Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität

Es ist ärgerlich, wenn Cancel Culture, PoMo-Politik oder eben Identitätsrants mit Foucault beginnen.  Foucault war vermutlich kein angenehmer Mensch, eher problemverliebt als lösungsorientiert und durchaus auf die passende Pose bedacht, es wäre aber grobes Unrecht, ihm irgendeine Art des Hangs zum Universellen unterstellen zu wollen. Es ist der Kern von Foucaults Arbeit, sich gegen Essenz, Substanz, Wesen und andere Vorstellungen einer letzten, „hinter den Dingen“ liegenden Objektivität oder Wahrheit auszusprechen. Dabei ist Foucault nicht einmal Relativist. Er beschränkt sich auf die Analyse dessen, was wir für unser Verständnis heranziehen können und unterscheidet es von dem, über das zu spekulieren sinnlos wäre.

Gegen Ende seines Buches räumt Mounk das auch ein. Dennoch ist es ein wenig ärgerlich, in den ersten Kapiteln zu suggerieren, es ließe sich eine direkte Linie von Foucault, Lyotard oder Derrida zu den Auswüchsen aktueller Identitäts-Absolutismen ziehen. Beispiele für solche Absolutismen finden sich in akutellen Rasse-, Postkolonialismus- oder Transgender-Theorien.

Auch frühe postkoloniale AutorInnen werden von Mounk nicht ganz fair in die Ahnenreihe von PoMo-Identitären IdeologInnen gestellt. Edward Said verwehrte sich ganz entschieden gegen jedweden Essenzialismus, der obskure Faszination für das Orientalische schaffte und Menschen aus dem Orient von Personen zu Ausstellungsstücken in europäischen Salons verwandelte.

Gayatri Spivak bezeichnete ihren Essenzialismus ganz ausdrücklich als strategischen Essenzialismus und distanzierte sich später noch davon. 

Dekonstruktion und philosophische Postmoderne sind keine gute Basis für konstruktive Kritik, sondern eben das Ende eine an sich nicht besonders konstruktiven Diskussion. Das macht Dekonstruktion als Methode nicht falsch, aber auch nicht unbedingt nützlich. Dekonstruktion kehrt Grundlagen und Funktionsweisen, die gern übergangen werden, nach außen, zerlegt sie, nimmt Begriffe und Ideologien auseinander. Dabei geht Dekonstruktion nicht vor wie jemand, der das alte Radio noch mal zusammenbauen möchte, auch wenn er es nicht reparieren kann, sondern eher wie jemand, der sich von dem Gerät schon verabschiedet hat, aber dennoch wissen möchte, wie es innen aussieht, bevor es auf dem Recyclinghof landet.

Dekonstruktion liefert keine Handlungsanleitungen. Aber Dekonstruktion vermittelt Wissen und schafft die Grundlage, sich frei für andere Wege zu entscheiden. Dekonstruktion schafft die Freiheit, alle möglichen Entscheidungen zu treffen. Aber sie liefert keine Mittel und Argumente, eine Entscheidung zu rechtfertigen oder über andere zu stellen. Das ist eines der großen Missverständnisse, wenn frühe Postmoderne herangezogen wird, um aktuelle Essenzialismus- und Absolutismus-Auswüchse zu kritisieren. 

Ähnlich verhält es sich mit Standpunkttheorie und anderen um Differenzierung bemühten Methoden. Man sieht die Welt anders, wenn man sie von einem anderen Standpunkt aus betrachtet.  Dass man Menschen nicht verstehen kann, die mit einem anderen Standpunkt aufgewachsen sind, ist Unsinn – wozu auch sollte man ihnen denn dann zuhören? Eine solche Interpretation der Standpunkttheorie ist absurd.

Beide, Standpunkttheorie und Dekonstruktion und viele andere kritisierte Theorien sind Diagnosewerkzeuge, keine Handlungsanleitungen, keine moralischen Prinzipien und politischen Paradigmen.

Mounk arbeitet sich trotzdem daran ab. Das ist die Schwäche dieses Buchs. 

Die Stärke ist der Schnelldurchlauf durch allerhand zeitgenössische Rasse-, Klasse-, Gender- und Kolonialismuskonzepte, die allesamt ähnliche Karrieren von guten Diagnosen zu schlechten Handlungsanleitungen durchlaufen haben.

Tragisch ist vor allem die Karriere des Free Speech-Begriffs. Rede- und Meinungsfreiheit, eines der zentralen Anliegen frühbürgerlicher Revolutionen, dann Prunkstück jeder Demokratie, später Toleranzgrenzen herausforderndes Sorgenkind und von Rechten missbrauchte Tarnung für verlogene Ideologiepropaganda, ist heute ein Feindbild, dem unterstellt wird, in Diensten Konservativer zu stehen. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man sich vor Augen hält, wer am lautesten „Das wird man doch noch sagen dürfen!“ ruft. Dennoch ist es eine der erschreckendsten Entwicklungen unserer Zeit, wie schnell sich jüngere Menschen mit Kontrolle, Überwachung und Verboten (für andere) anfreunden.

Progressiver Separationismus als als Förderung verstandene neue Rassentrennung, Trans vs. Feminismus-Kämpfe und neuer Klassenkampf sind weitere Beispiele dafür, wie aus guten Diagnosen schlechte Handlungsempfehlungen wurden. Allesamt können sie sich auf ein neues Feindbild einigen: Feind der neuen Rasse-, Klasse- und Gender-Essenzialisten ist der Liberalismus.

Liberalismus, der eigentlich nur alle sein lassen wollte, wie sie sind, ist zu wenig supportive. Liberalismus kritisiert die Vorstellung, dass etwas so sein sollte und nicht anders sein darf. Das verträgt sich schlecht mit der Idee, dass Identitäten sich zwar aus verschiedensten Elementen zusammensetzen, aber dennoch unhintergehbar prägende Merkmale unserer Menschlichkeit sind, denen wir ausgeliefert sind. Man müsse Identität an erste Stelle stellen, um gute Entscheidungen treffen zu können, und die Betonung bislang unterdrückter Identitäten aus Kosten der ehemaligen Unterdrücker sei wichtiger als altmodische Unterstellungen von Freiheit.

Mounk setzt nach seiner Ausarbeitung dieser Auswüchse zu einem Plädoyer für den Liberalismus an – aber er bringt nur schwache Argumente, die Wasser auf die Mühlen linksidentitärer Essenzialisten sind. Es ist ja eben die Tragik des Liberalismus, dass Argumente, die sich an jene richten sollten, die Liberalismus ablehnen, genau diese überhaupt nicht interessieren – oder eben ihre härtesten Kritikpunkte sind.

Liebralismus ist aus Prinzip ein schwaches Argument. 

Was sich gegenüber grassierendem Identitätsessenzialismus durchsetzen müsste, ist die Einsicht, dass ähnlich wie im Fall von Dekonstruktion und Postmoderne, die Diagnose vielleicht stimmt. Aber die Werkzeuge, die zur Diagnose geführt haben, liefern denkbar schlechte Handlungsanleitungen. 

Niall Ferguson: The Great Degeneration

Mit dem Westen geht‘s bergab – an der Diagnose hat sich wenig verändert, trotzdem meinte Ferguson beim Erscheinen von „The Great Degeneration“ 2012 etwas anderes damit, als man heute darunter verstehen würde. 2012 war Migration noch kein dermaßen dominantes Thema, China schien in einer unaufhaltsamen Aufwärtsbewegung, die Krim gehörte unbestritten zur Ukraine und die USA hatten noch nicht einmal die erste Trump-Präsidentschaft hinter sich. Wie schnell solche Bücher jetzt veralten.

Fergusons Degenerationsdiagnose ist handfest: Der Westen hatte einen Vorsprung, inklusive Institutionen (hier stimmt Ferguson Acemoglu und Robinson zu) haben dazu beigetragen, diesen Vorsprung zu ermöglichen, in entscheidenden Bereichen wie Wohlstand und Bildung aber stagniert der Westen, während andere Teile der Welt deutlich aufholen.

Institutionen haben Sicherheit geschaffen, die dadurch entstandene Stabilität hat Wachstum ermöglicht. Wesentlicher Zusammenhang für diese Entwicklung ist die Möglichkeit, Schulden zu machen: England als einer der am frühesten für breitere Bevölkerungsschichten stabile Staaten war ein vertrauenswürdiger Schuldner – mehr Menschen besaßen Land, konnten wirtschaften und Steuern zahlen. Das ermöglichte es dem Staat, Schulden aufzunehmen das ergab eine gut gefüllte Kriegskasse, mit der sich See- und Kolonialkriege führen ließen. 

Stagnierende Wirtschaft gefährdet dieses Zusammenspiel und macht Schulden zu einem Problem. Von langsamer Wirtschaft und hohen Schulden betroffene Staaten müssten sich zwischen Reformen und dem Schicksal Griechenlands (also späteren, aber umso einschneidenderen Reformen) entscheiden, würden aber eher versuchen, dem Risiko hoher Schulden mit möglichst niedrigen Zinsen zu begegnen. Das ist schlecht für das Wirtschaftswachstum und das Inflationsrisiko. Heute, gut zehn Jahre später, wissen wir das – auch wenn es mit einer Pandemie und einem Krieg noch weiterer Anstöße bedurft hat, das Inflationsrisiko schlagend lassen zu werden.

Drohende Risiken ziehen Regulierungen nach sich, in den Nachwehen der Finanzkrise (die 2012 noch präsenter waren) waren insbesondere Banken steigender Regulierung ausgesetzt. Ferguson schätzt stabile Institutionen, kritisiert aber Regulierung. Stattdessen appelliert er an Verantwortung. Deregulierung sei weniger ein Problem als das Gefühl von Straflosigkeit, das sich ausbreite, wenn Bankbosse auch in Krisen noch Boni kassierten.

Das ist eine etwas moralisierende Vorstellung. Welche Anreize (abgesehen davon, Strafen zu entgehen) zu mehr Verantwortung führen sollten, lässt Ferguson offen. Ebenso unklar bleibt, auf welcher (Management)Ebene Verantwortung eingefordert und Konsequenzen durchgesetzt oder Initiative honoriert werden sollten. Aktuelle Organisationen dienen eher dazu, Verantwortung zu verdünnen.

Ferguson beschreibt ähnliches anhand eines kurz gestreiften Vergleichs zwischen englischer und französischer Rechtsgeschichte. Frankreich habe nach der Revolution aus Misstrauen gegenüber Autoritäten sehr detaillierte Gesetze erlassen, die Richtern Spielraum nehmen und sie zu Automaten machen sollten. England dagegen habe auf das Prinzip „mind your own bloody business“ gesetzt und nur das notwendigste geregelt.

Das ist nachvollziehbar, Fergusons andere Belege für positive Entwicklung durch weniger Regulierung ist allerdings durchaus fragwürdig. Er zieht etwa den Doing Business Index heran. Im Spitzenfeld dort liegen Ruanda und Belarus, beides keine Leuchttürme bürgerlicher Freiheiten. Auch Georgien oder Mazedonien, beide in den Top Ten weltweit, sind keine Paradebeispiele guter Governance. Die Liste löst eher Kopfschütteln aus – und das liegt nicht am Alter dieses Buchs.

Regulierung und Stagnation sind für Ferguson in einer ungesunden Wechselbeziehung, ein weiterer Faktor ist seiner Ansicht nach die Schwächung der Zivilgesellschaft durch den Rückgang bürgerlichen Engagements in Vereinen, Clubs, Parteien oder Charities. Mit Tocqueville macht der den fürsorglichen Staat dafür verantwortlich: Bürger erwarten heute mehr vom Staat, der sich damit in mehr Dinge einmischt, mehr aus weiterer Ferne mit weniger Kompetenz regelt, als zivilgesellschaftliche Initiativen das könnten, und so dafür sorgt, dass Bürger Selbstständigkeit verlernen.

Das mag zum Teil zutreffen. Diese Einschätzung setzt aber ebenfalls eine moralisierende Einstellung voraus, in der Bürger Verantwortung übernehmen wollen und sollen – während offenbleibt, was dann eigentlich die Aufgaben des Staates sind, der finanziell gut ausgestattet ist und von seinen Bürgern dafür bezahlt wird, Dinge zu regeln. Und zwar auch für die, die nicht mitzahlen können. Zivilgesellschaftliches Engagement wird schnell zum Almosen und schafft Unsicherheit für jene, die darauf angewiesen sind. Unsicherheit kann auch ein Ansporn sein, sich daraus zu befreien und sein eigenes bloody business zu regeln. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat anderes gezeigt, und hier müssten sehr viele Stellschrauben gut aufeinander abgestimmt sein, um einen Ausweg zu ermöglichen.

Technik sieht Ferguson auch nicht als Lösung. Seine Perspektive auf Technik wirkt wie aus dem Industriezeitalter, er bezweifelt das ökonomische Potenzial (vor allem digitaler) Technologie. Das ist insofern ein Irrtum, als der ökonomische Aufstieg von Digitaltechnologie bislang rasant war und digitale Technologie es überdies geschafft hat, Grundsätze des Industriekapitalismus und des frühen Digitalkapitalismus hinter sich zu lassen: Produkte müssen lange keinen Nutzen mehr stiften, um rasantes Wachstum zu bringen. Sie müssen sich nur gut dazu eignen, in Lock-in-Geschäftsmodelle verpackt zu werden, aus denen User nicht mehr auskommen. Ferguson vermisst Nutzen in der Silicon Valley Euphorie der frühen 10er Jahre – das mag stimmen, tat aber dem Wachstum keinen Abbruch. Und gänzlich etwas verstörend ist Fergusons Referenz für Kritik an Tech-Ideologie: Er sieht ausgerechnet in Peter Thiel einen nüchternen Kritiker des Wachstums-Innovations-Disruptionskultes. Das ist wohl eine dramatische Fehleinschätzung. 

Dem Westen geht es nicht gut, das ist klar. Fergusons Perspektiven sind aber eher nicht Teil der Lösung. 

Douglas Rushkoff: Survival of the Richest

Tech-Milliardäre und andere Gallionsfiguren angkündigter digitaler Revolutionen sehnen sich in den Mutterleib zurück und bauen sich mit digitalen Räumen Simulationen dieser geschütztesten aller Umgebungen, in der ihnen nichts Böses widerfahren kann. Das ist eine der Thesen des bekennenden Marxisten Rushkoff in seiner Kritik digitaler Machbarkeitsphantasien. Ausgangspunkt seines Buchs ist eine Unterhaltung mit Milliardären, die Beratung beim Bau geschützter Umgebungen zum Überleben des “Ereignisses” suchten.

Das “Ereignis” kann eine fatale Pandemie, ein Nuklearkrieg oder sozialer Flächenbrand sein. Rushkoffs Kritik an der Frage: Selbsternannte Macher beschäftigen sich nicht mehr mit der Suche nach Lösungen (von Problemen, die oft ihre Innovationen geschaffen haben), sondern damit, wie sie drohenden Konsequenzen ausweichen können. Rushkoff nennt das das “Mindset”: Das Mindset beschreibt die Einstellung, Innovation und Disruption am Fließband produzieren und in Geschäftsgelegenheiten verwandeln zu wollen, technische Lösungen für alles zu suchen und Lösungen vor allem in der Erstellung neuer Produkte zu sehen. Das Mindset optimiert – dafür strukturiert es alles nach seinen Bedürfnissen und ignoriert, was nicht angepasst werden kann.

Der moderne Businesscase, beobachtet Rushkoff treffend, funktioniert wie eine streng nach dem Heldenreise-Schema gestrickte Erzählung mit Klimax und Katharsis. Übersteigerte und als essenziell dargestellte Probleme, die bislang niemandes Problem waren, werden zur Schicksalsfrage der Menschheit und schließlich einer überzeugenden Lösung zugeführt. TED Talks sind eine weitere Ausprägung dieser formalistischen Inszenierungen, in denen Inhalte recht beliebig ausgetauscht werden können. Religion und Leitprinzip dieser Inszenierungen ist vereinfachter Behaviorismus, der Menschen zu Reaktionsautomaten reduziert, die von der erweckten Businessperson gesteuert werden können.

Peter Thiels Ausführungen sind hier die prägendsten; wer Thiel nicht im Original lesen möchte, findet einen guten Überblick bei Adrian Daub.

Der technikorientierte und oberflächlich extrem rationale Schematismus zielt darauf ab, Abläufe als notwendig, effizient, sinnvoll und einem höheren Ziel folgend darzustellen. Die eigentliche Leistung dieses Konstrukts ist es aber, die real im Hintergrund stattfindende Arbeit unsichtbar zu machen. Rushkoff vergleicht das mit der Erfindung des Speiseaufzugs im Haus von Thomas Jefferson: Die Entlastung des Hauspersonals war der kleinste Schritt, die hatten schon viel geschleppt, bevor sie den Speiseaufzug befüllten. Der nahm ihnen nur das letzte Stockwerk ab und reduzierte den Personalbedarf im Speisezimmer bei den leichten Arbeiten.

Der vermeintliche hyperrationale Homo Oeconomicus ist schon länger als Chimäre in Verruf. Rein vernunftorientierte Ansätze, die die Hartnäckigkeit realweltlicher Probleme ignorieren, bieten eindimensionale Lösungen, die tatsächlich erst zu Lösungen erklärt werden müssen. Sonst käme niemand auf die Idee, sie als Lösungen zu betrachten. Die Eindimensionalität dieser Ideen findet sich auch in der Kritik der modernen Wissenschaftstheorie; am wenigsten unter Schwurbelverdacht (für Postmoderne-Phobiker) ist hier wohl David Bloor.

Der moderne Elite-Kapitalist ist ja durchaus für Alternativen offen und experimentiert mit Ayahuasca oder anderen Kaktus- und Krötengiften, um seinen Horizont zu erweitern. Rushkoff beschreibt einige nach Ayahuasca-Experiences entstandene Businesspläne und wundert sich zurecht, wie leer die innere Welt der Erleuchteten vorher gewesen sein muss, wenn sie diese Ideen nur unter psychedelischen Einflüssen entwickeln konnten.

Für die Innovativen, Techsmarten und Erfolgreichen sind diese Einwände kein Hindernis. Das zeigt alljährlich die erstaunliche Selbstzufriedenheit in Davos oder Alpbach: Die gleichen Menschen besprechen jedes Jahr die gleichen Themen, finden die gleichen Ideen gut, feiern produktive und inspirierende Gespräche – und treffen einander doch im nächsten Jahr bei großteils dem gleichen Stand der Dinge wieder, um einmal mehr das gleiche zu besprechen und die gleichen Ideen (die schon die letzten Jahre im Sand verlaufen sind) zu feiern.

Was als Philanthrokapitalismus begann (reiche Menschen wie Bill Gates setzen ihr Vermögen für ein paar gute Zwecke ein und versuchen, zumindest selbsterhaltende Geschäftsmodelle zu etablieren) ist zur Legitimation extraktiver Institutionen geworden: Eine dünne Tech- und Businesselite gibt “Lösungen” vor, die vermeintlich die Probleme der Welt lösen. Tatsächlich muss sich die Welt an diese Lösungen anpassen, damit überhaupt die zu lösenden Probleme existieren. Dann funktioniert auch das Geschäftsmodell der Tech-Elite. Extraktive Institutionen sind, wie Acemoglu und Robinson ausführen, ein wesentlicher Grund, warum Nationen und Organisationen scheitern.

Werden also technische Eliten Probleme lösen? Nein, sagt Rushkoff, sie haben sie eher verursacht und tragen durch ihre Lösungsansätze dazu bei, dass sie bestehen bleiben. Vielleicht wird ja auch KI, sofern sie eines Tages eigene Gedanken fasst, das Mindset ihrer Erfinder übernehmen und versuchen, sie wie das Bedienpersonal eines Speiseaufzugs unsichtbar zu machen.

Brendan Ballou: Plunder

Investmentbanken, früher der Gottseibeiuns des Heuschreckenkapitalismus, unterliegen seit der Finanzkrise von 2008 einigermaßen strengen Regeln. Damit sind die fragwürdigen Geschäfte, die Subprime Crash und Finanzkrise herbeigeführt haben, nicht verschwunden. Die Geschäfte macht jetzt nur jemnand anderer. Privates Kapital füllt die Lücke, die der Rückzug der Banken eröffnet hat. Private Equity, also Kapital, das abseits öffentlicher Börsen Unternehmensbeteiligungen sammelt, unterliegt wenigen Regeln, lebt vom Ausnutzen von Gesetzes- und Steuerschlupflöchern und vom Tempo. Unternehmen, an denen Private Equity-Konzerne Beteiligungen erworben haben, werden restrukturiert, oft in Franchisesysteme verwandelt, in Sell&Lease Back-Modelle gedrängt oder dazu gezwungen, Dienstleistungen oder Lieferungen von anderen zum gleichen Private Equity-Konzern gehörenden Unternehmen zu beziehen. Das verwandelt florierende Unternehmen schnell in Pleitekandidaten, das senkt die Servicequalität für Kunden und das begünstigt die Entstehung von Geschäftsmodellen, die auf leicht ausbeut- und erpressbare Kunden angewiesen sind. Nicht umsonst floriert das Private Equity Business stark in Pflegeeinrichtungen, in denen Personal reduziert wird, oder in Gefängnissen, in denen die Qualität der Ernährung herabgesetzt wird oder Insassen gezwungen werden, für simple Dienstleistungen wie Telefonanrufe horrende Preise zu bezahlen.

Brendan Ballou war auf Private Equity und Kartellrecht spezialisierter Staatsanwalt in den USA und auch in die Ermittlungen gegen die Kapitol-Stürmer involviert. Das ist leider auch schon das Spannendste an diesem Buch. „Plunder“ ist eine etwas uninspiriert dahinerzählte Sammlung von Aufregern, deren Menge eher abstumpft als sensibilisiert.

Aufregend sind die auf dem Spiel stehenden Beträge, die schnell in Milliardenhöhen schnellen und von Europa aus absurd fantastisch wirken. Das Buch schließt mit einer 30seitigen Aufzählung von Gesetzes- oder Steuerlücken, die geschlossen werden müssten, um Private Equity in geregelte Bahnen zu lenken. Im Kontext von zahlreichen anderen Regulierungsdebatten ist das eine richtungsweisende Sammlung, aber sie verliert sich ein wenig in der Vielfalt der behandelten Themen. Private Equity-Geschäftsmodelle sind ein Aspekt mehr, der für den Nutzen Weniger Nachteile für Viele bringt und nicht einmal ansatzweise Mehrwert stiftet. Das ist ein Muster, das heute oft zu beobachten ist und das teilweise astronomische Verschiebungen bewirkt. Ballous Erzählung bleibt aber blass, arbeitet keine Trends und Muster heraus – und stammt außerdem aus der Ära vor Trumps zweiter Präsidentschaft, die noch einmal alles über den Haufen wirft und nachteilige Entwicklungen beschleunigt. Sozial- und politkritische Bücher aus den USA altern zur Zeit besonders schnell.

Anu Bradford: Digital Empires

Das Internet ist nicht mehr global. Diverse Internetvarianten stehen einander gegenüber, bekämpfen einander teilweise, suchen mit verschiedenen Mitteln Vorherrschaft und Marktmacht und konkurrieren um Einfluss in noch unentschiedenen Märkten. Anu Bradford beschreibt, wie unterschiedliche Formen von Digitalpolitik in den USA, in China und in der EU unterschiedliche Prioritäten setzen. Ihre Schlussfolgerung ist geradezu versöhnlich: Europa werde sich durchsetzen, denn auch in den USA mache sich zunehmend Kritik am rein marktorientierten Governancemodell breit, die überbordende Macht der Techkonzerne werde kritisch betrachtet und es gebe mehr und mehr Bereitschaft, auch von den USA aus Technologie und Digitalmarkt in Regeln zu fassen.

Das Buch erschien 2023, bevor sich abzeichnete, dass eine zweite Trump-Präsidentschaft Realität werden könnte.

Der Sturm auf das Kapitol vom Jänner 2021 ist eines der Beispiele, das auch den USA die politische Macht und Gefahr digitaler Politik vor Augen geführt habe. Der Großteil der von Biden verabschiedeten Digitalregelungen ist schon wieder – im ersten Monat von Trumps Regierungszeit – außer Kraft gesetzt. Die von Bradford nur kurz als absurd gestreifte Option, die USA könnten sich auf die digitale Seite Chinas und damit Russlands stellen, ist dabei, Realität zu werden. 

Die Diagnose dieses Buches steht damit auf wackligen Beinen, die Analyse ist umso relevanter.

Bradford beschreibt das US-Internet-Governance-Modell als marktorientiertes und freiheitsbetontes, das staatliche Einmischung vermeide und Regeln als Innovationshürde betrachte.

Gegenpol dazu ist das chinesische Modell, das Staat und Partei an erster Stelle sieht, Innovation an staatliche Vorgaben und Programme bindet und massiv in Märkte und Geschäftsmodelle eingreift, um mögliche Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Europa verfolgt ein rechtegetriebenes Modell, in dem Daten- und Konsumentenschutz im Vordergrund stehen. Damit kommen weniger eigene Innovationen in den Markt, aber Europa gibt vor, nach welchen Regeln Innovation in den Markt kommt. Denn solange Europa ein interessanter Markt für globale Unternehmen ist, sind diese bereit, Auflagen zu erfüllen.

Bradford nennt diese Dreiteilung die horizontale Seite des Kampfs um digitale Vorherrschaft. Dazu kommt die vertikale Dimension, in der einander Staaten, Unternehmen und Zivilgesellschaft gegenüberstehen.

Das freiheitsorientierte Digitalmodell der USA basiert teilweise auf veralteten Voraussetzungen. Die Section 230-Regel, die Betreiber digitale Dienste weitestgehend von der Verantwortung für Inhalte freispricht, stammt aus den Neunziger Jahren. Damals waren Dienstebetreiber vorrangig Provider, die Server und Leitungen zur Verfügung stellten und tatsächlich nichts mit Inhalten zu tun hatten. Das hat sich deutlich verändert. Eine andere Schwäche des digitalen Freiheitsgedankens: Die USA halten sich selbst nicht daran. Aufgedeckte Überwachungs- und Spionagefälle zeichnen ein anderes Bild als das des vom Staat unberührten Internet. Und um kritische Märkte zu erschließen, werden die Freiheitsprinzipien ebenfalls flexibel gehandhabt. Apple macht 20 Prozent seines globalen Umsatzes in China, hat dazu eine eigene, kontrollierte Appstore-Instanz ins Leben gerufen und lagert die Daten chinesischer Nutzer in einem chinesischen Datawarehouse, dess Betreiber im Zugriff der chinesichen Regierung steht. Microsoft hat noch vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges russische Cyberattacken auf ukrainische Behörden-Netzwerke registriert und Regierungen informiert. Die USA treffen damit auf öfters auf Kritik. Ein Kritikpunkt betrifft Scheinheiligkeit und Glaubwürdigkeit, ein andere die Skepsis von Staat gegenüber digitalen Freiheit.

Beides spielt letztlich dem chinesischen Modell in die Hände. Autokraten aller Größenordnungen in Europa, Afrika und Asien sind gegenüber Möglichkeiten, das Internet strikt zu regulieren, durchaus aufgeschlossen. Wo Staatsinteressen im Vordergrund stehen, sollen Einzelinteressen kontrolliert und zurückgedrängt werden können. China bietet dafür Infrastruktur, Überwachungstechnologie und Governancemodelle, die auch die stärksten Unternehmen klein halten. Die Kommunistische Partei verhängt Milliardenstrafen gegen börsenotierte Konzerne, ordnet Merger oder Aufteilungen an und verbietet chinesischen Konzernen Börsegänge in den USA, wenn dafür Daten offengelegt werden müssten. Alibaba-Gründer Jack Ma ist Parteimitglied. Soziale Harmonie ist die Keule, mit der Abweichungen wieder eingefangen und notfalls eingestampft werden. Der Sturm auf das US Kapitol im Jänner 2021 sei in chinesischen Medien ein Paradebeispiel dafür, was passiere, wenn digitale Medien nicht im Sinne der Gemeinschaft kontrolliert würden. Zensur und Medienkontrolle funktioniert sehr gut – vor allem auch, weil Jahrzehnte von Zensur und kontrollierten Medien dazu geführt haben, dass Menschen den Umgang mit Medien und Information verlernt haben. China gibt strenge Regeln vor, sperrt andere aus dem chinesischen Markt aus, drängt selbst aber sehr aktiv auf andere Märkte.

Bei der Einschätzung der Capitol Riots treffen einander China und Europa, allerdings von verschiedenen Seiten. In Europa stehen Bürgerrechte im Vordergrund, nicht der Staat. Das prägt die Digitalgesetzgebung – und das bringt Europa den Ruf ein, Innovation durch Regeln abzuwürgen. Diesen Einwand betrachtet Bradford allerdings skeptisch. Auch vor der DSGVO, der ersten großen und tiefgreifenden Digitalregelung, sei wenig erfolgreiche Innovation aus Europa gekommen. Relevanter seien Probleme wie Sprachbarrieren, fehlende Regelungen für einen einheitlichen Binnenmarkt und der Umgang mit unternehmerischem oder finanziellem Risiko. Überdies seit die EU-Verwaltung, die nur ein Prozent des EU-BIP ausmache, deutlich kleiner dimensioniert als die US-Verwaltung, die 20 Prozent des US-BIP verschlinge. Europäische Regulierung wird als innovationsbremsend, protektionistisch und revanchistisch gegen erfolgreiche US-Konzerne kritisiert. Allerdings verfolgen europäische Regulierungen auch marktverzerrende Förderungen – und richten sich damit auch gegen staatliche Einflussnahme auf den Digitalmarkt.

Was Europa laut Bradfords Analyse zugutekommen kann, ist ein stärker aufkeimendes Bewusstsein um die Relevanz digitaler Souveränität. Die USA verfolgen dieses Ziel mit Macht- und geldorientiertem Imperialismus, China setzt auf Infrastrukturimperialismus, die EU hält mit Regulierungsimperialismus dagegen. Nur letzterer steht allen Staaten offen. Bradford bezeichnet es als Brussels Effect, wenn sich auch Staaten und Unternehmen, die das gar nicht müssten, an EU-Prinizipien orientieren. Das geschieht einerseits aus politischen Gründen, um demokratische Einflussnahme zu sichern, andererseits aus wirtschaftlichen: Wenn Unternehmen strenge EU-Auflagen erfüllen, um in der EU operieren zu dürfen, wenden sie diese Grundsätze überall an, weil das oft effizienter ist, als unterschiedliche Standards und Regelsysteme zu verwalten. Damit gewinnt insgesamt Europa wieder ein wenig Oberhand – zumindest so lange, wie sich US-Konzerne nicht ausdrücklich gegen die EU stellen.  Letzteres zeichnet sich gerade ab.

China betreibt neben seinem Infrastrukturimperialismus, der als neue Digitale Seidenstraße Technologie, Infrastruktur, chinesische Standards, in Hard- und Software verbaute chinesische Grundsätze und chinesische Überwachungstechnologie exportiert, noch eine zweite Strategie. Es ist großteils Folge chinesischer Initiative, dass Digitalthemen in den letzten Jahren jetzt auch stärker auf UN-Ebene verhandelt und reguliert werden. Das entzieht die Digitalgesetzgebung ein Stück weit dem Einfluss von EU und USA, das erhöht staatlichen Einfluss dort, wo bislang zivilgesellschaftlich verwaltet wurde, und das schafft eine neue Bühne, auf der Staaten auf eine multipolare Welt pochen können, die nicht nur vom Westen geprägt werden soll, auf der man sich Einmischung in innere Angelegenheiten verbitten kann und die Platz für flexible Interpretationen von Menschenrechten bietet. Letzteres ist eine beliebte Diskursstrategie von Autokraten. Russland gefällt das. Und die Entscheidungen zu UN Global Digital Compact und UN Cybercrime Convention dokumentieren das.

Diese schleichend autoritäre Tendenz in UN-Digitalpolitik, das Kippen der USA und der großen US-Techkonzerne, die Annäherungen zwischen den USA und Russland, der Erfolgslauf chinesischer Technologie und die Schwäche Europas gegenüber anderen Weltregionen säen Zweifel an Bradfords Europa-optimistischer Diagnose. Und selbst wenn sich Europa durchsetzt, wenn der Regulierungs- und Bürgerrechtsgedanke siegt: Was kann man sich darum kaufen? In welche reale Macht lässt sich das ummünzen? Wie verleiht das Stärke?

Vielleicht sind das auch genau die falschen Fragen: Weisen solche Fragen darauf hin, dass Fragesteller bereits den Wert von Freiheit und Privatsphäre für alle über Bord geworfen haben und sich stattdessen mit der Vorstellung von Macht für wenige anfreunden. 

Anne Applebaum, Die Achse der Autokraten

Ein Autokrat kommt nicht allein. Annäherungsversuche und Handelsbeziehungen haben aus einst ärmlichen Staaten, deren Drohgebärden wenig Realität enthielten, mächtige Gegner gemacht. Und mittlerweile sind viele Autokratien stark und selbstbewusst genug, einander auch gegenseitig zu stützen. Embargos gegen international geächtete Staaten wirken heute kaum noch – denn diese finden problemlos neue Handelspartner, neue Märkte und andere Freunde. Auch die sehr breit unterstützten Embargos gegen Russland zeigen aktuell erst recht langsam Wirkung. 

Applebaum beschreibt, wie Netzwerke autokratisch regierter Staaten im Großen ähnlich gut funktionieren wie Pfuschernetzwerke im Kleinen: Man braucht fast nichts mehr von den anderen, alle Bedürfnisse können auf der eigenen, dunklen Seite der Macht gedeckt werden.

Ein zweiter relevanter Aspekt in Applebaums Buch ist die Möglichkeit neuer Erzählungen. Moderne Autokratische Staaten sind nicht mehr in Opposition gegen den Westen (oder Norden, oder Kapitalismus). Sie erzählen eigene Geschichten von Diversität, Multilateralismus und Multipolarität. Und sie stellen sich selbstbewusst gegen „Einmischung in innere Angelegenheiten unter dem Vorwand von Demokratie und Menschenrechten“. Diese Floskel ist wörtlich häufig in digitalpolitischen Diskussionen zu hören. Mit der – von Russland dominierten – UN Cybercrime Convention haben sich autoritäre Staaten eine Grundlage geschaffen, solche „Einmischungen“ abwehren und auch verfolgen zu müssen. Unterzeichner dieser Convention (auch Österreich will unterzeichnen) müssten ihnen dabei helfen, diese Einmischer, also beispielsweise NGOs oder Dissidenten im Exil, zu verfolgen. In seiner Zustimmung zum UN Global Digital Compact legt China eine eigenartige Interpretation von Menschenrechten an den Tag und verwehrt sich ebenfalls gegen „Einmischung“. Das wichtigste Menschenrecht sei das Recht auf Wirtschaftswachstum.

Multipolarität, eigene Interpretationen von Menschenrechten, Nichteinmischung – mit diesen Schlagworten punkten Autokratien auch bei afrikanischen und südamerikanischen Staaten, die gar nicht grundsätzlich autokratische Tendenzen haben, für die das Begriffsgemisch aber eine willkommene Grundlage zur selbstbewussten Distanzierung von Westen und Norden bietet.

Diese neuen Erzählungen tragen zu Misstrauen und neuen Streitthemen bei. Sie sind auch Kern der zeitgemäßen autokratischen Taktik gegenüber Opposition und Dissidenten. Diskreditierung und Rufmord sind effizienter als Gewalt, Folter und Mord, die am Ende neue Märtyrer schaffen. 

Diese Kombination aus Misstrauen, Medienmanipulation und Uminterpretation von Menschenrechten und demokratischen Grundsätzen ist der eigentliche Sprengstoff, den der Aufstieg von Autokratien birgt. Deren neue Erzählungen sind erfolgreich – und in einer zunehmend kaputten Medien-, Politik- und Kulturwelt kennt bald kaum noch jemand jener, die mit diesen autokratischen Erzählungen aufwachsen, deren Grundlage. Menschenrechte, Liberalismus und Freiheit werden so zunehmend zu Zerrbildern – durch jene, die sie ungeschickt verteidigen fast ebenso wie durch jene, die sie attackieren.  

Daron Acemoglu, James Robinson: Warum Nationen scheitern

Es ist erstaunlich, wie schnell manche Bücher altern, ohne deswegen zwingend an Gültigkeit zu verlieren. „Warum Nationen scheitern“ erschien im Original 2012, auf Deutsch 2013. Die Krim war noch nicht besetzt, die Ukraine war noch nicht überfallen, China und Indien boomten – das sind nur einige Aspekte, die sich in den vergangenen Jahren drastisch verändert haben.

Acemoglu und Robinson entwickeln eine Theorie zur Entstehung von Wohlstand und Armut, die sich nicht an geographischen oder kulturellen Unterschieden oder an mentalitätspezifischen Vorurteilen orientiert. Einfach zusammengefasst: Institutionen, die Macht kontrollieren und beschränken, Beteiligung zulassen, Kontrolle ausüben und durchsetzen können, sind förderlich für die Entwicklung eines günstigen Gesellschafts- und WIrtschaftsumfelds. Sie bezeichnen das als inklusive Institutionen. Das Gegenstück sind extraktive Institutionen, die an Abschöpfung orientiert sind, sich der Kontrolle entziehen und so nur einer kleinen Schicht jener, die schon Macht haben, Macht und Wohlstand ermöglichen. Grundlage für inklusive Institutionen ist in der Regel ein zentralisiertes Staatswesen, das Regeln entwickeln und durchsetzen kann. 

Verschiedene Faktoren begünstigen oder behindern diese Entwicklung. Systeme des Kolonialismus sind in alle Regel extraktiv und verstärken bereits vorhandene extraktive Institutionen – die Folgen sind korrupte Staatsgebilde, die vor allem bis in die 80er und 90er Jahre in Afrika und Lateinamerika besonders ausgeprägt waren. 

Unterschiedliche Effekte hatte etwa die Pest des Spätmittelalters in Europa. Die enormen Todeszahlen und die dezimierte Bevölkerung sorgte in Westeuropa für Risse im rigiden Feudalsystem – es war nicht mehr selbstverständlich, dass überall Menschen verfügbar waren, die zur Arbeit gezwungen werden konnten und die keine Wahl hatten. Menschen hatten zumindest beschränkte Wahlmöglichkeiten. In Osteuropa schlug die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung aus. Die neuerdings knappe Ressource Mensch wurde strenger kontrolliert, Leibeigenschaft, vor allem in Polen wurde noch deutlich strenger. 

Digitalwirtschaft und Digitalpolitik tragen heute auch, bemerken mehrere Autoren, Züge von Feudalherrschaft: Viele arbeiten ohne Entlohnung (indem sie Inhalte und Nutzungsdaten generieren), wenige kassieren. Die Nutzung ist rückläufig – wird auch hier in absehbarer Zeit die Entwicklung in die andere Richtung ausschlagen, sodass Plattformen sich wieder darum bemühen müssen, User zu bekommen? Was wird die Rolle der Pest übernehmen?

Andere Faktoren, die inklusive Institutionen ausbremsen, sind beispielsweise scheinbare Freiheiten. Acemoglu und Robinson führen die Robber Barons in den USA des 19. Jahrhunderts an – Vanderbilt, Morgan oder Rockefeller bauten schnell Monopole auf, die ihnen nützlich waren, der Entwicklung ihrer Branche aber nicht.

Auch das ist eine Entwicklung, die sich heute sehr deutlich am Beispiel des digitalen Kapitalismus nachvollziehen lässt. Die Dominanz von Plattformen steht in Wechselwirkung zu Alles-oder-nichts-Märkten, auf denen kein Platz für zweite oder dritte ist. Den Nachteil der so entstehenden Monopole für Innovation und Kunden haben beispielsweise Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge beschrieben.

Ein öfters missverstandener Aspekt in der Theorie von Acemoglu und Robinson ist das Verhältnis von inklusiven Institutionen und Freiheit. Freiheit per se spielt hier eine untergeordnete Rolle. Beteiligung ist relevanter – und die Möglichkeit, Grenzen zu bestimmen und durchzusetzen. Theoriefixierte Papier-Liberale übersehen das oft und gern und lesen die Theorie als eindimensionales Plädoyer für den Wegfall von Einschränkungen. Das ist ein Missverständnis.

Möglich ist, dass mit dem Wissen um dieses Missverständnis die Theorie von Acemoglu und Robinson auch als Inspiration zu Digitalgesetzgebung herangezogen werden kann. Digitalwirtschaft hat sich, zumindest im Umfeld der großen Plattformen, in den vergangenen Jahren zu einer extraktiven Institution entwickelt: Macht und Einkommen sind auf wenige verteilt, für Neue ist es schwer, Fuß zu fassen, das Wachtstums-Geschäftsmodell hat seinen Höhepunkt schon überschritten, problematische Auswirkungen werden sichtbar. Wie kommt man von hier wieder in ein inklusiveres Umfeld, so wie es die früheren Jahre des digitalen Kapitalismus versprochen haben?

Geht es nach Acemoglu und Robinson, dann braucht es dazu eine zentralisierte Macht, die Regeln gestalten und durchsetzen kann.

Die übliche Reaktion auf Ansätze zu solchen Überlegungen war, sie schnell vom Tisch zu wischen – das Netz ist global und es gibt nun mal keine globale Macht. Der erste Teil dieses Satzes stimmt allerdings nicht. Anu Bradford zeigt in „Digital Empires“ (mehr dazu in aller Kürze hier und bald ausführlicher auf diesem Kanal), dass es längst schon drei oder vier verschiedene Internetbereiche gibt. Das Netz in China hat wenig mit dem in den USA zu tun und auch in Europa entwickeln sich eigene Ausprägungen, in Russland ohnehin. Heute stehen einander mehrere konkurrierende Netzmodelle gegenüber. Politik hat die Möglichkeit, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass sich die eine oder andere Variante durchsetzt. Der Weg dorthin ist nicht vorgezeichnet und es ist auch überhaupt nicht klar, dass das funktionieren wird. Es ist nur absehbar, dass die aktuelle Entwicklung nur wenigen Menschen nützt. Ob das ein Problem ist oder vielleicht doch wünschenswert, das ist eine politische Entscheidung. Politik sollte allerdings die eigenen Grundlagen schaffen, um hier handlungsfähig zu bleiben.

Dazu gehören vor allem Kontrolle über die Infrastruktur als Mittel, Regeln auch durchsetzen zu können. 

Alternativen zu den lähmenden Winner Takes it All-Modellen, die den Digitalmarkt aktuell plattgemacht haben, könnten neue inklusive Institutionen unserer Zeit sein. 

Alexej Navalny, Patriot

Ein Populist zieht ins Weiße Haus ein, entpuppt sich als Faschist und stürzt die USA ins Chaos. Nächstes Jahr, pünktlich zu Trumps zweiter Amtseinführung, wird Sinclair Lewis‘ Roman „Das ist bei uns nicht möglich“, 90 Jahre alt. Bemerkenswert ist weniger, dass dieses Buch als Blaupause für eine politische Diagnose der Gegenwart gelesen werden kann – die Schattenseiten politischer Systeme sind seit den römischen Kaisern und vermutlich noch länger (dann aber weniger gut dokumentiert) ziemlich unverändert. Bemerkenswert ist, dass Lewis in den USA 1934 anhand der Berichte seiner Frau, die als Journalistin Deutschland bereiste, ein recht präzises Bild faschistischer Machtübernahme inklusive SA-Schlägertrupps, Schutzhaft und Konzentrationslagern zeichnen konnte. 

Literatur ist manchmal präziser als die Realität. Alexej Navalnys Autobiografie “Patriot” bewegt sich zwischen präziser Dokumentation und politischer Vision. Navalny erzählt seine Geschichte, beschreibt seine Anliegen, die Reaktion des russischen Staates, ein schnell eskalierendes Katz-und-Maus-Spiel, das überraschend schnell auf die Frage zugespitzt wird, ob Navalny sein Leben für seine Politik riskieren soll. Ihm blieb keine Möglichkeit, über diese Frage selbst zu entscheiden. Ein mörderischer Machtapparat hat von Navalnys Entscheidung weg, nach Russland zurückzukehren, seinen Tod vorbereitet und dabei schon mit Details wie der Umleitung des Flugzeugs auf einen kleineren Flughafen außerhalb Moskaus darauf geachtet, über möglichst viele Aspekte die Kontrolle zu behalten. 

Mit der Verhaftung kippt Navalnys Erzählung von einer Autobiografie in ein verschiedenen Zwängen unterworfenes Gefängnistagebuch. Er beschreibt Krankheiten, Hungerstreik, erholt sich wieder, wird verlegt, unter verschärften Bedingungen weggesperrt, weiter von der Außenwelt isoliert, ist eigentlich guter Dinge – dann endet der Text. Navalny starb. Seinen letzten Tagebucheinträgen nach eher unerwartet. Die allerletzten Einträge konnten vermutlich nicht mehr aus dem Gefängnis gebracht werden. 

Im Gegensatz zu Sinclair Lewis‘ Phantasie-Diktatur ist die russische Diktatur stabil. Bei Lewis stürzen Palastintrigen den Diktator, die nächste Generation folgt, die Herrschaft endet nicht, aber der Widerstand fasst neuen Mut. In Navalnys Russland fehlen diese Lichtblicke. Reichtum sichert Macht ab, diese schafft weiteren Reichtum. Navalny tritt gegen Lügen auf, die sich seit der Sowjetzeit wenig verändert haben („Uns geht es gut“) und setzt die Wahrheit seiner Inhaftierung, seines Sterbens dagegen. Wäre er nicht aus dem deutschen Exil nach seiner Vergiftung nach Russland zurückgekehrt, wie könnte er dann glaubhaft behaupten, dass er Veränderung in Russland für möglich halte? Diesen Gedanken wiederholt er mehrfach. 

J.D. Vance beschreibt in “Hillbilly Elegy” eine Kindheit, die in den Grundzügen jener aus Annie Ernaux‘ „Scham“ ähnelt. Drogen, Alkohol und Gewalt zuhause, das Gefühl von Unzulänglichkeiten, jugendliche Planlosigkeit. Letzteres sind Elemente einer relativ normalen Jugend. Vance betont Zusammenhänge zwischen schwindender Leistungsbereitschaft, planlosen Konsum-Ersatzhandlungen, die auch bei guten Einkommen zu Armut führen und Unsicherheit. Gleichzeitig beschreibt er seinen Weg aus dieser Misere an eine Elite-Uni; er schreibt sein Buch nach einigen Jahren als Anwalt einer multinationalen Kanzlei. Bei seinem Erscheinen 2016 wurde Hillbilly Elegy als kritische Diagnose von Trump-Triumph und Brexit gelesen, heute ist Vance Trumps Vizepräsident.

Mich macht das Buch etwas ratlos. Drogenabhängige Eltern sind schlecht für Karriere und Lebensperspektiven, keine Frage. Wer nicht in die Fußstapfen seiner Eltern tritt, sieht sich vielen ungeahnten Fragen gegenüber, geschenkt. Die Versuchung, aufzugeben ist groß, Faulheit, Selbstzufriedenheit, Bescheidenheit, Ruhe und Resignation sind manchmal schwer zu unterscheiden. 

Unzufriedene Menschen mit wenig Perspektive werden leicht zu politischen Irrgängern gegen ihre eigenen Interessen – diese Diagnose überrascht mich bei Vance ebenso wenig wie bei Didier Eribons Rückkehr nach Reims. Anders als Eribon ist Vance allerdings kein französischer Intellektueller, als amerikanischem Juristen stehen ihm Perspektiven offen, die es in anderen Teilen der Welt schlicht nicht gibt. Elite-Unis, an denen Lehrende relevante Karriere- und Entwicklungsratschläge geben, an denen Headhunter Studierende vom ersten Studienjahr an casten und deren Abschlüsse im Jobmarkt einen echten Unterschied gegenüber Abschlüssen anderer Unis machen – in Kleinstaaten wie Österreich ist das eher unüblich. 

Vance Geschichte zeigt aber, welche Dynamiken sich in Gang setzen lassen. Wenn man rechtzeitig den notwendigen Ehrgeiz und die Bereitschaft, mitzuspielen, entwickelt. 

Formal betrachtet unterscheiden sich Vance Schilderungen seiner Kindheit streckenweise kaum von der Kindheit, die Annie Ernaux in „La Honte“ beschreibt. Schlechter Umgang mit Geld, Unsicherheit über die eigene soziale Rolle und Position, Gewalt gegen Frauen, Alkohol, Drogen – letztlich das normale Leben, dem junge Menschen ausgesetzt sind, die sich noch nicht entschlossen haben, wo sie sich anschließen. Vance hatte die Chance auf eine sichere und weitgehend selbstbestimmte Karriere, auch ohne Bestseller und Politik wäre er heute gut verdienender Jurist. Ernaux beschreibt dagegen Scham als prägendes Gefühl ihrer eigenen Herkunft gegenüber. Man darf dabei auch fragen, ob das, aus der Tastatur einer sehr erfolgreichen Autorin, etwas kokett ist. Ähnliches kann man natürlich auch bei Vance fragen, denn die Armut seiner Protagonisten ist oft ein schlichtes Konsumproblem. Wer will, kann darin von Ausbeutung lesen, wer es anders lesen will, liest hier vom Konsum der Ausgebeuteten als stärkstem Motor der Ausbeutung. 

Vances und Ernauxs Bücher sind alte Texte. Sie beschreiben Vergangenheit und Utopien, sie handeln von einer Zeit, in der Dinge besser wurden. Sinclair Lewis’ Text lebt von zeitloser Scheinaktualität, in der sich dankbar viele vermeintliche Gegenwarts- und Zukunftsbezüge finden lassen. Navalnys Text ist dokumentarisch, und er ist in all der realen Trostlosigkeit, die sich hinter der fröhlichen Sprache und dem Mut nicht verstecken kann, der eigentlich relevante Text unserer Zeit. Es wäre auch zu kurz gegriffen, „Patriot“ nur als russische Geschichte zu lesen, sich – mit Lewis’ Titel – zu denken: „Das ist bei uns nicht möglich“. Der Streit um das Sagbare wird uns auch in Europa in den nächsten Jahren beschäftigen, unter der Flagge der wenig wahrheitsorientierten Rede- und Meinungsfreiheit werden politische Problemdiagnosen zurückgedrängt. Ein Konzert von vorgeblich kritischen Zustimmern übertönt Dissens und Dissidenz, leere Floskeln von Freiheit (egal ob von Rassisten, Impfschwurblern oder papieren-libertären “Ökonomen”) formen die Marschmusik, die vielleicht nicht gleich in Straflager führt, aber es normal erscheinen lässt, wenn Politiker von Fahndungslisten und Säuberungen schwadronieren und ihre Macht auf Lüge aufbauen. Letzteres haben Putin, Trump, AfD und FPÖ gemeinsam. 

Über Navalnys Buch wird schon wieder, so kurz nach seinem Erscheinen, viel zu wenig geredet.