Eine kurze Kulturgeschichte der Meinung

Die Meinung hat einen schlechten Ruf. Meinung, das ist etwas für Schwurbler, Coronaleugner und Nazis. Wer etwas auf sich hält und der Realität ins Auge blickt, der hat Fakten, oder noch besser: Daten. Aber wie unterscheidet sich die Meinung, der richtigen Realität anhand der realen Fakten ins Auge zu sehen, von der falschen und als beliebig kritisierten Meinung? Wie kommen wir zur Meinung, keine Meinung sondern die Wahrheit zu haben?

Der Schriftsteller Robert Menasse hat sich unlängst in Rage geschrieben, als eine Politikerin anregte, über die Marktdominanz des ORF im Digitalen nachzudenken. Der Inhalt seines Wutposts ist wenig relevant, bemerkenswert ist ein kontextlos eingestreutes Hegel-Zitat über Meinungen: “Eine Meinung ist mein, und kann ich genauso gut für mich behalten. (sic)”. Im übrigen ist das eher ein Menasse- als ein Hegel-Zitat; bei Hegel überliefert ist: “Eine Meinung ist mein, sie [ist] nicht ein in sich allgemeiner, and und für sich seiender Gedanke.” (aus der Einleitung zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie). Bevor ich zum eigentlichen Thema kommen kann, ist auch das noch interpretationsbedürftig. Möchte der Herr andeuten, dass es im Journalismus keine Meinungen geben darf? Wovon unterscheidet sich die Meinung, dass etwas wahr ist, von der Tatsache, dass etwas wahr ist? Oder von der Meinung, dass es eine Tatsache ist, dass etwas wahr ist? Sollen PolitikerInnen keine Meinung äußern dürfen? Sollen PolitikerInnen und Medienmenschen nicht nur keine Meinung zu Fakten haben, sondern diese Meinung auch als Fakten verkaufen müssen?

Mit Weltgeist und dem Absoluten gegen die Meinung

Wie dem auch sei, ausgerechnet Hegel als Säulenheiligen für Meinungsfragen anzurufen, ist ein gewagtes Unterfangen. Hegel ist Idealist und Absolutist. Als großer Systematiker ist er auf Zusammenhänge aus, für alles gibt es  übergeordnete Ziele. Der Weltgeist wirkt und setzt sich durch und treibt die Entwicklung voran. Was nicht zum System des Weltgeists passt, löst einen Widerspruch aus, der in einer dialektischen Bewegung bearbeitet wird. Entscheidend für den Widerspruch ist dabei das Verhältnis des Widersprüchlichen zum System. Etwas, das dem System widerspricht, kann nicht sein, weil es eben nicht zum System passt – und das System hat immer recht.

Das ist eine reichlich autoritäre Perspektive. Aus dieser ist es natürlich ein leichtes, Meinungen zu verachten. Das System gibt vor, was richtig und falsch ist, das System hat keine Meinungen. Meinungen, die dem System widersprechen (und alle Meinungen widersprechen dem System, denn was zum System passt, ist keine Meinung, sondern Notwendigkeit) sind demnach irrelevant: Sie können nicht gültig sein, weil das System es nicht erlaubt. Insofern kann man Hegel auch die Meinung zuschreiben, man könne Meinungen getrost für sich behalten.

Hegel hatte es  nicht leicht, seine Meinung durchzusetzen, und soll sich, neueren Biographien zufolge, mit Wein getröstet haben. Heute reiten wir mit dieser Ansicht in den Kampf in Telegram-Channels oder WhatsApp-Gruppen, in denen mit ähnlicher Überzeugung vor Reptiloiden, Transatlantikern und Bilderbergern gewarnt wird.

War Hegel also ein Schwurbler? Sind Weltgeist, Idealismus und Dialektik auch nur Meinungen, die man für sich behalten oder gegen Reptiloiden-Sagas austauschen kann?

Hegel wird heute häufig durch die Brille von Marx gelesen. Dazu muss man kein politischer Marxist sein, Marx war einfach der pragmatischere Denker, der greifbarere Anhaltspunkte lieferte. Was bei Hegel vielfältig und zugleich nirgendwo anwendbare sphärische Herr-Knecht-Verhältnisse waren, wurde bei Marx zu praktischen ökonomischen Machtverhältnissen zwischen Kapitalist und Arbeiter. Plötzlich wurde die Sache vorstellbar.

Marx legte Fakten auf den Tisch (nämlich die Produktionsverhältnisse) zu denen man eine (Achtung!) Meinung haben konnte. Jetzt war auch Marx eher dogmatisch veranlagt und hätte es nicht gern gesehen, wenn sein Konzept als Meinung abgetan würde, aber das ist politischen Aktivisten ja auch nicht zu verdenken. Meinungen sind schließlich klarer, deutlicher und prägnanter als Fakten, die oftmals unordentlich sind.

Meinungen sind deutlicher als Fakten

Diese Eigenschaft ist es, die dem Konzept Meinung heute häufig zum Verhängnis wird. Meinung ist ein Synonym für Lüge und Betrug geworden, etwas, das man sich zurechtlegt, um sich über die Realität hinwegzusetzen, etwas Irrelevantes, dem mit Fakten begegnet werden soll, etwas Verwerfliches, das sich nicht mit Wissenschaft verträgt.

Das stürzt uns in ein erkenntnis- und wahrheitstheoretisches Dilemma, denn wodurch unterscheiden sich die Meinung oder der Gedanke, dass etwas eine Tatsache ist, von der Tatsache, dass etwas eine Tatsache ist? Diese Diskussion ist seit Frege noch offen.

Meinungen sagen etwas, Fakten nicht immer

Meinungen haben aber, abgesehen von diesem Dilemma, einen großen Vorteil: Sie können diskutiert werden. Meinungen binden die Meinenden mit ein und bringen einen Bezugsrahmen mit, der es erlaubt, Perspektiven und Tatsachen zu diskutieren – ohne einen Absolutheitsanspruch stellen zu müssen, der nicht nur Einwände unmöglich, sondern auch jeder Erklärung, jede Chance, zu verstehen, illusorisch macht.

Auf dieser Erkenntnis, das wird manche überraschen, beruhen die Anfänge der modernen Wissenschaft.

Wir sind jetzt im England des 17. Jahrhunderts. In den Bürgerkriegsnachwehen wird Thomas Hobbes‘ Leviathan populär, die Royal Society nimmt erste Formen an. Hobbes war nicht nur politischer Autor, sondern vorrangig Mathematiker, Logiker und überzeugter Rationalist. Logik und göttliche Vorsehung gaben Gesetzmäßigkeiten vor, aus denen ließen sich Regeln ableiten, diese bestimmten die Fakten. Meinungen waren dabei ebenso überflüssig wie konkrete Beispiele; es zählte nur die Überzeugung. Eine dieser logisch aus Gesetzmäßigkeiten abgeleiteten Überzeugungen war es, dass es keine Leere geben könne. Die Natur fürchtet das Leere, deshalb entsteht etwas – und dort, wo nicht einmal mehr Luft ist, ist Äther.

Auf der anderen Seite experimentierte Robert Boyle vor den kritischen Augen der Mitglieder der Royal Society mit dem Vakuum. Es gelang ihm, in einem geschlossenen Gefäß einen Luftleeren Raum zu schaffen – Kleintiere erstickten (ok, Äther kann man nicht atmen), Federn lagen still (sie hätten sich im Zug des einziehende Äthers bewegen müssen), Quecksilbersäulen nahmen den Raum ein, der von Äther hätte ausgefüllt sein müssen (wie verschwand der Äther vor dem Quecksilber?), und wie und woher hätte Äther in den leeren Raum gelangen sollen, wenn er nicht vorher dort war, wo eigentlich Luft war …? Das sorgte für Diskussionsstoff. Zur Diskussion standen die Meinungen der Gentlemen der Royal Society, deren Anwesenheit und Zeugenschaft Experimente erst gültig machte.

Dem ging ein mehrstufiger Prozess voran, den jedes Experiment zu durchlaufen hatte. Die erste Phase entspricht dem, was wir heute Forschung nennen würden. Neue Abläufe und Anordnungen sollten gesuchte Ergebnisse bringen. Die zweite Phase bestand in der Konsolidierung. Das Experiment wurde wiederholt und abgesichert, um reproduzierbare Ergebnisse zu erreichen. Erst in der dritten Phase gelangte das Experiment an die Öffentlichkeit: Es wurde den Mitgliedern der Royal Society vorgeführt. Diese befanden darüber, ob hier etwas neues zu sehen war, was hier zu sehen war und wie die Ergebnisse einzuschätzen waren.

Experimente beschäftigten sich also durchaus mit Fakten – entscheidend war aber deren Interpretation. Interpretationen stützten sich auf die Meinungen von Royal Society-Mitgliedern. Diese sollten gebildete, wohlerzogene, vor allem aber ökonomisch unabhängige Gentlemen sein – um sicherzustellen, dass sie keinen politischen oder finanziellen Interessen Raum gaben. Das kann als reichlich elitäres System betrachtet werden, Historiker und Soziologen sehen darin aber auch das Bestreben, nach dem Bürgerkrieg nicht gleich wieder Krieg führen zu müssen. Apodiktische Beweisführungen, die keinen Zweifel zuließen, richtig und falsch eng mit gut und böse verknüpften und Irrtum mit Charakter- oder Persönlichkeitsmängeln gleichsetzten, rückten in den Hintergrund. Man konnte streiten, ohne Feindschaften auf Leben und Tod zu begründen, ohne einander jeglichen Sinn für Realität und Ordnung absprechen zu müssen.

Dementsprechend vorsichtig sind viele von Boyles Erkenntnissen formuliert, und viele aus diesen Konstellationen entstandene Regeln wirken auch heute noch in den Standards für wissenschaftliches Arbeiten nach: Wir geben Rahmenbedingungen an, unter denen Beobachtungen gemacht wurden. Wir weisen Schlüsse als solche aus – und behaupten sie nicht als Gegebenheiten. Wir unterscheiden zwischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Wir trennen Kausalität von Korrelation. Wir sind unterschiedlichen Interpretationen gegenüber offen. Wir legen an unsere eigenen Positionen die gleichen Maßstäbe an wie an uns widersprechende Positionen. Und neuerdings müssen wir immer häufiger die Frage stellen, ob Daten ihrem Namen gerecht werden, also tatsächlich schlicht Gegebenes sind, oder ob sie nicht vielmehr ebenfalls gemacht oder sonst wie durch die Relation mit ihrer Umgebung verändert wurden.

Der Zugang von Boyle und der Royal Society hat sich durchgesetzt. Ist Wissenschaft also nichts als kenntlich gemachte Meinung? – Jedenfalls eher, als das Bewusstsein, umittelbar und unabdingbar recht zu haben. Wichtiger ist allerdings das Bewusstsein, stets vor einem ganzen System von Regeln zu argumentieren, Beweise in einem dichten Netz von Abhängigkeiten zu entfalten, und sich vorsichtig entlang von reproduzierbaren Fakten weiterzuarbeiten.

Man kann durchaus irgendwann aufhören, Wissen als bloße Interpretation und Meinung zu behandeln und davon ausgehen, dass der Inhalt der Meinung einer Tatsache entspricht. Wir wissen allerdings (und das ist eine recht gut abgesicherte Tatsache), dass sich dieser Punkt im Lauf der Geschichte häufig verschiebt. Bei wissenschaftlichen Tatsachen vollziehen sich diese Verschiebungen oft längerfristig, bei Tatsachen die Gegenstand journalistischer Berichterstattung sind, kann das auch in kürzeren Zeithorizonten passieren. Meinungen werden wir jedenfalls nie ganz los; beim Übergang von der Meinung zur Tatsache (und zurück) kommt man allerdings leicht vom Weg ab. Wie beim Spazierengehen kommt man allerdings noch leichter vom Weg ab, wenn man nicht auf seine Umgebung achtet oder überhaupt der Meinung (!) ist, es sei unmöglich, sich zu verirren.

Deshalb ist es auch ein wenig lächerlich, mit Hegel gegen Meinungen argumentieren zu wollen.