichtnahme im Alltag – Überwachungsmechanismen sollten in all diese Bereiche eingreifen und belohnen oder bestrafen, so wie es die Betreiber der Überwachungsstrukturen festgelegt hätten. Keines der vorgestellten Konzept verschwendete einen Gedanken daran, ob Überwachungsinfrastrukturen auch problematisch sein könnten. Sie waren einfach da, das war hinzunehmen. China setzt das ein – warum sollen wir das nicht auch machen, lieber eigene Überwachung aufbauen als anderen diesen Informationsvorsprung überlassen. 

Technische Einflüsse auf Soziales einfach hinnehmen – das führt zu einem neuen Techno-Determinismus, der ein Problem wird. Die Wurzeln des Techno-Determinismus liegen in den 60er Jahren; seine Ausprägungen waren ein paar Untergangsphilosophien und dunkle Science Fiction Filme. Heute aber gibt es weit mehr Möglchkeiten, Techno-Determinismus (also Technologie als bestimmenden Einfluss auf Welt und Gesellschaft) auch Praxis werden zu lassen.  

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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