Die Pandemie und die Kulturtechnik des Behauptens

Jetzt ist wirklich etwas passiert. – Das erinnert an eine österreichische Kriminalromanserie: Der Autor Wolf Haas ließ seinen Detektiv Brenner neue Fälle stets mit dem Stoßseufzer »Jetzt ist schon wieder etwas passiert« beginnen. Der Seufzer brachte die Mischung aus Abneigung gegenüber neuem, Lust an Leid und Drama und einer morbiden Sehnsucht nach etwas Großem auf den Punkt.

Jetzt ist wirklich etwas passiert – und das lässt praktisch vergessen, dass sich vor gar nicht langer Zeit noch große Teile unserer Gesellschaft in einem ähnlichen morbiden Sehnsuchtsmodus befanden. Vor drei Jahren erschien der Reader »Die große Regression« in vierzehn Sprachen gleichzeitig. Was für ein Knall – und was für Fehleinschätzungen versammelten sich in diesem Band. Intellektuelle mokierten sich über Donald Trump, damals neu gewählter Präsident, und Sebastian Kurz, damals in Warteposition. Beide seien Symbolfiguren inhaltsleerer Politik, reiner Politinszenierung, die den idealen Kontrast zu solider (sozial-)demokratischer Politik böten. Sie seien geradezu die unfreiwilligen Garanten (sozial-)demokratischen Erfolgs. 

Rechtspopulistische Wahlerfolge, autoritäre Tendenzen in Osteuropa, erstarkende Faschisten auch im Westen – das bildete auch wieder einen soliden Bodensatz, gegen den sich neues gut abheben könnte. Es sollte Anlass genug sein, Gegenstrategien zu entwickeln, etwas ganz anderes planen zu können. 

Klimawandel, stotternde Konjunktur, Preisblasen, die traditionellen Gesetzen der Ökonomie nicht mehr gehorchten, aus dem Tritt kommende Zyklen von Zinsen und Inflation – es gab zahlreiche Diagnosen, die das Andere erwartbar machten, die dazu aufforderten, sich bereit für etwas Neues zu machen. 

Aber wo soll man schon anfangen? Wie den ersten Schritt setzen? Wie ein ausreichend starkes Moment erzeugen, das andere mitreißt? Das diejenigen, die die ersten Schritte setzen, nicht als merkwürdige Clowns an den Straßenrand stellt? Das in aller Deutlichkeit jedes Aber ausschließt? 

Visionen, Ideen und Plänen blieb ihr größter Bonus, der zugleich ihre große Schwäche ist, erhalten: Sie beziehen sich auf die Zukunft, sie bezeichnen etwas, das sein könnte, wenn es ausreichend unterschiedliche Anlässe gäbe, wenn die Voraussetzungen zuträfen, wenn bestimmte notwendige Bedingungen einträten. Solange das so ist, müssen sie sich nicht an realen Ereignissen messen lassen. Sie haben vielleicht gruppendynamisch wirksamen Motivationscharakter, vielleicht beruhigende Funktion – aber sie kommen selten an den Punkt, an dem über richtig und falsch entschieden werden muss. Das hält sie am Leben. 

Mit der Pandemie war wirklich etwas anders, jetzt war wirklich etwas passiert. 

Endlich Krise, die so bedrohlich sie auch sein mag, manchen als eine rettende Krise erscheint, als eine, die es erlaubt, alles über Bord zu werfen und sich lächelnd von den Überzeugungen von gestern zu verabschieden. 

Gott klopft an unsere Tür, vermutete ein Kardinal. 

Ein Sendbote aus der Zukunft macht, ja was eigentlich, ein Terminator-Reenactment?, orakelte ein prominenter Zukunftsforscher. 

PolitikerInnen, ehemalige PolitikerInnen, GründerInnen, InvestorInnen – viele ergingen sich in Visionen und Prognosen, dass nun endgültig kein Stein mehr auf dem anderen bleibe, in der Fragestellung, ob das Virus nicht auch etwas Gutes habe oder ob die Krise nicht auch eine Chance böte.

Endlich gab es die rettende Krise, endlich das Ereignis, das alle betrifft und alles Störende außer Kraft setzt. 

Eines, das es erlaubt, zu bunten Bildern anzusetzen. Und eines, das alle Visionäre und Propheten der ersten Hürde für alle Visionen und Prophezeiungen enthebt – nämlich jener, erklären zu müssen, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen, warum ihre Vision gerade jetzt die richtige ist. Egal was die Frage war, die Antwort ist: Corona. 

Dieser Verzicht auf das Argument befreit ungemein.

Visionen und Prophezeiungen sind spektakuläre Exemplare von Gedankengebäuden, die ohne viel Fundament in die Höhe wachsen. Ihre Kriterien, ihre Währung sind ihre Farben, Versprechungen und Folgen. Welches Bild ist spektakulärer, regt mehr an. Vielleicht eignet es sich für neue Geschäftsfelder? Ihre Herkunft ist weniger relevant. 

Visionen haben den Vorteil, den nächsten, naheliegenden Schritt zu überspringen. Das verschafft ihnen Freiheit. Der Nachteil ist: Es nimmt ihnen Nachvollziehbarkeit. Visionen, die schillernde mögliche Ereignisse an einem fernen Horizont beschreiben, überspringen Argumente und Logik. Sie befreien sich forsch aus dem Sumpf ihrer Umgebung. Sie machen sich nicht die Mühe, verständlich zu machen, wie und warum sie zu ihren Folgerungen gekommen sind. 

Die 2019 verstorbene Agnes Heller veröffentlichte 2016 den Essay »Von der Utopie zur Dystopie«, das war noch lange vor der Pandemie. Beides, Utopien und Dystopien sind  für Heller Produkte der Einbildungskraft, beide verbinden Ansichten ihrer Zeit mit bestimmten »Leidenschaften«. Im Fall von Utopien, schreibt Heller, ist es die Leidenschaft der Hoffnung. Dystopien werden von der Leidenschaft der Furcht getrieben.

In beiden Fällen also nehmen Erzählungen vage Bezug auf die Wahrnehmung der Gegenwart, dann kommen Disposition und Laune als Katalysatoren hinzu – und es entpuppt sich eine Vision. 

Es spricht nichts dagegen, meint Heller. Sowohl Utopien als auch Dystopien können unterhaltsam sein. Sie können auch anregend sein. Können sie mehr? Heller bezweifelt das. Sogar das visionäre Element in Utopien und Dystopien sollte Spurenelemente von Wahrscheinlichkeit enthalten, nicht nur Möglichkeit, wenn sie denn wirken möchten, wenn sie den Bezug zu ihrer Ausgangslage nicht verlieren möchten, wenn sie über mehr Auskunft geben möchten als über die Einbildungskraft ihrer AutorInnen. 

Post-Covid-ProphetInnen beschäftigen sich weder mit Möglichkeiten noch mit Wahrscheinlichkeiten. Sie ziehen ihre vergessenen Lieblingsvisionen, die zu nahezu jedem Ereignis passen, aus der Tasche, und verpassen ihnen einen neuen Anstrich. Das ist insofern bemerkenswert, als viele dieser coronaspezifische Visionen und Prophezeiungen im Namen der Wissenschaft predigen. VirologInnen, EpidemiologInnen, MathematikerInnen, InformatikerInnen, ÖkonomInnen werden herangezogen, interpretiert, verteufelt, in Medien bloßgestellt oder als Retter charakterisiert. Wissenschaft, Hausverstand und Rationalität sind Leitprinzipien, die viele für sich beanspruchen. Das sorgt allerdings nicht für Einigkeit, Konsistenz oder bessere Verständigung. Es zeigt im Gegenteil, wie großzügig diese Konzepte und ihre Aussagen interpretiert werden können, wie dehnbar sie instrumentalisiert werden können.

VerschwörungstheoretikerInnen liefern die schlüssigsten Argumentationsketten mit den stringentesten Beweisfolgen. Eine Inschrift hier, ein Verwandtschaftsverhältnis dort, ähnliche Formulierungen da, dazu noch simplifizierte Erklärungen komplexer Technologie und aus ihrem Kontext entfernte Zitate – das ergibt erdrückende Beweise, gegen die man sich nur schwer zur Wehr setzen kann.

Jeder Versuch, einem Teilargument zu widersprechen, gibt diesem erst die richtig große Bühne. Der versuchte Widerspruch verschafft dem Argumentssurrogat erst recht Argumentscharakter, indem er es als Argument behandelt, das entkräftet oder widerlegt werden könnte. Und der oder die geübte VerschwörungstheoretikerIn wird immer weiter Belege aus dem Hut zaubern können, denn an Fülle und Überzeugungskraft mangelt es Verschwörungstheorien selten. Sie überspringen die Hürde vom Sein zum Sollen mühelos. Sie verwandeln zwei einander nicht berührende Behauptungen, die nicht einmal wahr sein müssen, in einen sozialen Imperativ, der uns zum Handeln zwingen soll. Sie erzeugen Zusammenhänge, deren wichtigstes Argument »Ist doch klar …« ist.  

Das  hat der blanken Wissenschaft einiges voraus. Vor allem aber auch jenen, die mit der faktischen Kraft wissenschaftlicher Ergebnisse argumentieren möchten. Der Verweis darauf, dass „die Wissenschaft“ dieses oder jenes sage, sagt noch recht wenig darüber, was nun zu geschehen habe. Wissenschaftliche Erkenntnisse liefern Bausteine, die bei Entscheidungen behilflich sein können. Sie allein liefern aber keine Hinweise dazu, welche Entscheidungen getroffen werden sollen, sie liefern meist auch wenig Information darüber, welche Themen eigentlich zur Diskussion stehen. Diese Rolle fällt beispielsweise politischen und sozialen Fragestellungen oder Wertentscheidungen zu.

Das bedeutet auch, dass das Beharren auf der Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse Gefahr läuft, mystische Untergrundwirkungen zu beanspruchen – oder die politischen und sozialen Fragestellungen außer Acht lässt. Fakten sind Fakten – aber sie sagen uns nur dann, was zu tun wäre, wenn wir uns über das Ziel einig sind. 

Hier treffen einander Visionen und Prophezeiungen, schlüssige Verschwörungstheorien und die Apotheose isolierter Fakten. Sie alle überspringen den Moment, in dem Entscheidungen getroffen werden. Entscheidungen sind bereits getroffen – allenfalls wird nach Möglichkeiten gesucht, sie zu bestärken.

Entscheidungen, Einwände und Argumente verschwinden in der Rumpelkammer. Die Rumpelkammer ist der Ort, aus dem Visionen und Prophezeiungen ihre Kraft beziehen.

Das Problem dabei: Diese Rumpelkammer erfüllt auch in der Wissenschaft einen wichtigen Zweck. WissenschaftshistorikerInnen und -philosophInnen haben in verschiedensten Theorien gezeigt, wie immer auch Platz für das Unpassende geschaffen wird, wie auch in den rationalsten Argumentationsgebäuden Platz für das Irrationale reserviert wird, wie auch klar der Theorie widersprechende Realität eher zum Schaden der Realität gereicht als zu jenem der Theorie. Thomas Kuhn beschrieb Paradigmen als leitende Prinzipien wissenschaftlicher Theorien – reale Widersprüche dagegen konnten als Anomalien in der Rumpelkammer verschwinden. Dort blieben sie zumindest solange, bis neue Theorien die Anomalien plausibler erklären konnten als die bislang geltende Realität. Imre Lakatos ging in seinem Konzept von Wissenschaftstheorie von einem harten Kern jeder Theorie aus, der strengen Regeln unterworfen sei. Rundherum bilde sich im Lauf der Zeit ein Schutzgürtel von Hilfshypothesen, die Unschärfen abfangen, Widersprüche verdaulich machen und Ausnahmen integrieren. Nur mit dieser Toleranz gegenüber Unklarheiten sind Entscheidungen möglich, ansonsten würde jede Theorie von einer Reihe von Kleinigkeiten ausgebremst. Ludwik Fleck verlagerte diese Unschärfen in die Sphäre des Sozialen und wies auf die Kraft prägender Denkstile und Denkkollektive hin, solche Unschärfen aufzulösen oder durch Entschlossenheit zu übergehen. In fraglos auch mit Naturwissenschaften verträglichen Konzepten sprachen Quine und Duhem von Unterbestimmtheit von Fakten, wenn diese nicht im Rahmen einer konkreten Theorie betrachtet werden – ohne Theorie können sie vieles bedeuten. Und es ist tückisch, dass die Theorie, mit der Fakten interpretiert werden sollen, zugleich auch Einfluss darauf hat, welche Fakten überhaupt gesucht und gefunden werden.. 

Es bleibt also immer ein unaufgeräumter dunkler Bereich übrig, irgendwo ist immer die Rumpelkammer. Sie ist auch notwendig; Dinge, die dort verstaut werden, wären sonst im Weg. Nachdem immer irgendetwas in der Rumpelkammer verschwindet, handeln wir nicht nur aufgrund klarer und argumentierbarer Entscheidungen. Wir entscheiden auch mit Handlungen. Die Unordnung in der Rumpelkammer, in der Unentscheidbares liegt, wird dabei größer.

Die längste Zeit war das kein Problem, die Richtung schien klar. Europäische Geschichte stellte den Anspruch, eine Erfolgsgeschichte sondergleichen und ein Vorbild für den Rest der Welt zu sein. Wachstum schien möglich. Politische Konzepte waren ausgereift und standen zur Wahl. Menschen konnten sich entscheiden, politisch konservativ oder progressiv zu sein, sie konnten sich für Karriere oder Freizeit entscheiden, für Handwerk oder Wissenschaft. Das geriet ins Wanken. Schon mit der Generation X wurde offenbar, dass berufliche und ökonomische Entscheidungen nicht mehr nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten funktionieren, die Menschen jahrzehntelang gewohnt waren. Es ging nicht immer aufwärts. Klimafragen ließen erkennen, dass aller Wahlmöglichkeit trotz aller technischen und finanziellen Mittel immer noch Grenzen gesetzt sind: Ein lebensfreundlicher Planet ist noch immer eine unhintergehbare Bedingung für alle Menschen. Flucht-, Reise- und Migrationsbewegungen machten offenbar, dass die scheinbar universellen Rahmenbedingungen für viele Menschen völlig bedeutungslos sind. Sie leben in der gleichen, aber doch völlig anderen Welt, in der andere Fragestellungen ungleich relevanter sind – und sie sind nicht mehr weit weg, nicht mehr nur eine tragische, aber leicht zu vergessende Randnotiz. 

Es war möglich, Entscheidungen zu treffen oder Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. Man konnte Grenzen ziehen – geografische, zeitliche – und sich so im wahrsten Sinn des Wortes abgrenzen. Es betraf nicht uns, es betraf andere, wir würden es nicht mehr erleben. 

Die Tür zur Rumpelkammer unserer Entscheidungen steht offen und ungelöste Fragen machen sich lautstark bemerkbar. 

Es wird offensichtlich, dass jetzt – und schon längere Zeit – scheinbar erfolgversprechende Rezepte nicht mehr funktionieren. Staatliche Wirtschaftshilfen illustrieren, wie wenig staatliche Eingriffe abgesehen von der Bereitstellung von Rechtsordnung und Infrastruktur tatsächlich beitragen können, um Volkswirtschaften auf die Sprünge zu helfen. Politische Konzepte verlieren sich in Orientierungslosigkeit. Konservative können keine Ziele jenseits von Machterhalt und Machtgewinn formulieren. Sozialisten benennen wichtige Probleme, verstärken diese aber, statt sie zu lösen, indem sie Konzepte aus dem vorigen Jahrtausend predigen. Die Einschränkung von Grundrechten wird gegen das Überleben ausgespielt. Und viel von dem, was vor kurzem noch smart und praktikabel schien – Leben auf wenig Raum, grenzüberschreitende Mobilität, Just-in-time-Produktion – wird zum Ärgernis, wenn es keine Alternative gibt. 

Jetzt öffnet sich also möglicherweise tatsächlich Spielraum. Jetzt könnten sich tatsächlich Verhältnisse ändern, jetzt könnten andere Schwerpunkte notwendig werden. 

Und das sind wir nicht mehr gewohnt. Es war nicht so wichtig. Es ging ja um nichts, es ist ohnehin nie etwas passiert. Entscheidungen hatten wenig Konsequenzen, der Spielraum war zu klein und es blieb alles im Rahmen. 

Heute stehen wir in manchen Ländern vor Arbeitslosenraten wie nach dem letzten Weltkrieg. Alte Konzepte wie die Ankurbelung von Nachfrage zur Belebung der Wirtschaft funktionieren nicht, weil es zu wenig Angebot gibt. Das wiederum liegt an durchbrochenen Lieferketten, großer Planungsunsicherheit, unklaren Regeln – und einer gewissen Müdigkeit. 

Die Frage »Was jetzt?« könnte tatsächlich relevante Antworten brauchen. Und stattdessen müssen wir uns mit Visionen und Prophezeiungen auseinandersetzen.

Sind Visionen und Prophezeiungen nicht hilfreich? Sie zeigen uns Wege, eröffnen neue Perspektiven und fordern uns auf, uns auf Neues einzulassen. Vielleicht sind wir für das Neue sogar besser gerüstet, wenn wir uns mit Visionen und Prophezeiungen beschäftigen. Aber welcher Logik folgen Visionen und Prophezeiungen? Wie überspringen sie die Hürde vom Sein zum Sollen (und wieder zurück) anders als Verschwörungstheorien? 

Visionen und Prophezeiungen werfen ein Bild in die Zukunft. Dieses Bild soll dann Anleitung geben, wie wir uns in der Gegenwart verhalten. Das ist riskant. Denn das Bild ist ohne viel Zusammenhang zur Gegenwart entstanden – manchmal aus einer Laune heraus, weil jemand es so wollte, weil jemand diese Vision interessant oder erstrebenswert fand.

Was fehlt, ist die Notwendigkeit. 

Projektmanager kennen das aus oft bemühten Karikaturen, in denen ein ansonsten stringenter Projektplan, der aber nie in der gewünschten Zeit zum erwünschten Ergebnis führen würde, irgendwo die Markierung enthält: »Und hier geschieht ein Wunder«. Dieser Punkt löst alle Probleme, überwindet Hürden und setzt gewohnte Gesetzmäßigkeiten außer Kraft. Der Weg ist nicht mehr das Ziel; es zählt ausschließlich das Ergebnis. 

Visionäre bedienen sich oft ebenfalls dieser Möglichkeiten – und das eröffnet Verlockungen. In den zweiten und weiteren Wellen der Pandemie sind sogar die ProphetInnen und VisionärInnen müde geworden. Es ist deutlich leiser als noch im Frühjahr 2020. 

Jetzt ist die Zeit, sich über Gewohntes hinwegzusetzen. Gewohntes verspricht keinen Erfolg mehr. 

Stattdessen könnten wir irgendetwas ausprobieren. 

Das ist, was die vergangenen Jahrzehnte recht risikolos praktiziert wurde. Wir konnten irgendetwas ausprobieren, das meiste hatte kaum Wirkung, Scheitern gehörte dazu und wurde zu einer eigenen Kultur. Das war nicht tragisch, weil die Rahmenbedingungen recht unverändert blieben. Es stand trotz aller großen Geste nicht viel zur Debatte. Im Gegenteil: Es schien, die Geste wurde umso größer, je klarer war, dass wenig darauf folgen würde. Die Selbstkritik Arrivierter, die, nachdem sie sich Erfolg konsequent nach allen Regeln des Spiels erarbeitet haben, nun das Spiel kritisieren, ist dafür ein plakatives Beispiel – seien es spitze Reden bei Oscar-Verleihungen, sendungsbewusste Ex-Journalisten in der Politik oder Ex-Politiker auf missionarischer Selbstfindungsreise. 

Der Form nach nützen wir diesen Spielraum schon längst. Alte Autoritäten haben an Relevanz verloren, Religion oder Tradition schaffen es kaum noch, Schreckgespenster an die Wand zu malen. Alle können sich selbst Stimme verleihen und Position beziehen. Aktivisten stilisieren sich als Wissenschaftler, Politiker als Anführer von Bewegungen. Alle können Raum greifen. 

Was allerdings fehlt, sind verbindende Elemente zwischen all diesen besetzten Räumen. 

Solange nichts geschehen konnte, was das egal. Je größer der Spielraum wird, desto wichtiger werden Möglichkeiten, die wachsenden Zwischenräume zu überbrücken. 

Corona-Visionen und -Prophezeiungen sind nur ein Beispiel für auseinanderdriftende Zwischenräume, die Verbindung und Verständigung erschweren. Der Verzicht auf Argumente lässt sich in vielen anderen Fällen beobachten. Argumente, Zusammenhänge und Logik sind unnötig beschwerender Ballast, den Visionen gern hinter sich lassen. Fallweise ist zusammenhanglose Absurdität geradezu ein Erfolgsfaktor: Wer auf seiner Story bleibt, Einwände und widersprechende Fakten ignoriert und sich nicht beirren lässt, ist geradlinig, konsistent und glaubwürdig. – Das beobachten wir in politischer Kommunikation heute – gerade bei jenen, deren absurde Irrationalität ihren Gegnern noch vor wenigen Jahren eine Verheißung erschien. 

Ignoranz, früher ein Makel der altmodischen Mächtigen, ist heute ein wichtiger Skill, um auf Schiene zu bleiben. Ignoranz füllt die Rumpelkammer ihrer eigenen Entscheidungen großzügig. 

Coronabedingte Unsicherheit beschleunigt einen Prozess, dessen Zeugen wir gerade werden: Es entsteht die neue Kulturtechnik des Behauptens. 

Behaupten ist eine vielschichtige Form des Aussagens. So vielschichtig, dass uns der Begriff »Behauptung« selten ohne ein begleitendes Adjektiv begegnet. Wir kennen gewagte Behauptungen, bloße Behauptungen – diese Beispiele zeigen, dass Behauptungen nicht immer den besten Ruf haben. 

Wir kennen aber auch Selbstbehauptung oder die Möglichkeit, sich zu behaupten oder sich gegen etwas oder jemanden, meist eine Bedrohung, zu behaupten. Das sind Fälle, in denen der Begriff der Behauptung eine produktive, kreative Komponente bekommt. 

Beiden Arten des Behauptens ist gemein, auch ohne viel Verbindung zur Außenwelt funktionieren zu können. Gewagte oder bloße Behauptungen zeichnen sich gerade dadurch aus, nicht viel auf Fakten zu geben. Selbstbehauptung oder das Sich-gegen-etwas-Behaupten konzentrieren sich auf eigene Positionen, setzen eigene Ansichten durch und brauchen andere allenfalls als Reibfläche. 

Behaupten reduziert die Funktion und die Möglichkeiten der anderen. Sie sind Publikum. Die Aufgabe der anderen ist es, Beifall zu spenden, vielleicht auch, sich in Shitstorms zu verwickeln – jedenfalls sollen sie Reaktion zeigen. Reaktion braucht keine inhaltliche Qualität – sie muss in erster Linie auffällig und reichweitenfördernd sein, dann ist sie gut. 

Das ist die nun schon lange eingeübte Logik öffentlichkeitsorientierter Kommunikation, die durch digitale Medien noch einen besonderen Anschub erfahren hat. Aufmerksamkeit und Beachtung sind wichtiges Kapital, das am leichtesten durch auffällige Inszenierungen und Behauptungen gewonnen und vermehrt wird. Sinn dieser Inszenierungen und Behauptungen ist es nicht mehr, Aussagen zu treffen, sondern Beachtung zu finden. Das ist die auf die Spitze getriebene Ökonomie der Aufmerksamkeit. 

Die kreativen und produktiven Komponenten des Behauptens waren ursprünglich dort angesiedelt, wo Grenzen zu überwinden waren, wo neue Wege gesucht wurden. Populär- und Subkulturen waren die ersten großen Bühnen der Selbstbehauptung. Heute sind weitaus mehr Lebensbereiche kreativiert, Kulturkomponenten sind allgegenwärtig und von der Wahl beliebiger Accessoires wie Turnschuhe oder Trinkflaschen über Alltagshandlungen wie Lokalwahl oder Lebensmitteleinkauf ist vieles ein kreativer Akt der Selbstbehauptung, der zur Bildung und Präzisierung von Identitäten beiträgt. So sind auch Handlungen Behauptungen geworden. 

Behauptungen sind eine angemessene Technik, sich Beachtung zu verschaffen. Behauptungen entsprechen den Anforderungen der Öffentlichkeit – sie liefern klare Ansagen, sorgen für Unterhaltung und bieten schnell wechselndes Programm. Sie sind ein probates Mittel, Ambivalenz aus dem Weg zu räumen. Als klare Ansagen sind Behauptungen in der Regel eindeutig. Was nicht bedeutet, dass sie konsistent sein müssen: Am nächsten Tag oder schon wenige Klicks später kann alles anders aussehen; es gibt neuen Stoff für das Publikum. Behauptungen binden die Behauptenden nicht: Sie sind weder von Fakten noch von Geschichte eingeschränkt oder belastet. Entschlossene Behauptungen lassen diesen Ballast hinter sich. 

Damit geben sie auch Verbindungen zu Mitmenschen, zu Argumenten oder Logik auf. Behauptungen verzichten darauf, verstanden werden zu können. Sie müssen keine Probleme lösen, nichts erklären, keine Verbindungen zu anderen Positionen herstellen. Sie müssen nur auffallen und unterhalten. 

Das gilt auch für Visionen und Prophezeiungen rund um die Pandemie. Sie stellen Behauptungen in den Raum, deren vorrangige Funktion es ist, auffällig zu glänzen. Das ist weder neu noch einzigartig. Es ist nur ein exemplarischer Moment, in dem viele geradezu sehnsüchtig auf neue, noch glänzendere, auffälligere Behauptungen warten.

Behauptungen liefern Antworten, ohne gefragt zu haben, sie bieten Lösungen für Probleme, die es so nicht gibt. Das ist angesichts von Ratlosigkeit verlockend. Das erklärt die Beliebtheit von Behauptungen in turbulenten Zeiten. Entschlossenheit wird als Weisheit verstanden, als richtungsweisend. 

Das ist lösungsorientiert, erfolgversprechend und zukunftsgerichtet. Und es überspringt die Mühen der Entscheidung und der Argumentation. Behaupten ist die natürliche Tätigkeit des gesunden Hausverstands, der überflüssige Gedanken scheut und schnell zur Sache kommt. »Ist halt so«, »Ist doch klar«, »Ist doch logisch« sind die Mantren dieser Kulturtechnik. 

Das kann praktisch und angemessen sein, wo schnelle Entscheidungen notwendig sind. Es kann aber ein riskanter Blindflug sein, wo Entscheidungen zur Lösung relevanter Probleme beitragen sollen, wo Entscheidungen auf Analysen, Argumenten und Zielsetzungen beruhen. 

Durch den Verzicht auf Argumente und logische oder historische Bezüge berauben uns Behauptungen der Möglichkeit, zu verstehen. Das ist nicht ihr Anliegen. Ihre Anliegen sind Beachtung, Beifall und Tempo. Die Techniken des Behauptens stehen allen offen. Damit finden alle den Weg ins Rampenlicht. Je mehr Menschen sich aber der Techniken des Behauptens bedienen, desto weiter sinken die Chancen auf Verstehen und Verständigung. Behauptungen schaffen isolierte Inseln, die ihre Umgebung nicht beachten. Ihre vorrangige Aufgabe ist es, auf die eigene Story einzuzahlen, die eigene Positionierung zu stärken. 

ErklärerInnen, PolitikerInnen, MoralistInnen, auch WissenschaftlerInnen – viele beklagen häufig Spaltung. Verschiedene Menschen fänden keinen Draht mehr zueinander. Logik, Fakten, Moral – das seien keine relevanten Kriterien mehr. Wir müssten einen Weg zurück finden. Uns besinnen. 

Wege zurück haben allerdings noch selten dorthin geführt, wo Menschen, die mit dem Schritt zurück nach vorne wollten, ihr Ziel gesehen haben. 

Funktionierende Kulturtechniken dagegen erfüllen ihren Zweck. Sie sind in der Regel Reaktionen auf Anforderungen oder Ansichten ihrer Zeit, wie es Agnes Heller nannte. Sie lösen Probleme, setzen sich durch und gestalten. Sie wissen, was sie in der Rumpelkammer lassen und was sie von dort bei Bedarf hervorholen. In der Rumpelkammer sind missglückte Argumente, störende Einwände, widersprüchliche Tatsachen – all das, was beim Formulieren einer entschlossenen Behauptung stört. Bis es bei Bedarf wieder hervorgeholt wird, weil es irgendeine Behauptung unterstützen kann, weil es einen unliebsamen Einwand entkräftet oder ihn zumindest auf eine lange Reise voll schwieriger Argumente schickt.

Wer das Arsenal seiner Rumpelkammer beherrscht, Beiseitegelegtes hervorholt, anderes aus dem Weg räumt, Störendes schnell wegwirft, kann schneller neue Visionen, Prophezeiungen und Utopien formulieren, als andere durch Instagram scrollen können.    

Das ist auch eine Fähigkeit, vor allem in Zeiten, in denen sich alles so schnell zu ändern scheint. 

Die Kulturtechnik des Behauptens erlaubt es, einander zu bewundern, zu verachten, zu übertönen, zu ignorieren, auszulachen, zu beschuldigen, bloßzustellen, auf die Schulter zu klopfen. Was sie nicht erlaubt, ist ein Problem zu erfassen, andere Sichtweisen gelten zu lassen, andere Positionen zu verstehen – das gehört nicht zu ihrem Repertoire. 

Das überspringt die Kulturtechnik des Behauptens, so wie Visionen und Prophezeiungen ihre Gründe und Erklärungen überspringen. Beide gehen gleich zur Gewissheit über. Das ist ein Problem – vor allem wenn alle einander immer wieder versichern, wie zunehmend ungewiss und unsicher alles wird …