Werner Heisenberg, Physics and Philosophy

Werner Heisenberg, Physics and Philosophy

Heisenbergs Essay ist ein Aufruf, sich mit Unklarheiten zu beschäftigen. Nicht alle Uneindeutigkeiten werden mit mehr Wissen oder besseren Instrumenten verschwinden.

Es ist eines der relevantesten Wissenschafts-Erklärbücher überhaupt. Schließlich wirkt Quantentheorie auch für jemanden, der gleich zwei Mal Philosophie studiert hat, wie ein Elitenrätsel esoterischer Geheimbündler – und wird leider oft auch so diskutiert und vermittelt. Heisenbergs Buch ist da ganz anders. Jeder Satz ist präzise und verständlich – und ganz nebenbei erklärt Heisenberg auch noch 2500 Jahre Philosophiegeschichte im Überblick.

Eine der zentralen Thesen für das Verständnis von Quantenmechanik: Alltagsbegriffe verlieren ihre Bedeutung, wenn sie auf Konzepte außerhalb der Alltagserfahrungen angewendet werden. Dann liefern sie keine zufriedenstellenden Erklärungen mehr. Umgekehrt sind präzise wissenschaftliche Begriffe nicht besonders gut darin, Bedeutung zu vermitteln. Sie bezeichnen etwas und machen es damit eindeutig – aber damit ist es noch nicht erklärt (das ist auch ein systemisches Problem von Definitionen. Begriffe sind nie ganz klar und werden durch Vernunft und Analyse auch nie restlos geklärt werden können. Aber manche, meint Heisenberg ganz pragmatisch, sind eben notwendig, um Wissenschaft betreiben zu können. Heisenberg kommt übrigens auf dem Umweg über Kant zu diesem Entschluss. Kants Kategorien von Raum und Zeit, in denen Erfahrung stattfinden kann, sind solche notwendigen Begriffe. Sie müssen als gesetzt angenommen werden (bei Kant heißt das a priori); der Versuch, sie restlos logisch zu klären, würde Wissenschaft unmöglich machen.

Eine weitere von Heisenbergs womöglich in den 50er Jahren noch aufregenderen Thesen: Wir sind nicht, weder als Menschen noch als Wissenschaftler, von einer zu beobachtenden und zu erkennenden Welt getrennt, wir sind Teil dieser Welt, Teil unserer Beobachtung, und unsere Beobachtung ist ein wesentlicher Prozess bei dem Vorgang, diese Welt zu erkennen.

Das heißt letztlich: Realität ist ein Ergebnis und eine Eigenschaft der Beobachtung. Sie ist weniger Eigenschaft des Beobachteten. Quantenmechanik ist eine statistische Theorie, in der Wahrscheinlichkeiten eine zentrale Rolle spielen. In diesem Licht bedeutet das: Wahrscheinlichkeiten repräsentieren einen Fakt und das Wissen über diesen Fakt.

Mit diesen Vorbedingungen werden bekannte Interpretationen der Quantenphysik um einiges leichter verdaulich. Beobachtungen und damit auch die Bedingungen eins Experiments stehen in Wechselwirkung mit Ergebnissen. Wenn wir nicht gleichzeitig genau sagen können, wo ein Teilchen ist und wohin es sich bewegt, liegt das nicht nur an Eigenschaften dieses Teilchens, sondern auch daran, dass der Raum, in dem sich das Teilchen innerhalb einer bestimmten Zeit verändert und dadurch eine Bewegung vollzieht, so wie die Zeit eine notwendige Voraussetzung der Vorstellung von Bewegung ist. Immer weitere Erkenntnisse zu neuen Erscheinungsformen von Elementarteilchen, die sich in unterschiedlichen Anwendungen weiter zerlegen, anders zusammensetzen oder neues bilden, tragen mit dazu bei.

Von diesem letzten Punkt – der Einheit von Materie – zieht Heisenberg einen langen Bogen zurück zu den frühesten Vorsokratikern. Nach ersten Konzepten über Mächte und Energien tauchten bei den Materialisten Ideen unteilbarer Elementarteilchen auf, aus denen alles zusammengestetzt werden kann. Eine Idee, die sich bis in ausgereifte moderne Atommodelle durchzog, bis immer genauere Experimente und neue Teilchenkonzepte Energie als treibende Kraft zurück ins Spiel brachte. Ist Bewegung und daraus resultierende Energie das Verbindende in Materie? – Oder werden deshalb die alten Konzepte scheinbar wieder relevant, weil das die Erklärungen sind, zu denen wir als Menschen eben immer wieder angesichts dieser Fragestellungen kommen?

Für Sozialwissenschaftler sind Heisenbergs Konzepte leichter zu nehmen als für Naturwissenschaftler oder Techniker. Der Forscher ist hier immer Teil des Systems, Methoden haben Einfluss auf Ergebnisse und Ergebnisse unterliegen Interpretationen. 

Dennoch sind manche von Heisenbergs Schlüssen auch aus dieser Perspektive überraschend. Zeitgeist, meint Heisenberg etwa, ist ein ebenso objektiver wissenschaftlicher Fakt wie andere Fakten in den Naturwissenschaften. Das klingt nach einer steilen These. Allerdings ist es nur eine konsequente Fortsetzung des Gedankens, dass Fakten vorläufige Ergebnisse komplexer Prozesse, eigentlich selbst Prozesse und in ihrer Bewertung  und Bedeutung veränderlich sind. All das trifft auch auf vage Konstrukte wie Zeitgeist zu – der allerdings ist für die Auswahl von Fragestellungen und die Interpretation von Ergebnissen immens bedeutend.

Immer wieder stellt man sich bei Heisenbergs Argumenten die Frage, was davon jetzt Analogie, Allegorie und was Beschreibung von Experimenten und Ergebnissen. Wo sind die Begriffe unscharf und wo die Teilchen?

Heisenberg beschäftigt sich mit Physik und Naturwissenschaft und lenkt gerade damit, mit dieser scheinbar neutralsten und objektivsten Art der Wissenssammlung, die sich geradewegs an nachvollziehbaren Fakten orientiert, dazu auf, sich mit den Grundlagen des Denkens, der Sprache, der Wahrnehmung, kurz: mit sich selbst zu beschäftigen. 

Physik nimmt eine subjektive Wende und stellt damit die traditionellen Grenzen zwischen Subjektivität und Objektvitiät zur Disposition. Von hier aus kann man zu esoterischen Auswüchsen starten. Heisenbergs kann aber auch als eine Art Programm zur Einordnung anderer Wissenschaften gelesen werden, die einer Neupositionierung bedürfen, um vom Fleck zu kommen. Data Science etwa gilt den einen als Königsweg zur besseren, mathematisch faktengestützten Entscheidung, anderen als durch Bias verdorbene Reproduktion herrschender Verhältnisse, denn Algorithmen reproduzieren nur, womit sie gefüttert werden.

Auch hier hilft die Perspektivenverschiebung, die sich von der Trennung von Beobachter und Beobachtetem loslöst und den Beobachter als Teil des Systems begreift. Datenorientierte Fragestellungen und Antworten müssen im Licht von Zwecken und Zielen betrachtet werden, um sinnvolle Antworten geben zu können.

Ähnliches gilt für die Beschäftigung mit KI. Ehrfürchtige oder panische Beschwörungen gegenüber einer irgendwo dort draußen zu findenden KI sind Verkürzungen, die das Problem, das sie angeblich beschreiben, erst schaffen. Diskussionen zur Regulierung, Beschränkung oder Nutzung von KI, die deren Prozesse nicht in ihren Einzelteilen betrachten und behandeln können, produzieren leere Begriffswelten, die mehr über die Geisteswelt ihres Produzenten aussagen als über ihr angebliches Objekt.

Heisenbergs Text ist ein Aufruf, sich mit Unklarheiten zu beschäftigen. Unübersichtliche Stellen in der Wissenschaft sind oft nicht nur eine Frage des Fortschritts, sie werden nicht mit fortschreitender Erkenntnis oder verbesserten Werkzeugen verschwinden. Sie begleiten Forschende manchmal seit über 2500 Jahren, egal ob Vorsokratiker in den Himmel sagen oder Physiker der Gegenwart auf den Teilchenbeschleuniger.

Diese Unübersichtlichkeiten sind oft Teil und Ergebnis von Sprache, Versuchsanordnung, Welterklärungskonzepten, manche werden reduziert oder durch andere ersetzt, manche bleiben erhalten. Und diese Unübersichtlichkeiten stellen nicht das infrage, was wir so weit gesichert wissen, als es funktioniert. Denn was funktioniert, ist aus einer pragmatischen Perspektive grundsätzlich einmal richtig.

Auch das ist eine wichtige Funktion, die die Rumpelkammer der Wissenschaft erfüllt: Dort können Unübersichtlichkeiten und Anomalien gelagert werden, ohne andere Bereiche, für die sie weniger relevant sind, zu stören. Sie können jederzeit hervorgeholt werden, wenn es sinnvoll erscheint. Aber jede Fragestellung, jede Aufgabe hat ihre Sprache und ihre angemessenen Methoden, wie Heisenberg schreibt. Und keine davon schließt die anderen aus – außer vielleicht für diesen einen konkreten Zweck.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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