Intellektuelle Machtdemonstrationen

Geoffroy de Lagasnerie ist ein neues Wunderkind der akademischen Philosophie in Frankreich, seit seinen früheren 30ern Professor an der Ecole Normale Superieure, einer der Gehör findet, wenn er sich äußert. Das ist auch zugleich eine der Schwachstellen seines Buchs „Denken in einer schlechten Welt“.
Der Text ist ein Manifest für die Verantwortung der Intellektuellen, für die Selbstverständlichkeit, Position zu beziehen. Das Bild des engagierten Intellektuellen, das Engagement in einen nicht selbstverständlichen Zusatz eines von praktischer Verantwortung befreiten Intellektuellen verwandelt, ist die Zielscheibe seiner Kritik.
Für Lagasnerie ist es selbstverständlich, dass der denkende Mensch immer auch ein Anliegen hat und gegen herrschende Verhältnisse arbeitet. In seinen Argumenten stecken viele Grundzüge, die jeder kennt, der oder die gegen bestehende Verhältnisse argumentiert:
  • Kritik ist immer zweischneidig, weil sie auch in ihrer schärfsten Form die Vorherrschaft des Bestehenden anerkennt und bekräftigt (Lagasnerie führt das am Beispiel von Foucaults Gefängniskritik aus: Jede Kritik an der sozialen Funktion von Gefängnissen bekräftigt erst einmal, das Gefängnisse eine soziale Funktion haben und dass Strafe, Korrektur, Sozialisierung wünschenswerte, mögliche und im Rahmen der Gefängnislogik verhandelbare Ziele sind).
  • Kritik räumt dem Kritisierten (und damit dem Gegner) Raum ein – auch und gerade, wenn dessen Positionen als fundamental falsch erachtet werden. Sie müssen nur weit verbreitet sein. (Das lässt sich am plakativsten an (anti)feministischen Diskursen nachvollziehen, in denen immer wieder traditionell patriarchalische Positionen reklamiert werden – obwohl sie nicht Thema sind.)
  • Sich aus diesem Sumpf zu befreien, ist anstrengend. Wenn der Befreiungsschlag intellektuell redlich sein soll, ist es um so anstrengender – es müssen neue Positionen geschärft und deren Basis geklärt werden. Vertreter der kritisierten Positionen dagegen können auf ein breites Repertoire schon oft durchgespielter Argumente zurückgreifen, sie haben die Macht des manchmal auch nur scheinbar Faktischen auf ihrer Seite, und (Lagasnerie schickt Bourdieu ins Rennen): „Jeder Dummkopf kann den Status Quo verteidigen“.
Bis hierher kann man zur Gänze zustimmen.
Problematisch ist aber, was Lagasnerie dabei für hinderliche oder förderliche Faktoren hält.
Hinderlich ist seiner Meinung nach, dass die intellektuelle Welt in Disziplinen gespalten ist, wenig gemeinsames Vokabular hat und erst an der Bereitschaft, sich zu verständigen, arbeiten müsste. Lagasnerie plädiert für ethische Räume, die einen gemeinsamen Hintergrund schaffen und klassische Trennlinien überwinden.
Förderlich ist seiner Meinung nach die Tatsache, dass heute jedermann publizieren und sich Gehör verschaffen kann. – Damit komme ich wieder zu meinem allerersten Einwand zurück. Publizieren kann jede und jeder, gehört wird kaum jemand – schon gar nicht in Kreisen, die über die engste Nähe hinausgehen. Das liegt nicht nur an Reichweitenproblemen und der Allgegenwart von Medien und Publiziertem. Das liegt auch, wenn nicht vielmehr, an unterschiedlichen Erwartungen und Arghumentationsweisen, an logischen Grenzen, die überwunden werden müssten, um Information entstehen zu lassen, um andere Sichtweisen verständlich werden zu lassen.
Gerade weil jede und jeder publizieren kann, ist es viel einfacher, passende und für das eigene Weltbild stimmige Informationen zu suchen, als sich in eine Auseinandersetzung zu mühen.
 
Lagasneries Absicht ist sicher redlich, es fällt allerdings schwer, nicht genau den abgehobenen elitären in seine Luxusprobleme vertieften Besserwisser darin zu sehen, der eben mühelos ignoriert werden kann.
Wenn ein junger akademisch erfolgreicher Mensch die größten Hürden seiner Wirkung in akademisch gezogenen und gehüteten Trennlinien sieht, dann ist das schon ziemlich traurig. Noch trauriger ist nur, dass er damit – zumindest auf die Wirkung akademischen Arbeitens bezogen – recht hat.
 
Aber zurück zum Praktischen: Ein richtiger Gedanke ist zugleich ein Aufruf zur Veränderung. Man bemüht sich nicht darum, einen Gedanken folgerichtig, nachvollziehbar und überzeugend darzustellen, wenn man nicht auch an dessen Umsetzung interessiert wäre. Irgendwo gibt es doch noch eine Art Konsens, dass Handeln sich an Richtigkeit orientieren sollte.
Dessen, und auch das ist eine der Essenzen von Lagasneries Manifest, sollten sich Intellektuelle bewusst sein – auch und gerade, wenn sie sich konservativ geben. Jedem schlüssigen Gedanken wohnt auch eine Aufforderung inne – die zu verändern, oder zu bewahren, die, etwas zu tun, um sich der Essenz des Gedankens anzunähern, oder die, etwas zu unterlassen, um zu bewahren.
„Ich sag’s ja nur“, „Ich spreche nur die Wahrheit aus“ – das sind Verkürzungen, die nicht zulässig sind. In der Theorie sind solche Aussagen möglich, praktisch beschneiden sie allerdings die Fundamente ihrer eigenen Möglichkeit. Sie priorisieren, blenden aus, geben Richtung – sie sind niemals einfach nur neutral. Je weniger Voraussetzungen jemand explizit für seine Aussage bemühen muss, desto mehr Macht demonstriert er oder sie damit. Macht bedeutet hier, sich auf Gesetztes, Vorhandenes zu berufen und hier auch auf Unterstützung zählen zu können.
 
Lagasnerie streift das. Von hier aus würde es sich lohnen, weiterzudenken. In Lagasneries Buch passiert das leider nicht.