Oswald Wiener, Probleme der Künstlichen Intelligenz

Die Rede von Intelligenz ist der Fehler in der Diskussion künstlicher Intelligenz, meint Oswald Wiener. Die Suche nach Intelligenz in Rechenprozessen wirft Fragen auf, deren Grundbegriffe selbst noch stets viel Interpretationsspielraum aufweisen und deren wesentliche Merkmale zu unbestimmt sind, um klar diskutiert werden zu können. Das betrifft die Frage nach dem Wesen künstlicher Intelligenz, nach Fortschritten auf diesem Gebiet und nach der Bedeutung solcher Fortschritte. 

Wiener beschäftigt sich stattdessen mit mechanistischen Fragestellungen nach der Entstehung von Gedanken, geistigen Abbildern und Vorstellungen. Diese scheinen ihm die relevanten Merkmale des menschlichen Geistes zu sein, die ein Algorithmus aufweisen müsste, um Spuren von Intelligenz für sich in Anspruch nehmen zu können. 

Gleich zu Beginn dieses Textes – es ist eine Kompilation aus Vorträgen von Anfang der 90er Jahre – verwehrt sich Wiener gegen Behaviorismus als adäquate Beschreibungstechnik menschlichen Verhaltens. Behaviorismus, der heute durchaus wieder Auferstehung feiert, reduziert menschliches Verhalten auf ein Reiz-Reaktions-Schema, in dem die Gründe für Reaktionen recht egal sind. Das ist ein leichter Weg zu einfach quantifizierten Theorien darüber, wie sich menschliches Verhalten steuern lässt. Für Wiener wäre so ein Zugang allenfalls für Marsmenschen (die keinen Zugang zu menschlichen Überlegungen haben) oder für Beamten (denen oberflächlicher Formalismus zur regelgesteuerten Entscheidungsfindung ausreicht) zulässig. 

Wiener betont stattdessen die Relevanz von Selbstbeobachtung und der Zusammenhänge von Wahrnehmung, Vorstellung und Begriffsbildung. Geistige Prozesse müssen verstanden werden – implizit ist das eine Voraussetzung, um sie nachbauen zu können. Wiener und seine Zeitgenossen hatten damals – vor 35 Jahren – eine scheint es deutlich aktivere KI vor Augen, als wir sie heute erreicht haben. 

Wiener beschreibt geistige Prozesse und Begriffsbildung in der Sprache der Automatentheorie der theoretischen Informatik. Hier gibt es Eingaben, es werden Zeichenketten gebildet, verschiedene Zeichenketten aus unterschiedlichen Automaten können sich aneinanderreihen und werden in die Welt zurückgeschrieben. Solche Prozesse schaffen Neues und sie sind Bestandteil ihrer Umwelt. Automaten können nicht getrennt von ihrer Umwelt beschrieben werden und sie gestalten ihre Umwelt. Die Merkmale eines Gegenstands, meint Wiener, sind nicht nur Merkmale des Wahrgenommenen, sondern auch der Maschine, die die Wahrnehmung und das durch sie entstandene Abbild produziert hat. 

Hier treffen einander Heisenbergs Diagnose der fehlenden Abgrenzung von Beobachter, Theorie und Welt, Datenmodelle, die Repräsentation durch Relation ersetzen und Konstruktivismus. Wiener selbst erwähnt nichts davon, er erwähnt allenfalls Strukturen. Wiener ist allerdings kein Strukturalist, der bestehende Strukturen oder deren Wirkung als Grundlage der Realität ansieht. Dazu ist seine Auffassung vom Verhältnis von Geist und Umfeld zu dynamisch; beide bedingen und gestalten einander. 

Sinnesorgane, die Wahrnehmungen liefern und so Automaten in Gang setzen, sind für den Automaten teil der Außenwelt, für die Außenwelt Teil des Automaten, können als passive Rezeptoren gesehen werden oder als prägende Gestalter, denen entscheidende Rolle dabei zukommt, was in welcher Form mit welcher Relevanz weitergegeben wird. Schön ist in diesem Zusammenhang die Formulierung von Sinnesorganen als epistemischer Panzer: Strenger als Theorie bestimmen Sinnesorgane über Wahrnehmung und deren Einordnung. 

Relevante Bestandteile dieser Prozesse vermisst Wiener in KI. In aktueller real existierender KI müsste er wohl noch mehr davon vermissen. GPTs bilde zwar auch Zeichenketten, aber nicht nach eigenen Regeln oder mit einem Ziel, sondern nach wie vor eher über die einfache Technik der n-Grams: Chat GPT „denkt“, indem es Zeichenwahrscheinlichkeiten berechnet. Je höher der N-Wert ist, also die Menge der Zeichen, die gleichzeitig berücksichtigt werden, desto näher rücken die Ergebnisse dieser vermeintlichen Denkprozesse an menschliche Sprache. Kreative Intelligenz dagegen fasse solche trivialen Maschinen und Abläufe zu neuen Klassen und Verfahren zusammen. Ablaufende Zeichenketten, Algorithmen und Automaten sind also nur Zutaten, derer sich Intelligenz bedient, um intelligent zu sein. Die Illusion der Intelligenz von Maschinen entstehe vielmehr durch unangebrachte Analogien und Versuche, die Rechenleistung von Maschinen nachzuvollziehen, also durch die Vermenschlichung von Maschinen. 

Wiener verwendet auch bereits – 1990 – den Begriff der Halluzination. „Halluzinierte Übergänge“ sind Entscheidungen der Maschine, die Logik oder Algorithmen überspringen, es sind Fehlentscheidungen, die von Beobachtern als Indizien für Intelligenz interpretiert werden. 

Intelligenz dagegen müsse gezielt solche neuen Verfahren anwenden oder neue Mechanismen erzeugen, um ihrer eigenen Theorie gerecht zu werden. Wiener stellt aber auch selbst die Frage, ob menschliches Denken das für sich in Anspruch nehmen kann, oder ob auch der Mensch grundsätzlich auf der Ebene eines flachen Formalismus verbleibt, den Wiener bei Automaten diagnostiziert. Letzteres ist eine Frage der Abstraktionslevels, in denen Entscheidungen betrachtet werden. Wo sie innerhalb bestimmter Regeln betrachtet werden, schaffen sie nichts Neues, denn die Regeln geben bereits den Weg vor. Wo Regeln außer Acht gelassen werden, sind neue Wege möglich, es fehlen allerdings – noch – Kriterien, nach denen über die Qualität dieser Wege entschieden werden könnte. 

Das ist eine pragmatische Variante von Gödels Unvollständigkeitstheorem: Konsistente Systeme sind unvollständig. In ihren Grenzen funktionieren sie schlüssig. Der Versuch, diese Grenzen auszudehnen, geht zulasten der Konsistenz. Nur mit dem Versuch, Grenzen auszudehnen, können aber Antworten auf neue Fragen gesucht werden. Und nur so können Begründungen für die Wahl der Grenzen geliefert werden. Das es keine rational begründbaren letzten Gründe für Rationalität gibt, ist eine der konsistenten, aber unzufriedenstellenden Wahrheiten der Wissenschaftstheorie. 

Wiener erwähnt Gödel; Schrödinger bleibt unerwähnt. Schrödingers Frage aus „Was ist Leben?“ beschreibt einen ähnlichen Perspektivenwechsel: Gesetzmäßigkeiten entstehen durch Zufälle und Statistik und sie funktionieren innerhalb dieses Rahmens. Je kleiner die betrachtete Gesamtheit wird, desto geringer wird aber der ausgleichende Effekt der Statistik. Für Schrödinger bleibt die Frage offen, wie Gene – die aus einer vergleichsweise verschwindend kleinen Menge von Molekülen bestehen – die Entwicklung des Lebens sicherstellen können, die sich nach immer gleichen Regeln vollzieht. 

Wiener streift diese Fragen nur und kehrt dann schnell zu Pragmatischerem zurück. Ein pragmatisch klingender Vorschlag ist die Überlegung, Intelligenz in künstlicher Intelligenz durch Emergenz zu ersetzen: Entsteht hier etwas Neues, etwas, das nicht zwingend aus den vorangegangenen Schritten folgt? Das wäre eine nützliche Zielsetzung für produktive und kreative Technik. Aber letztlich auch eine müßige. Über Emergenz streitet die Wissenschaftsphilosophie fast so viel wie über Intelligenz (eigentlich mehr, weil Intelligenz in dieser Disziplin kaum Thema ist). Manche Autoren sehen in Algorithmen das Gegenteil von Emergenz, denn Algorithmen legen den nächsten Schritt immer genau fest und lassen dabei keinen Spielraum. Andere gestehen immerhin Fehlern in den Abläufen (die vielleicht durch undefiniertes Variablen oder falsche Speicherbelegungen entstehen) kreatives Potenzial zu. 

Emergenz statt Intelligenz – diese Verschiebung macht die Einschätzung von KI und ihren Folgen nicht leichter. Aber Emergenz kann gerade auch in der Analyse von Artificial General Intelligence ein nützliches Kriterium sein: Schafft vermeintliche Intelligenz es, Systemgrenzen und Medienbrüche zu überwinden? Oder bleibt sie in den festgelegten Regeln verhaftet und kann diese um ein Vielfaches schnelle auslegen und austesten als jeder Mensch, wodurch der Eindruck neuartiger Entscheidungen entsteht – der aber letztlich Interpretation eines Betrachters ist, der sich selbst Intelligenz zuschreibt? Jede funktionierende KI, die ihren Zweck erfüllt, wäre damit ein Beweis für Gödels Unvollständigkeitstheorem. Und jede KI, die offene Fragen aufwirft, ebenso.

Julian Togelius, Artificial General Intelligence

Künstliche Intelligenz wird wahlweise die Welt zerstören, unfassbare Produktivitätsboosts anstoßen, Unvorstellbares in Bewegung setzen, Dinge bewirken, die wir uns noch gar nicht vorstellen können – und so weiter und so fort. Wer in den vergangenen Jahren eine Minute auf LinkedIn verbracht hat, weiß das. 

Wer sich dieser Angstlust mit weniger Begeisterung ergibt, gilt als verbohrter Bremser, der noch nicht verstanden hat, was alles auf uns hereinbrechen wird, und warum er oder sie dringend persönliche KI-Coaches und -Gurus braucht, die ihn oder sie durch diesen Dschungel navigieren. 

Umso wichtiger, dass ein renommierter Informatiker in einem technisch renommierten Verlag für einen nüchternen Umgang mit KI plädiert.

Der KI-Zirkus tourt seit gut 60 Jahren. Während aktuell digitale Übermachtsphantasien Oberhand haben, traute man Computern anfangs weniger zu. Sie würden nie intelligent sein, hieß es, sonst könnten sie Schach spielen. Oder Alpha Go. Oder Texte schreiben. Sobald ein Ziel erreicht war, hieß es: Das erfordert keine Intelligenz; ein nächstes Ziel stand im Raum.

Die grundlegenden Voraussetzungen haben sich nicht geändert, trotzdem behaupten heute viele, computergenerierte Weltherrschaft für ebenso realistisch zu halten wie den digital motivierten Weltuntergang. 

Aktuelle Intelligenzen wie Chat GPT sind hochspezialisiert, in Maßen flexibel – und man könnte auch hier diskutieren, ob sie intelligent sind. Large Language Models funktionieren mit Wahrscheinlichkeitsprognosen und reproduzieren, was bisher am häufigsten produziert (also geschrieben) wurde. Das ist weder besonders komplex noch visionär. Vor über hundert Jahren beschrieb der Wiener Wissenschaftsjournalist Leo Gilbert in seinem Roman „Seine Exzellenz, der Android” annähernd diese Methode als Intelligenzrezept seines Bots.

Intelligenz ist ein schwammiger Begriff, der sich nicht klar abgrenzen lässt und in der Praxis immer ein bewegliches Ziel darstellt. Künstliche Intelligenz vereinfacht das Problem nicht. Und gerade in Hinblick auf die Vorstellung Allgemeiner Künstlicher Intelligenz multipliziert sich das Problem eher, als einfacher zu werden. Intelligenz ist kein klarer Begriff, allgemein ist interpretierbar und sogar über künstlich könnte man streiten. Intelligenz kann nur dann gemessen oder verglichen werden, wenn die Aufgabenstellungen klar sind. Damit ist Intelligenz aber immer eine spezifische Eigenschaft und keine allgemeine. Es ist sogar eher beweisbar, dass es keine allgemeine überlegene Intelligenz geben kann. Wenn bestimmte Intelligenzen (oder mutmaßliche intelligente Algorithmen) auf eine Vielzahl von Problemstellungen angewendet werden, ist zu erwarten, dass alle vergleichbar gut oder schlecht abschneiden werden. Manche Algorithmen lösen bestimmte Problemarten besser, dafür scheitern sie an anderen – in der Gesamtwertung werden alle einander ähneln. Das ist die Informatik-Variante des Free Lunch-Theorems; irgendwann muss immer von irgendwem bezahlt werden.

Was sollte also Allgemeine Künstliche Intelligenz sein? Ist sie besonders menschlich? Deckt sie eine breite Palette ab? Ist sie eher alienlike? Braucht sie einen Körper oder nicht? Die Debatte kennt viele Ansätze, alle sind reichlich unkonkret. Die Minimalvariante von AGI reicht von sprachlicher Flexibilität bis zur Fähigkeit, Systemgrenzen zu überwinden und unvorhergesehene Lösungen zu finden. Letzteres sind Intelligenzen, die ihre Softwaregrenzen überwinden, um die Welt der Büroklammernproduktion wegen zu vernichten (wie in den berühmten Beispielen von Nick Bostrom), die die Menschheit versklaven, um mächtiger zu werden (wie Skynet in Terminator), oder die die Codes für Nukleararsenale knacken und diese selbständig zünden. Bislang ist das Science Fiction.

GPT 4 jedenfalls ist keine AGI. GPT 4 errät Texte und befolgt Regeln. Regeln, die von Menschen festgelegt worden sind und die bestimmten, was es lernt und innerhalb welcher Grenzen es sich bewegt.

Kann AGI über Methoden geschaffen werden, die Evolution und natürlicher Auslese nacheifern, also über die gleichen Methoden, die menschliche Intelligenz geschaffen haben? Reinforcement Learning wäre die Version der Evolution, die einen steuernden Schöpfer kennt, der zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse entscheidet. Open Ended Learning ist eine flexiblere Variante, die keine Ziele vorgibt, Methoden offen lässt – und damit auch die Frage offen lässt, was und wie AGI eigentlich lernt. Ist AGI ein Spiegel menschlicher Intelligenz oder etwas ganz anderes?

In erster Linie ist AGI eine Projektionsfläche für KI-Spekulanten, die sich für gerade genehme Zwecke einsetzen lässt.

Die Versuchung der Analogie zu menschlicher Intelligenz verführt zu einem weiteren großteils sinnlosen Scheingefecht: Kann künstliche Intelligenz Bewusstsein entwickeln? Bewusstsein ist nun ein ebenso unscharfer Begriff wie Intelligenz. Es ist nur eine leichte Zuspitzung, die Frage nach Bewusstsein Künstlicher Intelligenz zu einer anderen Frage zusammenzukürzen: Kann irgendwas irgendwas entwickeln? Togelius verweist auf David Chalmers’ Gedankenexperimente – die nur in einem klar abgegrenzten Rahmen und mit vielen Einschränkungen Sinn ergeben.

Künstliche Intelligenzen können sich selbst und andere Künstliche Intelligenzen trainieren. Die Fortschritte dabei bewegen sich aber in überschaubaren klar abgesteckten Bereichen. Um größere Sprünge zu machen, müsste KI nicht zur zusätzliche Software entwickeln und neue Trainingsdaten beschaffen, KI müsste auch neue Hardware bauen, um zusätzliche Rechenleistung bereitzustellen, mit der größere Entwicklungssprünge möglich wären. Das sind Hürden, die Software alleine nicht nehmen kann – KI braucht Helfer bei der Vernichtung der Menschheit oder anderen Aktivitäten, die die technischen Allmachtsphantasien befriedigen würden. KI wird das Heft nicht selbst in die Hand nehmen. Mit KI können schädliche Prozesse in Gang gesetzt, beschleunigt und vervielfältigt werden, aber KI entwickelt ebensowenig zerstörerische Eigendynamik wie Nuklearenergie. In Punkto unumkehrbare Eigendynamik hat Klimawandel im Ranking der aktuellen Supergefahren jeglicher Killer-KI einiges voraus.

Large Language Models sind für Togelius keine Schritte in Richtung einer Allgemeinen Künstlichen Intelligenz. Entwicklungen, die der Idee der Allgemeinen Intelligenz am nächsten kommen, sieht Togelius in Open Ended Learning. Hier ist Flexibilität zu erwarten – um den Preis, dass Menschen weder nachvollziehen können, was oder wie derart offen gestaltete Intelligenzen gelernt haben. 

Dennoch schließt Togelius mit einem kurzen Plädoyer gegen Entwicklungsbeschränkungen. Denn KI setzt keinen Geist frei, enthält keine Magie und ist keine unkontrollierbare Macht. Es sei denn, Beschränkungen, künstliche Zugangshürden und andere erzwungene Intransparenzen erschweren die kritische technisch fundierte Auseinandersetzung mit KI.

Onur Erdur, Schule des Südens

Es ist fast ein mutiges Buch. Wer beschäftigt sich heute noch mit der Philosophie von gestern, insbesondere der französischen Postmoderne und Dekonstruktion, ohne gleich vorwegzuschicken, dass man diese Theoriegebäude ohnehin nicht mehr ernst nehmen könne? Postmoderne und Dekonstruktion sind durch eine Reihe von Missverständnissen, gezielten Fehlinterpretationen und dankbarem Nachplappern in Verruf geraten.

Postmoderne als Ursache und Wegbereiter von Identitätspolitik gilt selbsternannten Möchtergernrationalen als Teufelszeug.

Das ist ein grundlegender Irrtum, dem Erdur mit unkonventionellen Methoden begegnet. Er konzentriert sich nicht auf Textanalysen und das Nachzeichnen von Argumenten. Beides ist zur Genüge durchexerziert worden und nützt wenig gegenüber jenen Kritikern, die die Texte gar nicht kennen.

Erdur beschäftigt sich mit biografischen Wurzeln und Bruchlinien der Stars von Postmoderne, Poststrukturalismus und Dekonstruktion – und diese führen ihn allesamt nach Nordafrika. Manche der französischen Philosophen sind dort geboren, andere hat es im Wehrdienst in den Algerienkrieg verschlagen, wieder andere haben in Marokko und Algerien hedonistische Züge ausgelebt. Erdur sucht nach Verbindungen zwischen diesen biografischen Elementen und wesentlichen Komponenten der jeweiligen Theorie. Manchmal liegt das auf der Hand, manchmal wirkt das ein wenig bemüht, manchmal ist es selbstverständlicher, aber vergessener Teil der Geschichte.

Pierre Bourdieu forschte in Algerien, widersprach den aus der Ferne etwa von Sartre gefällten Urteilen über die revolutionären Subjekte und nahm algerische Forscher mit nach Frankreich, um auch bei seinen Forschungen im eigenen Land den Blick für das Fremde zu bewahren.

Lyotard unterstützte algerische Freiheitskämpfer, unterrichtete an der französischen Militärakademie, war trotz seiner Unterstützung auch bei algerischen Offiziellen nicht immer gern gesehen und lebte so ein Leben voll der Uneindeutigkeit, die das Kernstück seiner Philosophie ausmachte.

Roland Barthes gönnte sich homosexuelle Abenteuer in Marokko und Algerien, fand Zeit, exzessiv nachzudenken – er nannte es seine Marinade, wenn er tagelang auf der Couch lag, um zu denken. Dabei fasste er den Entschluss, vom Theoretiker zum Künstler werden zu wollen und einen Roman zu schreiben. Er schrieb zwei Jahre vom Schreiben und wurde dann, zurück in Paris, von einem Laster überfahren. Ohne seinen Roman begonnen zu haben.

Michel Foucault wollte als Lehrer nach Afrika (Kongo oder Tunesien, das war ihm egal, was vermutlich seine Ortskenntnis umschreibt). In Tunesien und Algerien konnte er seine Homosexualität mit jungen Männern ausleben. Er residierte im Club Med und schaffte es doch, sich kunstvoll als Revolutionär zu inszenieren, der hautnah an den 68er-Studentenunruhen in Algerien dran war.

Jacques Derrida wurde als algerischer Jude geboren, erhielt Anfang der 40er Jahre die französische Staatsbürgerschaft, während des Vichy-Régimes wurde sie ihm wieder entzogen, als jüdischer Teenager durfte er nicht mehr in die französische Schule in Algerien, mit 19, Ende der vierziger Jahre zog der nach Paris – für einen gerade 19-jährigen sollte das ausreichen, um sich die nächsten Jahre mit Identität, Differenz und der Notwendigkeit, jede Form von Identität zu hinterfragen, zu beschäftigen.

Helène Cixous ist mit einer ähnlichen Biografie wie Derrida eine der aktivsten Verfechterinnen des Differenzfeminismus und sah sich damit in einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Simone de Beauvoir, die als Verfechterin eines Identitätsfeminismus die Gleichstellung von Mann und Frau betonte. Cixous betonte dagegen Unterschiede und leitete aus dieser Position die Notwendigkeit einer gesonderten Beschäftigung mit den Geschlechtern an, die sich gegen Vernachlässigung und Benachteiligung von Frauen wandte.

Etienne Balibar, etwas jünger, war nicht mehr als Soldat im Algerienkrieg, lernte aber als überzeugter Kommunist linken Rassismus und Antisemitismus kennen. Seine Kritik daran führte zum Parteiausschluss.

Jacques Rancière als jüngster der besprochenen Philosophen beobachtete die Demonstrationen von Algeriern in Paris, beschrieb sie als das ganz andere (das erinnert an Mbembe und Fanon) und entwickelte die Idee der Desidentifikation. Jede Annäherung an Identität, jede Politisierung und Selbstbehauptung müsse mit Desidenitifikation, also der Abwehr aller im Raum stehenden Zuschreibungen und Identifzierungen beginnen. Diese radikale Identitätskritik kann als Universalismus gelesen werden, der alle Nuancen und Besonderheiten einebnet – oder als unbedingter Individualismus, der zu einem feststehenden und unveränderlichen Kern vordringen will. Beides ist nicht im Sinn Rancières, der Universalismus entspräche einer republikanischen laizistischen Doktrin, die alle Menschen als gleich betrachtet (auch wenn diese Besonderheiten betonen wollen), der Individualismus käme Vorstufen einer heute verrufen postmodernen Identitätspolitik nahe.

Beides führt zur Kritik an der Kritik der Postmoderne, die Erdur schon an den Beginn seines Buches stellt und auf die der zuletzt noch einmal zurückkommt.

In Frankreich ist in den vergangenen Jahren viel politisch motivierte Kritik an Dekonstruktion und Postmoderne aufgekeimt. Von Rechten und Identitären formulierte Kritik griff vor allem Interpretationen der Postmoderne in Postkolonialismus oder Gender Studies auf, provozierte Reaktionen in ebendiesen Gebieten – und erzeugte damit wieder neues kritisierbares Material, das weniger und weniger mit dem Ausgangspunkt, also den philosophischen Grundlagen von Postmoderne und Dekonstruktion zu tun hatte. Das setzte ein wunderbares Perpetuum Mobile der Empörung in Gang, das den Beteiligten Argumente und Aufmerksamkeit schenkte, allerdings die Theorie selbst unter den Bus warf.

In den relevanten Texten wird wenig so hartnäckig infrage gestellt wie Identität; Vorstellungen von Natürlichkeit, natürlicher Ordnung oder Notwendigkeit (die über Zweckorientierung hinausgeht) sind die häufigsten Zielobjekte und gerade Lehrbeispiele für Dekonstruktion. An diesem Punkt wird Erdurs Buch relevant, das genau diese Aspekte nachzeichnet und in Verbindung mit Biografien bringt. Insofern ist es geradezu ein wenig gegen den eigenen Anspruch gerichtet, in diesem Buch Nordafrika als gemeinsames bestimmendes Element festzumachen. Denn das setzt einen Fixpunkt, der für Postmoderne und Dekonstruktion Ausgangspunkt der Kritik wäre. – Aber man braucht ja einen Aufhänger, um Geschichten zu erzählen.

Zwei Hinweise aus Erdurs Buch sind hier etwas zusammenhanglos, aber sie sind mir zu wichtig, um sie hier nicht festzuhalten:

Deleuze und Guattari beschrieben das Wesen einer philosophischen Grundeinstellung als jene von Fremden auf der Flucht. Das ist eine sehr schöne Umschreibung für eine skeptische Grundhaltung, die Fragen stellt und Beziehungen herstellt.

Im Oktober 1961 töteten Polizisten in Paris 200 Algerier, die sich zu einer Demonstration gegen den Krieg versammeln wollten. Das Massaker brach an verschiedenen Orten in Paris aus, nachdem sich eine Falschmeldung über einen angeblich von Demonstranten getöteten Polizisten verbreitete. Manche Polizisten warfen Leichen in die Seine, die Ereignisse wurden weitgehend verschwiegen. Erst 2011, 50 Jahre danach, wurde das Massaker offiziell als Verbrechen der Polizei anerkannt. In Rancières Interpretation ist das Ausrasten der Polizei ein weiterer Beleg für die Wahrnehmung der Nordafrikaner als das ganz Andere, Unverständliche, Fremde, das in Paris keinen Platz hatte.

Medienfinanzierung: Last Exit Non Profit

An Veranstaltungen wie dem International Journalism Festival in Perugia waren klassische Medienhäuser schon länger in der Unterzahl. Ein paar Öffentlich-Rechtliche, vielleicht noch ein paar deutsche Regionalzeitungen, aber nationale Medienhäuser waren dort in den vergangenen Jahren kaum vertreten. Dort, wo Medieninnovation beschworen wird, sind die Großen die Minderheit. Sie sind es in diesen Fällen auch, was die Finanzkraft betrifft: Medienstartups mit den coolsten Ansätzen waren in Perugia und anderswo vorrangig stiftungsfinanziert. Mit der Unterstützung finanzkräftiger Förderer bildet sich Non Profit-Journalismus als Mittelweg zwischen öffentlich-rechlichem und privat finanziertem Journalismus heraus.

Medienphilantropie hat in den vergangenen Monaten auch Wien erreicht. Ex-Standard-Chefredakteur Martin Kotynek führt den Media Forward Fund, der gerade eine erste Förderrunde mit einer Vielzahl von Einreichern abwickelt, die Erste Stiftung, die schon länger Journalistenstipendien vergab, enagierte sich mit Pluralis auch als Geldgeberin für Medienbeteiligungen, und dieser Tage wurde die Datum Stiftung rund um das Monatsmagazin Datum vorgestellt.

Alle verfolgen das Ziel, selbstbewussten Journalismus und Medien als Stütze der Demokratie zu fördern. Ungarn und Polen sind abschreckende Beispiele für staatliche Kontrolle und problematische Entwicklungen in der Pressefreiheit, Social Media und Desinformation sind geteilte Außenfeinde.

Non Profit wird sich ein relevanter Faktor in der Medienfinanzierung werden. Allerdings müssen sich in der Regel auch Non Profit-Medien selbst finanzieren. Der Guardian ist als Stiftung organisiert, muss aber dennoch Erträge erwirtschaften, mit denen die Stiftung wirtschaften kann. Durchalimentierte Organisationen wie die neue Wiener Zeitung sind die Ausnahme und haben oft auch ein Ablaufdatum, das abhängig vom Finanzier mitunter sehr plötzlich eintritt.

Medien brauchen zahlende Leser. Das kann zum Schwachpunkt vieler unter dem Non Profit-Dach ventilierter stiftungsfinanzierte Medienideen werden. Hört man Stiftern und den sich bewerbenden Medienmachern zu, dann stehen Bildungs- und Aufklärungsaufgaben des Journalismus eindeutig im Vordergrund. Medienkonsumenten sollen befähigt werden, Entscheidungen zu treffen, sie sollen Antworten auf ihre Fragen finden.

Es ist nun meiner Einschätzung nach nicht so, dass Medienkonsumenten zu viele (unbeantwortete) Fragen haben. Sie haben eher zu viele Antworten. Ich stelle mir österreichische NachrichtenleserInnen als Menschen vor, die morgens mit der einen Hand zur Axt greifen, mit der anderen zur Pistole, sich vor Rechner oder Smartphone setzen, vielleicht noch ein Messer zwischen die Zähne klemmen, und die richten wollen.

Ihnen mögen die Fälle vorgeführt werden, sie werden urteilen. Wie komme ich zu dieser Vorstellung? Das sehe ich in den Kommentarzeilen der Zeitungen – in allen. Die allwissende Wut der LeserInnen ist kein Boulevardproblem. Es trifft eher das Gegenteil zu – je elaborierter kommentiert wird, desto deutlicher wird diese wissende Verbissenheit.

Wut, Wissen, Witz – aufmerksamen Analysten begegnet vieles in der Beschäftigung mit Lesern. Drängende unbeantwortete Fragen sind selten darunter.

Was bringt solche Entschlossenen aus der Ruhe, was stört ihr Gleichgewicht und den Ablauf ihrer Diät der Empörung? Will man solche Leser überhaupt? Oder beschränkt man sich erst auf die Informationshungrigen und predigt abwechselnd im Sesselkreis zur eigenen Gefolgschaft? Letzteres trägt im Übrigen nicht dazu bei, die eigene Arbeit zu verbessern. Es fehlt der relevante Widerspruch. Deshalb – und auch das ist eine Nebenerscheinung der neuen Formen des abseits von LeserInnen alimentierten Journalismus – finde ich es geradezu haarsträubend, wenn sich von Ein-Personen-Redaktionen getragene Medienexperimente Qualitätsjournalismus auf die Fahnen schreiben.

Diesem Anspruch fehlt das gleiche Element, das auch den wissenden Lesern fehlt.

Es ist nicht Aufklärung, Anleitung oder noch mehr Information. Es ist Zweifel.

Wer zweifelt, ist erst mal still. Dann folgen Fragen statt Vorträgen.

Ich habe oft schon Zweifel, no pun intended, geäußert, dass Bildung und Evidenz die Gamechanger auf dem Weg zu einer aufgeklärten Gesellschaft sind. Lernen ist heute das leichteste auf der Welt. Information ist überall. Lernen lässt sich in jedes Leben integrieren, ganz akute Notlagen vielleicht ausgenommen.

Zweifel drängt zu den Fragen, die sich LeserInnen erst stellen müssen, bevor sie empfänglich für Antworten sind. Journalismus kann dazu beitragen, produktiven Zweifel zu säen. Zweifel entsteht durch Vielfalt und Entscheidungsoptionen, durch eine Vielzahl sichtbarer Perspektiven und Realitäten und durch die Vermittlung dieser Unterschiede. Sie müssen in Beziehung gesetzt werden, sonst bedeuten sie nichts.

Reportagen, Gespräche, Storys, für die Journalisten ihre Schreibtische verlassen, mit Menschen gesprochen und selbst neues kennengelernt haben, können diesen Zweifel schaffen. Allein geschriebene Kolumnen, Kommentare oder Nacherzählungen schaffen das ebensowenig wie schnell geführte Interviews oder Befindlichkeitsreflexionen.

Zweifel bewirkt Fragen, die LeserInnen sich über unterschiedliche Quellen und Kanäle beantworten können. Kleinteilige Non Profit-Medien produzieren oft nicht den Journalismus, der es schafft, diesen Zweifel zu wecken und für die User relevante Fragen entstehen zu lassen.

Manche Fragen stellen sich LeserInnen auch ohne solche Zweifel. Salz erst in kochendes Wasser oder schon davor? Dürfen Hunde Schokolade essen? Was ist mit David Alabas Knie? Mit solchen Fragen landen LeserInnen in der Regel nicht bei Medien, die erklären wollen, sondern bei hyperoptimierten ECommerce-Landingpages oder anderen SEO-starken Agendasettern, deren Inhalte von Medienmanagementstudierenden im dritten Semester anhand der Inhalte vom vorigen Jahr ergooglet wurden.

Erste Ergebnisse aus nicht durch Leser oder Werbung finanziertem Journalismus machen auf eine weitere Schwachstelle der Gattung des Non Profit-Journalismus aufmerksam. FördernehmerInnen werden oft dazu angehalten, Medienideen mit Redaktions- und Businessplan einzureichen. Das überfordert kleine Teams. Menschen haben unterschiedliche Talente – tolle Inhalte ergeben kein Medium, sondern eine lose Sammlung toller Inhalte. Und ein professionell finanziertes und vertriebenes Medium scheitern manchmal daran, dass Finanziers von der gähnende Langweiligkeit des Produkts enttäuscht sind, das sie da finanziert haben. Die Realität kann mit dem Pitch nicht mithalten.

Gibt es da einen Ausweg? Früher gab es freie Verkäufer, die neue Medien in ihren Portfolios mitnehmen konnten. Vielleicht ist auch das eine abhanden gekommene relevante Infrastruktur, für die Ersatz notwendig ist, so wie für manche Ersatz für alte Vertriebswege notwendig ist.

Thomas Köck, Chronik der laufenden Ereignisse

Aus irgendeinem Grund dachte ich mir: Hübsche Schrift am Cover, und wenn man so einen langweiligen Titel verwendet, der unoriginelle Fingerübungen erwarten lässt, dann ist das sicher ein toll gemachtes originelles Buch mit einer besonderen Perspektive, die etwas anderes erzählt als das, was alle über Politik sagen. Wenn ein Buch mit einem Titel, der für einen Aufsatz im Mitarbeitermagazin einer Magistratsabteilung zu langweilig wäre, bei einem Verlag wie Suhrkamp erscheint, dann muss das was ganz Tolles sein. 

So kann man sich täuschen. Bei Suhrkamp haben sich Auswahlkriterien von Qualität hin zur Politik verändert.

Köcks Tagebuch ist politkritische Einheitssulz, gewürzt mit Klassengejammer. Wie kommt man auf die Idee, über 350 Seiten über den eigenen Nachrichtenkonsum zu schreiben, die wiederholen, was alle sagen, was überall zu lesen war? Das eigene Umfeld nickt das ab, alle anderen interessiert das nicht und niemand weiß nach dem Lesen dieses Buches mehr als vorher. (Ausgenommen: Man kann einmal mehr verwundert zur Kenntnis nehmen, dass auch Menschen aus dem Kulturbetrieb, die nicht müde werden, zu erzählen, was sie alles „auf einem Podium“ gefragt wurden, sich marginalisiert fühlen).

Ich habe das tatsächlich zu Ende gelesen, um herauszufinden, ob das ganze Buch auch tatsächlich so belanglos und uninspiriert bleibt, wie die ersten Seiten vermuten ließen. Und die relevanteste Frage bleibt: Wie wenig beschäftigen sich jene Leser, die solche Texte für relevant halten, mit Politik, Literatur oder Gesellschaft? Das ist besorgniserregend. 

Yuval Noah Harari, Nexus

Harari funktioniert wie eine intellektuelle Wurstmaschine: Oben kommt ziemlich beliebiges Zeug rein, unten kommt etwas heraus, das vielen Menschen schmeckt. Das verwundert manche, weil das Ergebnis eigentlich nicht besonders gut gemacht ist.

Als Historiker pflegt Harari einen lockeren Umgang mit Technik und Politik, nimmt sich viel Zeit und Raum, Argumente auszuwalzen, die die Philosophie schon länger geklärt und gut systematisch aufbereitet hätte und weicht manchmal auch in schlicht mythische Gefilde aus. 

In Nexus beschäftigt sich Harari mit KI und potenziellen Risiken und Nebenwirkungen. Gleich eingangs bemüht er Phaeton und Goethes Zauberlehrling, um zu “argumentieren”, dass sich Technik leicht zur Bedrohung für Menschen wandeln kann. Phaeton griechischer Halbgott, wollte den Sonnenwagen lenken und ließ´sich nicht davon abbringen, dass nur echte Götter die Pferde dieses Gespanns im Griff haben können. Die Geschichte ging nicht gut aus, seither geht die Sonne unter. Der Zauberlehrling wollte Arbeit an den Besen outsourcen, hatte den aber nicht so weit im Griff, ihn dann auch wieder abbremsen zu können, und musste peinlicherweise seinen Lehrherrn darum bemühen.

Beide Storys können als Technikallegorien gelesen werden, ebenso gut sind es aber auch Moritaten über Anmaßung und Herrschaft, über Souveränität und Kontrolle und über die Notwendigkeit der Unterordnung. Ist das wirklich der Horizont, vor dem wir über Technik und Verantwortung reden sollten?

Harari warnt vor negativen Folgen von Technologie und insbesondere künstlicher Intelligenz. KI habe, anders als andere Technologien, das Potenzial, sich weiterzuentwickeln, den Menschen zu umgehen, Prozesse in Gang zu setzen und damit kontrollierte Bahnen zu verlassen. Sie könne Entscheidungen treffen, die Menschen weder nachvollziehen und verstehen können – vom Büroklammer-Produzenten, der die Zivilisation ausrottet, bis zum berühmten AlphaGo-Spielzug fehlt hier keines der gängigen Beispiele. 

Die Schwächen dieser Argumente sind zweierlei: Erstens sind auch in diesen Beispielen die Regeln von Menschen gemacht worden. Es gab klare Aufgabenstellungen und geforderte Ergebnisse. Insofern trifft das Argument der überraschenden Entscheidungen nicht ganz. Solche Entscheidungen sind vielmehr der Sinn und Zweck von Machine Learning. Zweitens sind die Visionen des Grenzen überwindenden Computers, der selbstständig handelt, noch zu einem sehr großen Teil Science Fiction. Artificial General Intelligence ist noch nicht hier und sogar bei OpenAI streitet man darüber, ob sie jemals realisiert werden kann. Anders als andere überwundene Hürden der Informatik ist das nicht in erster Linie eine Frage von Rechenkapazität, es ist eine strukturelle Frage, wie ein Computer nicht nur zum Beispiel Produkte recherchiert, sondern sie auch kauft, die Zustellung organisiert, dem Postboten die Tür öffnet und das Paket auspackt. Alles machbar, aber jemand muss die Systeme schaffen, deren Grenzen der Computer dann überwinden kann.

Harari ist in seiner Verwendung des Begriffs “Computer” sehr flexibel. Computer kann hier vom Smartphone bis zum Terminatoren steuernden Skynet alles sein. Ebenso flexibel und unscharf sind dann auch die meisten Argumente. Meistens kreisen sie um den Kern, dass Regulierung notwendig, aber schwierig ist. Darauf können sich auch Technobürokraten einigen. Was allerdings durchgehend fehlt, ist ein Bild dafür, was auf dem Spiel steht, was sich verändert, welche Kräfte hier einander gegenüberstehen und für Spannungen sorgen. Harari lässt Mensch und Technik als diffuses “wir” und “die” gegeneinander antreten, er setzt voraus, dass Technik dem Menschen, seiner Natur und deren Zielen entgegensteht. Allein die Trennung ist, liest man zeitgenössische Technikphilosophie, nicht ganz up to date. Harari bemüht viele Grundlagen (die für die weiteren Argumente im Buch mitunter gar nicht notwendig sind), die Rolle von Technologie bleibt aber großteils unscharf. Das zugrundeliegende Technikverständnis unterscheidet sich kaum vom pessimistischen Techno-Determinismus eines Jacques Ellul aus den 60er Jahren, der Technik als treibende Kraft sah, deren Entwicklung Gesellschaft, Mensch, Natur, Kultur oder was man auch als Antipode sehen möchte, schlicht ausgeliefert ist. Bei der engen Verwicklung von Mensch und Technik, die Smartphones in Körperteile, Social Networks in Bewusstseinsinhalte und Kommunikationsnetze in Hirnerweiterungen verwandelt, ist das eine schwer haltbare Annahme.  

Hararis Ausflüge in Wahrheits- und Informationstheorie oder auch Politikwissenschaft sind mitunter befremdlich. Er greift vieles auf, das in den jeweiligen Disziplinen schon gut ausdiskutiert und -formuliert wurde, ignoriert dabei den Stand des Wissens, holt selbst weit aus und präsentiert einen mit anderen Worten ausgedrückten wissenschaftlichen Konsens als Ergebnis seiner Überlegungen. Kann man machen, ist im Sinn der Populärwissenschaftlichkeit vielleicht auch ein für viele Leser angenehm voraussetzungsloser Zugang, hinterlässt aber letztlich doch einen esoterisch-geheimwissenschaftlich-wissenschaftskritischen Nachgeschmack, insbesondere wenn Harari „seine“ Erkenntnisse gegen die eines „naiven“ Verständnisses abgrenzt. 

Harari und auch seine Verleger wissen das wohl genau; 500 Seiten Text werden von 100 Seiten Anmerkungen begleitet, die diese Schwächen wieder ausgleichen. Das lesen vermutlich die wenigsten der begeisterten Harari-Leser, und so kann man 500 Seiten gelesen haben, glauben, viele neue Einsichten gewonnen zu haben – und dennoch nicht einen neuen oder neu interpretierten Gedanken gelesen haben. Das ist heute ein Erfolgsrezept.

Heinz Bude, Abschied von den Boomern

Die Generation X kommt einmal mehr unter die Räder. Heinz Bude verabschiedet sich von den Boomern und begrüßt Millenials und Gen Z. Von X keine Rede. In den 90ern (als es noch fast keine Boomer gab), war ich als Anfang der 70er Jahre Geborener fast noch zu jungü für Generation X, heute schlägt Bude die Google-Gründer Page und Brin (beide mein Jahrgang) ungeniert den Boomern zu.

Eigentlich lese ich keine Generationen-Literatur der Austauschbarkeit halber. Jede Generation, wenn sie denn eine ist, sagt seit mindestens 40 Jahren: „Wir sind die ersten, die …“ Und sie sagen das zum gleichen Thema.

Bude beleuchtet etwa Krisenerfahrungen – etwas, das die coronageplagte Gen Z für sich beansprucht. Boomer haben die Kriegstraumen ihrer Eltern aufgesaugt, Umweltprobleme für sich entdeckt und Tschernobyl und Aids als Veränderungen erlebt. Vielen von ihnen wurde die Zwischenkriegszeit als die beste Zeit vermittelt, auch die Erzählungen meiner Großeltern haben, im Verbund mit Erich Kästner-Romanen, ein sehr friedliches Bild weniger Jahre um 1930 vermittelt. Der Krieg lag als schlimmste Zeit in der Vergangenheit, es gab Grund zu der Annahme, dass Zustände nur besser werden könnten.

In der Wahrnehmung der Gen Z, meint Bude, kommt das Schlimmste erst noch.

Die Generation X, die bei Bude ganz konsequent kein Thema ist, hat die Zeit vor Aids weitgehend verpasst, durfte wegen Tschernobyl ein oder zwei Tage nicht in die Sandkiste und musste sich nach 1989 mit der Idee anfreunden, dass es jetzt zwar keinen Ostblock mehr gab, damit aber eigentlich auch nichts gewonnen war.

Ein in Generationenthemen neuer, wenn auch nicht überraschender Punkt bei Bude: Boomer wurden weder alt noch altmodisch geboren. RAF und Deutscher Herbst waren ebenso Boomer-Erfindungen wie Anti-Atomkraft-Proteste.

Daraus kristallisiert sich letztlich eine möglichwerweise doch auf den Punkt gebrachte Esssenz in Budes etwas dahinschweifendem Essay: Boomer sind die, die immer zu viele waren. Für Boomer war trotz guter Wirtschaftsdaten Arbeitslosigkeit oder unternehmerische Erfolglosigkeit immer eine reale Option. Künstlerisches und Revolutionäres gab es an allen Ecken, es reichte nicht zum Distinktionsmerkmal. Leistungswille und Leistung, schreibt Bude, reichten einfach nicht aus, um aufzufallen oder etwas zu erreichen. Es gab einfach zu viele, die ähnliches machten, egal, was man machte. Weshalb Auffallen und andere außenorientierte Erfolgskriterien für Budes Boomer-Diagnose weniger relevant sind als „Wirkungswille ohne Letztbegründung“. Darin sieht Bude das zentrale Boomer-Paradigma, das sich auf Hausbesetzungen, Stricken und pflichtbewusste Erwerbsarbeit gleichermaßen anwenden lässt.

Die Abgrenzung zu Millenials lässt Bude bewusst offen – oder der Erfahrung der Lesenden überlassen. 

Philipp Blom, Die Unterwerfung

Es ist schon einige Zeit her, dass ich Philipp Blom in einem Diskussionsabend den Gedanken äußern hörte, am Ende würde ohnehin die Mikroben gewinnen. Das schien mit eine nette Idee gegen den warnenden Technooptimismus (oder ist es in Wahrheit Pessimismus) eines Yuval Harari oder praktisch jedes konservativen oder liberalen Politikers, der die Rettung (egal wovor) wenn nicht in Gott, dann in Technologie sieht.

Jetzt gibt es das Buch zu diesem Gedanken, und es ist ein wenig enttäuschend. Die Unterwerfung ist eine toll erzählte Kulturgeschichte des Gedankens, der Mensch solle, könne oder müsse die Natur unterwerfen, die aber erst auf den letzten Seiten auf den Mikroben-Gedanken zu sprechen kommt. Der Rest ist eine etwas zu breit angelegte Geschichte, die toll geschrieben ist, aber in ihrer Breite neue Gedanken vermissen lässt und letztlich wenig neues erzählt.

Toll zu lesen, aber insgesamt bleibt die Sache ein wenig beliebig.