Der ständige Überlebenskampf stresst. Sorge, Zeitmangel, Gedanken, die sich im Kreis drehen, nächtelang wachliegen, zum wiederholten Mal nachrechnen, ob man die neuerliche Überziehung am Konto in Kauf nehmen kann – all das kostet Kraft. Und es führt zu Ersatzhandlungen und Ablenkungsmanövern: Rauchen, Trinken, schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung, kein Sport, Drogen und Passivität, Gefangensein in immer wiederkehrenden Gedankenkreise, die jeden Schritt aus aus diesem Kreis unmöglich groß erscheinen lassen – so beschreibt der schottische Autor Darren McGarvey die Folgen von Armut in seinem Buch „Poverty Safari“. McGarvey wuchs als Sohn einer Alkoholikerin auf, war nach deren frühem Tod einige Jahre obdachlos, arbeitete als Berater und Eisbrecher (unter dem Stagenamen Loki tritt der als schottischer Rapper auf) in der Sozialbetreuung und sogar als Sendungsgestalter für die BBC – und schlitterte trotzdem in eine Karriere von Alkoholismus, Drogen, Junkfood-Sucht und Hass.
Vom Klassenkämpfer zum Armuts-Testimonial
In “Poverty Safari” beschreibt er Armut in den Wohnsilo-Gegenden von Glasgow, seine Erfahrungen mit der Sozial- und Hilfsindustrie und seine Ansichten über den Umgang mit Armut. McGarvey war ein begeisterter Klassenkämpfer, der in den Verhältnissen die wesentlichen Gründe für viele Probleme sind. Es brauchte eine Revolution, einen Umsturz der Verhältnisse, ein neues System jenseits des Kapitalismus, um Menschen aus der Armut zu helfen.
Seine Position als rappender Obdachloser, als intelligenter Junkie, als hellsichtiger Alkoholiker machte ihn als Testimonial für die Hilfsindustrie interessant. Und das veränderte seine Perspektive deutlich. Menschen, die Armut bekämpfen wollen, kennen Armut und ihre Folgen oft nicht, war Garveys Ausgangsthese. Während seiner Zeit in der Hilfsindustrie lernte er, dass sie sich auch kaum dafür interessieren. Arme Menschen haben eine Opferrolle zu erfüllen, sie müssen bedürftig sein, sie können schon auch mal wütende sein und die Hand beißen, die sie füttert – was sie aber nicht dürfen, ist die klassenkämpferische Attitude der Helfer zu kritisieren. Garvey kam irgendwas zu dem Entschluss, dass auch die bestausgestatteten Versorgungsprogramme Armut nicht reduzieren werden. Was notwendig sei, ist die Erkenntnis, dass vieles auch in der eigenen Macht und Reichweite armer Menschen liegt. Jede und jeder muss sich selbst dazu entscheiden, seine oder ihre Verhältnisse ändern zu wollen, jeder Alkoholiker, Junkie oder Junkfoodsüchtige muss sich selbst dazu entscheiden, die Passivität, die seine Sucht begleitet, überwinden zu wollen.
Nur die “Revolution” ist noch nebulöser als der “Neoliberalismus”
Dazu braucht es Hilfe, Sozialzentren, Sozialarbeit – aber keine vage Mythologisierung einer Revolution, die nicht stattfinden wird und nichts verändern wird. Gewohnheiten in Konsum, Kultur, Ernährung, Sport und Drogen, die dazu beitragen, Menschen arm zu halten, kann jeder nur für sich selbst durchbrechen. Man könnte McDonald‘s oder Alkohol verbieten – man kann sich aber auch entscheiden, sich davon das Leben nicht zerstören zu lassen. Das aktuell gern gespielte Lied, dass die Zerstörung und Vernachlässigung des Gemeinswesens eine Folge neoliberaler Entwicklungen sei, die an allem antisozialen Schuld seien, wurde zu McGarveys Hassmantra.
Sobald McGarvey solche Gedanken durchblicken ließ, war seine Rolle als Armutsposterboy Geschichte. Er passte nicht mehr in das Bild, das die Armutsindustrie zeichnen wollte, er schlug andere Lösungen vor, als sie den helfenden Klassen vorschwebten. Das Befremden, das er angesichts der Taktiken und der Lernresistenz der Helfen beschreibt, erinnert an das Entsetzen, mit dem der ugandische Schriftsteller Moses Isegawa die Arbeit von Hilfs-NGOs in den Niederlanden kennenlernte.
Arme können sich vor allem deshalb nur selbst helfen, gerade weil die Folgen von Armut so vielschichtig und komplex sind. Es ist kein Hilfsprogramm und keine Wirtschaftsordnung, die diese Probleme lösen kann. Was allerdings nicht bedeutet, dass die Gesellschaft von ihrer Pflicht zur Hilfe entbunden wäre. Ganz im Gegenteil: Funktionierende Sozialzentren, Jugendzentren, in denen die Dinge, die Jugendliche beschäftigen sollen, auch vorhanden sind und funktionieren, Bibliotheken – all das muss bereitgestellt sein, um Menschen Chancen zu bieten. Und all dass muss in einem kapitalistischen System funktionieren (weil sich keine Alternative dazu abzeichnet), und es darf keinen staatlichen Sparprogrammen zum Opfer fallen.
McGarvey ist keiner, der „es“ geschafft hat. Er predigt nicht von Do what you love, von Erleuchtung oder davon, dass er lernen musste, dass die anderen oder „das System“ recht haben. Er erzählt schlicht von vielen einzelnen Momenten, in denen niemand außer ihm Entscheidungen treffen konnte, in denen wohl auch niemand ein Problem gesehen hätte, das es zu lösen gälte. Ein Beispiel sind seine Fastfood-Attacken: Was soll schon schlecht daran sein, zu McDonald‘s zu gehen? Für jemanden, der versucht, seinen Körper in den Griff zu kriegen, gesünder und beweglicher zu werden, lernt, Selbstwert daraus zu ziehen, eigene Entscheidungen zu treffen und Konsequenz zu zeigen, kann eine Fressattacke wider Willen zerstörerisch sein. Seine Skepsis gegenüber Büchern und kanonischer Literatur ist ein anderes Beispiel. Er folgte lang dem heute auch recht üblichen Muster, dass alte Literatur mit alten Geschichten, die nichts mit dem alltäglichen Leben und seinen realen Herausforderungen zu tun hat, doch niemanden interessieren kann. Heute sieht er Bibliotheken nicht nur wegen der Bücher, sondern auch wegen der Stille als wichtiges Mittel im Kampf gegen Armut. Arme Menschen, die bedrängt in dicht besiedelten Gebieten in Häusern mit Pappkartonqualität leben, können oft allein wegen der Geräuschkulisse keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn ein Buch lesen, mein Garvey.
Klassenkampf, Identity – und am Ende muss man doch selber was tun
Und er spielt auch die Überlegung durch, ob Identität oder Intersektionalität das Potenzial haben, Klassendiskurse zu ersetzen. Die kurze Antwort: Nein. Die lange Antwort: Beide Paradigmen haben den Vorteil, die gröbsten Klischees aufzulösen. Viele Erscheinungsbilder und Folgen von Armut finden sich auch unabhängig von Klasse. Vor allem Ausgrenzung, die Beschäftigung mit zusätzlichen Hürden im Alltag oder Süchte sind nicht an Klasse gebunden. Identity Politics neigt aber dazu, noch strengere Kriterien für Zugehörigkeit anzuwenden. Eben weil die Grenzen stets neu gezogen werden müssen, werden sie umso strikter gehandhabt. Es wird laufend entschieden, wer drin ist und wer nicht, es wird ausgegrenzt und zum Abschuss freigegeben, eigene Positionen sind gerade aufgrund des Bezugs zum Persönlichen unangreifbar und erheben Absolutheitsansprüche – damit zersplittern sie mehr, als sie vereinen oder stärken. Garvey sieht sogar eher hier, in den individualisierten Fronten, die sich auf Positionierung und Abgrenzung konzentrieren, „neoliberale“ Auswüchse: Es sei nicht verwunderlich, dass gerade große Konzerne Diversity als institutionalisierte Identity Politics unterstützen – das schaffe vielfältige Märkte mit immer neuen Bedürfnissen, und es schaffe eine vielschichtige und zersplitterte Arbeiterschaft, die sich nicht geschlossen gegen Konzerne wende. Spätestens hier würden jetzt ja gelernte Gewerkschafter mit pompösen Fanfaren einreiten und die Erstarkung des Kollektivs fordern. Das, so Garvey, helfe aber genau gar nichts gegen Armut. Die einzigen, die von Kollektivierung profitieren, sind jene, die dem Kollektiv vorstehen. Oder eben die Gewerkschaften. Für alle anderen schaffen Kollektive nur einen weiteren Grund, in Passivität zu verharren.
Die Kehrseite wäre nun aber auch nicht, alles und jeden sich selbst zu überlassen. Sozialleistungen, Hilfsangebot und Unterstützungen sind auch in McGarvey Sicht essenziell, sie sollten sogar ausgebaut werden. Sie helfen bei menschenwürdigem Leben und bieten Menschen erst die Umgebung, in der sie klare Gedanken fassen und umsetzen können. – Solche Leistungen tragen für McGarvey aber nichts im Kampf gegen Armut bei. Armut und Abhängigkeit zu überwinden ist etwas, das jeder selbst machen muss. Ohne individuellen Antrieb geht es nicht.
Das steht natürlich in krassem Gegensatz dazu, wenn hierzulande Gewerkschafterinnen mit zitternder Stimme auf Ö1 von der „Lüge der Individualisierung“ erzählen und stattdessen die Rückbesinnung auf Kollektive, am liebsten natürlich unter Führung einer Gewerkschaft, fordern. Es verträgt sich auch wenig mit den Ansichten revolutionsfantasierender Mittzwanziger, die sich als KommunistInnen bezeichnen, trotz prekärer Jobs drei oder vier Auslandsurlaube im Jahr hinlegen und anscheinend keinen Stress haben, an ihrem Einkommen etwas zu ändern.
Irving Welsh, Autor der 90er-Jahre Drogensaga Trainspotting, sieht Poverty Safari als Steilvorlage für das Programm jeder sozialistischen Bewegung. Ich fürchte, auch das wird missverstanden. Auch Sozialisten müssten das Buch eben erst mal lesen.