Onur Erdur, Schule des Südens

Es ist fast ein mutiges Buch. Wer beschäftigt sich heute noch mit der Philosophie von gestern, insbesondere der französischen Postmoderne und Dekonstruktion, ohne gleich vorwegzuschicken, dass man diese Theoriegebäude ohnehin nicht mehr ernst nehmen könne? Postmoderne und Dekonstruktion sind durch eine Reihe von Missverständnissen, gezielten Fehlinterpretationen und dankbarem Nachplappern in Verruf geraten.

Postmoderne als Ursache und Wegbereiter von Identitätspolitik gilt selbsternannten Möchtergernrationalen als Teufelszeug.

Das ist ein grundlegender Irrtum, dem Erdur mit unkonventionellen Methoden begegnet. Er konzentriert sich nicht auf Textanalysen und das Nachzeichnen von Argumenten. Beides ist zur Genüge durchexerziert worden und nützt wenig gegenüber jenen Kritikern, die die Texte gar nicht kennen.

Erdur beschäftigt sich mit biografischen Wurzeln und Bruchlinien der Stars von Postmoderne, Poststrukturalismus und Dekonstruktion – und diese führen ihn allesamt nach Nordafrika. Manche der französischen Philosophen sind dort geboren, andere hat es im Wehrdienst in den Algerienkrieg verschlagen, wieder andere haben in Marokko und Algerien hedonistische Züge ausgelebt. Erdur sucht nach Verbindungen zwischen diesen biografischen Elementen und wesentlichen Komponenten der jeweiligen Theorie. Manchmal liegt das auf der Hand, manchmal wirkt das ein wenig bemüht, manchmal ist es selbstverständlicher, aber vergessener Teil der Geschichte.

Pierre Bourdieu forschte in Algerien, widersprach den aus der Ferne etwa von Sartre gefällten Urteilen über die revolutionären Subjekte und nahm algerische Forscher mit nach Frankreich, um auch bei seinen Forschungen im eigenen Land den Blick für das Fremde zu bewahren.

Lyotard unterstützte algerische Freiheitskämpfer, unterrichtete an der französischen Militärakademie, war trotz seiner Unterstützung auch bei algerischen Offiziellen nicht immer gern gesehen und lebte so ein Leben voll der Uneindeutigkeit, die das Kernstück seiner Philosophie ausmachte.

Roland Barthes gönnte sich homosexuelle Abenteuer in Marokko und Algerien, fand Zeit, exzessiv nachzudenken – er nannte es seine Marinade, wenn er tagelang auf der Couch lag, um zu denken. Dabei fasste er den Entschluss, vom Theoretiker zum Künstler werden zu wollen und einen Roman zu schreiben. Er schrieb zwei Jahre vom Schreiben und wurde dann, zurück in Paris, von einem Laster überfahren. Ohne seinen Roman begonnen zu haben.

Michel Foucault wollte als Lehrer nach Afrika (Kongo oder Tunesien, das war ihm egal, was vermutlich seine Ortskenntnis umschreibt). In Tunesien und Algerien konnte er seine Homosexualität mit jungen Männern ausleben. Er residierte im Club Med und schaffte es doch, sich kunstvoll als Revolutionär zu inszenieren, der hautnah an den 68er-Studentenunruhen in Algerien dran war.

Jacques Derrida wurde als algerischer Jude geboren, erhielt Anfang der 40er Jahre die französische Staatsbürgerschaft, während des Vichy-Régimes wurde sie ihm wieder entzogen, als jüdischer Teenager durfte er nicht mehr in die französische Schule in Algerien, mit 19, Ende der vierziger Jahre zog der nach Paris – für einen gerade 19-jährigen sollte das ausreichen, um sich die nächsten Jahre mit Identität, Differenz und der Notwendigkeit, jede Form von Identität zu hinterfragen, zu beschäftigen.

Helène Cixous ist mit einer ähnlichen Biografie wie Derrida eine der aktivsten Verfechterinnen des Differenzfeminismus und sah sich damit in einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Simone de Beauvoir, die als Verfechterin eines Identitätsfeminismus die Gleichstellung von Mann und Frau betonte. Cixous betonte dagegen Unterschiede und leitete aus dieser Position die Notwendigkeit einer gesonderten Beschäftigung mit den Geschlechtern an, die sich gegen Vernachlässigung und Benachteiligung von Frauen wandte.

Etienne Balibar, etwas jünger, war nicht mehr als Soldat im Algerienkrieg, lernte aber als überzeugter Kommunist linken Rassismus und Antisemitismus kennen. Seine Kritik daran führte zum Parteiausschluss.

Jacques Rancière als jüngster der besprochenen Philosophen beobachtete die Demonstrationen von Algeriern in Paris, beschrieb sie als das ganz andere (das erinnert an Mbembe und Fanon) und entwickelte die Idee der Desidentifikation. Jede Annäherung an Identität, jede Politisierung und Selbstbehauptung müsse mit Desidenitifikation, also der Abwehr aller im Raum stehenden Zuschreibungen und Identifzierungen beginnen. Diese radikale Identitätskritik kann als Universalismus gelesen werden, der alle Nuancen und Besonderheiten einebnet – oder als unbedingter Individualismus, der zu einem feststehenden und unveränderlichen Kern vordringen will. Beides ist nicht im Sinn Rancières, der Universalismus entspräche einer republikanischen laizistischen Doktrin, die alle Menschen als gleich betrachtet (auch wenn diese Besonderheiten betonen wollen), der Individualismus käme Vorstufen einer heute verrufen postmodernen Identitätspolitik nahe.

Beides führt zur Kritik an der Kritik der Postmoderne, die Erdur schon an den Beginn seines Buches stellt und auf die der zuletzt noch einmal zurückkommt.

In Frankreich ist in den vergangenen Jahren viel politisch motivierte Kritik an Dekonstruktion und Postmoderne aufgekeimt. Von Rechten und Identitären formulierte Kritik griff vor allem Interpretationen der Postmoderne in Postkolonialismus oder Gender Studies auf, provozierte Reaktionen in ebendiesen Gebieten – und erzeugte damit wieder neues kritisierbares Material, das weniger und weniger mit dem Ausgangspunkt, also den philosophischen Grundlagen von Postmoderne und Dekonstruktion zu tun hatte. Das setzte ein wunderbares Perpetuum Mobile der Empörung in Gang, das den Beteiligten Argumente und Aufmerksamkeit schenkte, allerdings die Theorie selbst unter den Bus warf.

In den relevanten Texten wird wenig so hartnäckig infrage gestellt wie Identität; Vorstellungen von Natürlichkeit, natürlicher Ordnung oder Notwendigkeit (die über Zweckorientierung hinausgeht) sind die häufigsten Zielobjekte und gerade Lehrbeispiele für Dekonstruktion. An diesem Punkt wird Erdurs Buch relevant, das genau diese Aspekte nachzeichnet und in Verbindung mit Biografien bringt. Insofern ist es geradezu ein wenig gegen den eigenen Anspruch gerichtet, in diesem Buch Nordafrika als gemeinsames bestimmendes Element festzumachen. Denn das setzt einen Fixpunkt, der für Postmoderne und Dekonstruktion Ausgangspunkt der Kritik wäre. – Aber man braucht ja einen Aufhänger, um Geschichten zu erzählen.

Zwei Hinweise aus Erdurs Buch sind hier etwas zusammenhanglos, aber sie sind mir zu wichtig, um sie hier nicht festzuhalten:

Deleuze und Guattari beschrieben das Wesen einer philosophischen Grundeinstellung als jene von Fremden auf der Flucht. Das ist eine sehr schöne Umschreibung für eine skeptische Grundhaltung, die Fragen stellt und Beziehungen herstellt.

Im Oktober 1961 töteten Polizisten in Paris 200 Algerier, die sich zu einer Demonstration gegen den Krieg versammeln wollten. Das Massaker brach an verschiedenen Orten in Paris aus, nachdem sich eine Falschmeldung über einen angeblich von Demonstranten getöteten Polizisten verbreitete. Manche Polizisten warfen Leichen in die Seine, die Ereignisse wurden weitgehend verschwiegen. Erst 2011, 50 Jahre danach, wurde das Massaker offiziell als Verbrechen der Polizei anerkannt. In Rancières Interpretation ist das Ausrasten der Polizei ein weiterer Beleg für die Wahrnehmung der Nordafrikaner als das ganz Andere, Unverständliche, Fremde, das in Paris keinen Platz hatte.

Medienfinanzierung: Last Exit Non Profit

An Veranstaltungen wie dem International Journalism Festival in Perugia waren klassische Medienhäuser schon länger in der Unterzahl. Ein paar Öffentlich-Rechtliche, vielleicht noch ein paar deutsche Regionalzeitungen, aber nationale Medienhäuser waren dort in den vergangenen Jahren kaum vertreten. Dort, wo Medieninnovation beschworen wird, sind die Großen die Minderheit. Sie sind es in diesen Fällen auch, was die Finanzkraft betrifft: Medienstartups mit den coolsten Ansätzen waren in Perugia und anderswo vorrangig stiftungsfinanziert. Mit der Unterstützung finanzkräftiger Förderer bildet sich Non Profit-Journalismus als Mittelweg zwischen öffentlich-rechlichem und privat finanziertem Journalismus heraus.

Medienphilantropie hat in den vergangenen Monaten auch Wien erreicht. Ex-Standard-Chefredakteur Martin Kotynek führt den Media Forward Fund, der gerade eine erste Förderrunde mit einer Vielzahl von Einreichern abwickelt, die Erste Stiftung, die schon länger Journalistenstipendien vergab, enagierte sich mit Pluralis auch als Geldgeberin für Medienbeteiligungen, und dieser Tage wurde die Datum Stiftung rund um das Monatsmagazin Datum vorgestellt.

Alle verfolgen das Ziel, selbstbewussten Journalismus und Medien als Stütze der Demokratie zu fördern. Ungarn und Polen sind abschreckende Beispiele für staatliche Kontrolle und problematische Entwicklungen in der Pressefreiheit, Social Media und Desinformation sind geteilte Außenfeinde.

Non Profit wird sich ein relevanter Faktor in der Medienfinanzierung werden. Allerdings müssen sich in der Regel auch Non Profit-Medien selbst finanzieren. Der Guardian ist als Stiftung organisiert, muss aber dennoch Erträge erwirtschaften, mit denen die Stiftung wirtschaften kann. Durchalimentierte Organisationen wie die neue Wiener Zeitung sind die Ausnahme und haben oft auch ein Ablaufdatum, das abhängig vom Finanzier mitunter sehr plötzlich eintritt.

Medien brauchen zahlende Leser. Das kann zum Schwachpunkt vieler unter dem Non Profit-Dach ventilierter stiftungsfinanzierte Medienideen werden. Hört man Stiftern und den sich bewerbenden Medienmachern zu, dann stehen Bildungs- und Aufklärungsaufgaben des Journalismus eindeutig im Vordergrund. Medienkonsumenten sollen befähigt werden, Entscheidungen zu treffen, sie sollen Antworten auf ihre Fragen finden.

Es ist nun meiner Einschätzung nach nicht so, dass Medienkonsumenten zu viele (unbeantwortete) Fragen haben. Sie haben eher zu viele Antworten. Ich stelle mir österreichische NachrichtenleserInnen als Menschen vor, die morgens mit der einen Hand zur Axt greifen, mit der anderen zur Pistole, sich vor Rechner oder Smartphone setzen, vielleicht noch ein Messer zwischen die Zähne klemmen, und die richten wollen.

Ihnen mögen die Fälle vorgeführt werden, sie werden urteilen. Wie komme ich zu dieser Vorstellung? Das sehe ich in den Kommentarzeilen der Zeitungen – in allen. Die allwissende Wut der LeserInnen ist kein Boulevardproblem. Es trifft eher das Gegenteil zu – je elaborierter kommentiert wird, desto deutlicher wird diese wissende Verbissenheit.

Wut, Wissen, Witz – aufmerksamen Analysten begegnet vieles in der Beschäftigung mit Lesern. Drängende unbeantwortete Fragen sind selten darunter.

Was bringt solche Entschlossenen aus der Ruhe, was stört ihr Gleichgewicht und den Ablauf ihrer Diät der Empörung? Will man solche Leser überhaupt? Oder beschränkt man sich erst auf die Informationshungrigen und predigt abwechselnd im Sesselkreis zur eigenen Gefolgschaft? Letzteres trägt im Übrigen nicht dazu bei, die eigene Arbeit zu verbessern. Es fehlt der relevante Widerspruch. Deshalb – und auch das ist eine Nebenerscheinung der neuen Formen des abseits von LeserInnen alimentierten Journalismus – finde ich es geradezu haarsträubend, wenn sich von Ein-Personen-Redaktionen getragene Medienexperimente Qualitätsjournalismus auf die Fahnen schreiben.

Diesem Anspruch fehlt das gleiche Element, das auch den wissenden Lesern fehlt.

Es ist nicht Aufklärung, Anleitung oder noch mehr Information. Es ist Zweifel.

Wer zweifelt, ist erst mal still. Dann folgen Fragen statt Vorträgen.

Ich habe oft schon Zweifel, no pun intended, geäußert, dass Bildung und Evidenz die Gamechanger auf dem Weg zu einer aufgeklärten Gesellschaft sind. Lernen ist heute das leichteste auf der Welt. Information ist überall. Lernen lässt sich in jedes Leben integrieren, ganz akute Notlagen vielleicht ausgenommen.

Zweifel drängt zu den Fragen, die sich LeserInnen erst stellen müssen, bevor sie empfänglich für Antworten sind. Journalismus kann dazu beitragen, produktiven Zweifel zu säen. Zweifel entsteht durch Vielfalt und Entscheidungsoptionen, durch eine Vielzahl sichtbarer Perspektiven und Realitäten und durch die Vermittlung dieser Unterschiede. Sie müssen in Beziehung gesetzt werden, sonst bedeuten sie nichts.

Reportagen, Gespräche, Storys, für die Journalisten ihre Schreibtische verlassen, mit Menschen gesprochen und selbst neues kennengelernt haben, können diesen Zweifel schaffen. Allein geschriebene Kolumnen, Kommentare oder Nacherzählungen schaffen das ebensowenig wie schnell geführte Interviews oder Befindlichkeitsreflexionen.

Zweifel bewirkt Fragen, die LeserInnen sich über unterschiedliche Quellen und Kanäle beantworten können. Kleinteilige Non Profit-Medien produzieren oft nicht den Journalismus, der es schafft, diesen Zweifel zu wecken und für die User relevante Fragen entstehen zu lassen.

Manche Fragen stellen sich LeserInnen auch ohne solche Zweifel. Salz erst in kochendes Wasser oder schon davor? Dürfen Hunde Schokolade essen? Was ist mit David Alabas Knie? Mit solchen Fragen landen LeserInnen in der Regel nicht bei Medien, die erklären wollen, sondern bei hyperoptimierten ECommerce-Landingpages oder anderen SEO-starken Agendasettern, deren Inhalte von Medienmanagementstudierenden im dritten Semester anhand der Inhalte vom vorigen Jahr ergooglet wurden.

Erste Ergebnisse aus nicht durch Leser oder Werbung finanziertem Journalismus machen auf eine weitere Schwachstelle der Gattung des Non Profit-Journalismus aufmerksam. FördernehmerInnen werden oft dazu angehalten, Medienideen mit Redaktions- und Businessplan einzureichen. Das überfordert kleine Teams. Menschen haben unterschiedliche Talente – tolle Inhalte ergeben kein Medium, sondern eine lose Sammlung toller Inhalte. Und ein professionell finanziertes und vertriebenes Medium scheitern manchmal daran, dass Finanziers von der gähnende Langweiligkeit des Produkts enttäuscht sind, das sie da finanziert haben. Die Realität kann mit dem Pitch nicht mithalten.

Gibt es da einen Ausweg? Früher gab es freie Verkäufer, die neue Medien in ihren Portfolios mitnehmen konnten. Vielleicht ist auch das eine abhanden gekommene relevante Infrastruktur, für die Ersatz notwendig ist, so wie für manche Ersatz für alte Vertriebswege notwendig ist.

Thomas Köck, Chronik der laufenden Ereignisse

Aus irgendeinem Grund dachte ich mir: Hübsche Schrift am Cover, und wenn man so einen langweiligen Titel verwendet, der unoriginelle Fingerübungen erwarten lässt, dann ist das sicher ein toll gemachtes originelles Buch mit einer besonderen Perspektive, die etwas anderes erzählt als das, was alle über Politik sagen. Wenn ein Buch mit einem Titel, der für einen Aufsatz im Mitarbeitermagazin einer Magistratsabteilung zu langweilig wäre, bei einem Verlag wie Suhrkamp erscheint, dann muss das was ganz Tolles sein. 

So kann man sich täuschen. Bei Suhrkamp haben sich Auswahlkriterien von Qualität hin zur Politik verändert.

Köcks Tagebuch ist politkritische Einheitssulz, gewürzt mit Klassengejammer. Wie kommt man auf die Idee, über 350 Seiten über den eigenen Nachrichtenkonsum zu schreiben, die wiederholen, was alle sagen, was überall zu lesen war? Das eigene Umfeld nickt das ab, alle anderen interessiert das nicht und niemand weiß nach dem Lesen dieses Buches mehr als vorher. (Ausgenommen: Man kann einmal mehr verwundert zur Kenntnis nehmen, dass auch Menschen aus dem Kulturbetrieb, die nicht müde werden, zu erzählen, was sie alles „auf einem Podium“ gefragt wurden, sich marginalisiert fühlen).

Ich habe das tatsächlich zu Ende gelesen, um herauszufinden, ob das ganze Buch auch tatsächlich so belanglos und uninspiriert bleibt, wie die ersten Seiten vermuten ließen. Und die relevanteste Frage bleibt: Wie wenig beschäftigen sich jene Leser, die solche Texte für relevant halten, mit Politik, Literatur oder Gesellschaft? Das ist besorgniserregend. 

Yuval Noah Harari, Nexus

Harari funktioniert wie eine intellektuelle Wurstmaschine: Oben kommt ziemlich beliebiges Zeug rein, unten kommt etwas heraus, das vielen Menschen schmeckt. Das verwundert manche, weil das Ergebnis eigentlich nicht besonders gut gemacht ist.

Als Historiker pflegt Harari einen lockeren Umgang mit Technik und Politik, nimmt sich viel Zeit und Raum, Argumente auszuwalzen, die die Philosophie schon länger geklärt und gut systematisch aufbereitet hätte und weicht manchmal auch in schlicht mythische Gefilde aus. 

In Nexus beschäftigt sich Harari mit KI und potenziellen Risiken und Nebenwirkungen. Gleich eingangs bemüht er Phaeton und Goethes Zauberlehrling, um zu “argumentieren”, dass sich Technik leicht zur Bedrohung für Menschen wandeln kann. Phaeton griechischer Halbgott, wollte den Sonnenwagen lenken und ließ´sich nicht davon abbringen, dass nur echte Götter die Pferde dieses Gespanns im Griff haben können. Die Geschichte ging nicht gut aus, seither geht die Sonne unter. Der Zauberlehrling wollte Arbeit an den Besen outsourcen, hatte den aber nicht so weit im Griff, ihn dann auch wieder abbremsen zu können, und musste peinlicherweise seinen Lehrherrn darum bemühen.

Beide Storys können als Technikallegorien gelesen werden, ebenso gut sind es aber auch Moritaten über Anmaßung und Herrschaft, über Souveränität und Kontrolle und über die Notwendigkeit der Unterordnung. Ist das wirklich der Horizont, vor dem wir über Technik und Verantwortung reden sollten?

Harari warnt vor negativen Folgen von Technologie und insbesondere künstlicher Intelligenz. KI habe, anders als andere Technologien, das Potenzial, sich weiterzuentwickeln, den Menschen zu umgehen, Prozesse in Gang zu setzen und damit kontrollierte Bahnen zu verlassen. Sie könne Entscheidungen treffen, die Menschen weder nachvollziehen und verstehen können – vom Büroklammer-Produzenten, der die Zivilisation ausrottet, bis zum berühmten AlphaGo-Spielzug fehlt hier keines der gängigen Beispiele. 

Die Schwächen dieser Argumente sind zweierlei: Erstens sind auch in diesen Beispielen die Regeln von Menschen gemacht worden. Es gab klare Aufgabenstellungen und geforderte Ergebnisse. Insofern trifft das Argument der überraschenden Entscheidungen nicht ganz. Solche Entscheidungen sind vielmehr der Sinn und Zweck von Machine Learning. Zweitens sind die Visionen des Grenzen überwindenden Computers, der selbstständig handelt, noch zu einem sehr großen Teil Science Fiction. Artificial General Intelligence ist noch nicht hier und sogar bei OpenAI streitet man darüber, ob sie jemals realisiert werden kann. Anders als andere überwundene Hürden der Informatik ist das nicht in erster Linie eine Frage von Rechenkapazität, es ist eine strukturelle Frage, wie ein Computer nicht nur zum Beispiel Produkte recherchiert, sondern sie auch kauft, die Zustellung organisiert, dem Postboten die Tür öffnet und das Paket auspackt. Alles machbar, aber jemand muss die Systeme schaffen, deren Grenzen der Computer dann überwinden kann.

Harari ist in seiner Verwendung des Begriffs “Computer” sehr flexibel. Computer kann hier vom Smartphone bis zum Terminatoren steuernden Skynet alles sein. Ebenso flexibel und unscharf sind dann auch die meisten Argumente. Meistens kreisen sie um den Kern, dass Regulierung notwendig, aber schwierig ist. Darauf können sich auch Technobürokraten einigen. Was allerdings durchgehend fehlt, ist ein Bild dafür, was auf dem Spiel steht, was sich verändert, welche Kräfte hier einander gegenüberstehen und für Spannungen sorgen. Harari lässt Mensch und Technik als diffuses “wir” und “die” gegeneinander antreten, er setzt voraus, dass Technik dem Menschen, seiner Natur und deren Zielen entgegensteht. Allein die Trennung ist, liest man zeitgenössische Technikphilosophie, nicht ganz up to date. Harari bemüht viele Grundlagen (die für die weiteren Argumente im Buch mitunter gar nicht notwendig sind), die Rolle von Technologie bleibt aber großteils unscharf. Das zugrundeliegende Technikverständnis unterscheidet sich kaum vom pessimistischen Techno-Determinismus eines Jacques Ellul aus den 60er Jahren, der Technik als treibende Kraft sah, deren Entwicklung Gesellschaft, Mensch, Natur, Kultur oder was man auch als Antipode sehen möchte, schlicht ausgeliefert ist. Bei der engen Verwicklung von Mensch und Technik, die Smartphones in Körperteile, Social Networks in Bewusstseinsinhalte und Kommunikationsnetze in Hirnerweiterungen verwandelt, ist das eine schwer haltbare Annahme.  

Hararis Ausflüge in Wahrheits- und Informationstheorie oder auch Politikwissenschaft sind mitunter befremdlich. Er greift vieles auf, das in den jeweiligen Disziplinen schon gut ausdiskutiert und -formuliert wurde, ignoriert dabei den Stand des Wissens, holt selbst weit aus und präsentiert einen mit anderen Worten ausgedrückten wissenschaftlichen Konsens als Ergebnis seiner Überlegungen. Kann man machen, ist im Sinn der Populärwissenschaftlichkeit vielleicht auch ein für viele Leser angenehm voraussetzungsloser Zugang, hinterlässt aber letztlich doch einen esoterisch-geheimwissenschaftlich-wissenschaftskritischen Nachgeschmack, insbesondere wenn Harari „seine“ Erkenntnisse gegen die eines „naiven“ Verständnisses abgrenzt. 

Harari und auch seine Verleger wissen das wohl genau; 500 Seiten Text werden von 100 Seiten Anmerkungen begleitet, die diese Schwächen wieder ausgleichen. Das lesen vermutlich die wenigsten der begeisterten Harari-Leser, und so kann man 500 Seiten gelesen haben, glauben, viele neue Einsichten gewonnen zu haben – und dennoch nicht einen neuen oder neu interpretierten Gedanken gelesen haben. Das ist heute ein Erfolgsrezept.

Heinz Bude, Abschied von den Boomern

Die Generation X kommt einmal mehr unter die Räder. Heinz Bude verabschiedet sich von den Boomern und begrüßt Millenials und Gen Z. Von X keine Rede. In den 90ern (als es noch fast keine Boomer gab), war ich als Anfang der 70er Jahre Geborener fast noch zu jungü für Generation X, heute schlägt Bude die Google-Gründer Page und Brin (beide mein Jahrgang) ungeniert den Boomern zu.

Eigentlich lese ich keine Generationen-Literatur der Austauschbarkeit halber. Jede Generation, wenn sie denn eine ist, sagt seit mindestens 40 Jahren: „Wir sind die ersten, die …“ Und sie sagen das zum gleichen Thema.

Bude beleuchtet etwa Krisenerfahrungen – etwas, das die coronageplagte Gen Z für sich beansprucht. Boomer haben die Kriegstraumen ihrer Eltern aufgesaugt, Umweltprobleme für sich entdeckt und Tschernobyl und Aids als Veränderungen erlebt. Vielen von ihnen wurde die Zwischenkriegszeit als die beste Zeit vermittelt, auch die Erzählungen meiner Großeltern haben, im Verbund mit Erich Kästner-Romanen, ein sehr friedliches Bild weniger Jahre um 1930 vermittelt. Der Krieg lag als schlimmste Zeit in der Vergangenheit, es gab Grund zu der Annahme, dass Zustände nur besser werden könnten.

In der Wahrnehmung der Gen Z, meint Bude, kommt das Schlimmste erst noch.

Die Generation X, die bei Bude ganz konsequent kein Thema ist, hat die Zeit vor Aids weitgehend verpasst, durfte wegen Tschernobyl ein oder zwei Tage nicht in die Sandkiste und musste sich nach 1989 mit der Idee anfreunden, dass es jetzt zwar keinen Ostblock mehr gab, damit aber eigentlich auch nichts gewonnen war.

Ein in Generationenthemen neuer, wenn auch nicht überraschender Punkt bei Bude: Boomer wurden weder alt noch altmodisch geboren. RAF und Deutscher Herbst waren ebenso Boomer-Erfindungen wie Anti-Atomkraft-Proteste.

Daraus kristallisiert sich letztlich eine möglichwerweise doch auf den Punkt gebrachte Esssenz in Budes etwas dahinschweifendem Essay: Boomer sind die, die immer zu viele waren. Für Boomer war trotz guter Wirtschaftsdaten Arbeitslosigkeit oder unternehmerische Erfolglosigkeit immer eine reale Option. Künstlerisches und Revolutionäres gab es an allen Ecken, es reichte nicht zum Distinktionsmerkmal. Leistungswille und Leistung, schreibt Bude, reichten einfach nicht aus, um aufzufallen oder etwas zu erreichen. Es gab einfach zu viele, die ähnliches machten, egal, was man machte. Weshalb Auffallen und andere außenorientierte Erfolgskriterien für Budes Boomer-Diagnose weniger relevant sind als „Wirkungswille ohne Letztbegründung“. Darin sieht Bude das zentrale Boomer-Paradigma, das sich auf Hausbesetzungen, Stricken und pflichtbewusste Erwerbsarbeit gleichermaßen anwenden lässt.

Die Abgrenzung zu Millenials lässt Bude bewusst offen – oder der Erfahrung der Lesenden überlassen. 

Philipp Blom, Die Unterwerfung

Es ist schon einige Zeit her, dass ich Philipp Blom in einem Diskussionsabend den Gedanken äußern hörte, am Ende würde ohnehin die Mikroben gewinnen. Das schien mit eine nette Idee gegen den warnenden Technooptimismus (oder ist es in Wahrheit Pessimismus) eines Yuval Harari oder praktisch jedes konservativen oder liberalen Politikers, der die Rettung (egal wovor) wenn nicht in Gott, dann in Technologie sieht.

Jetzt gibt es das Buch zu diesem Gedanken, und es ist ein wenig enttäuschend. Die Unterwerfung ist eine toll erzählte Kulturgeschichte des Gedankens, der Mensch solle, könne oder müsse die Natur unterwerfen, die aber erst auf den letzten Seiten auf den Mikroben-Gedanken zu sprechen kommt. Der Rest ist eine etwas zu breit angelegte Geschichte, die toll geschrieben ist, aber in ihrer Breite neue Gedanken vermissen lässt und letztlich wenig neues erzählt.

Toll zu lesen, aber insgesamt bleibt die Sache ein wenig beliebig.

Erwin Schrödinger, What is Life?

Wer stolz „Ich glaube an Fakten” sagt und sich dann für einen rationalen Wissenschaftsfreund hält, sollte Heisenberg oder Schrödinger lesen. Heisenberg bezeichnet Zeitgeist als ebenso objektive Tatsache wie andere wissenschaftliche Tatsachen, Schrödinger nennt es eine bequeme Vorstellung, die Welt wäre da draußen und warte darauf, erkannt zu werden. Sprechen hier zwei bislang als solche unentdeckte Vorläufer postmoderner Wissenschaftskritik? Oder doch eher zwei Wissenschaftler, die ihre Disziplinen über ihrer Zeit hinaus durchgespielt haben und an die Grenzen des Wissens und auch gleich der Fragen gestoßen sind?

Für Schrödinger entsteht die Welt der Wissenschaft durch Statistik. Statistik schließt einen Beobachter ein, jemanden, der Daten sammelt, entscheidet, welche Daten gesammelt werden, in welchen Zeiträumen sie betrachtet, nach welchen Kriterien sie aggregiert werden. Statistik bringt Ordnung ins Chaos, sie schließt Ausreißer aus und schafft Normalität. Und Statistik schafft Annäherungen. Sie setzt bestimmte Bereiche innerhalb einer Normalverteilung als relevant, Sachverhalte an den Rändern derselben Normalverteilung sind vernachlässigbar. 

Damit kratzt Schrödinger gleich an zwei Prinzipien naiver Wissenschaftlichkeit: Gerade die vermeintlich exakten Wissenschaften geben nur Wahrscheinlichkeiten an, ihre Gesetze sind Beobachtungen von Häufigkeiten auf Normalverteilungskurven, Interpretationen und Projektionen. Und zweitens: Weder Wissenschaften noch ihre Objekte sind vom Wissenschaftler unabhängig. Der Beobachter ist immer Teil der Beobachtung; der Beobachter und sein Standpunkt schaffen das Beobachtete.

Was heute, zahlreiche missbräuchlich gezogene Konsequenzen später, als postmoderner Schmus gelesen werden kann und antipostmoderne Tiraden befeuert, ist eine der Grundlagen der Quantenmechanik. Für Philosophen oder Sozialwissenschaftler ist das weder Hexerei noch wesentlich neu. Diese vermeintliche Revolution hat sich seit den Vorsokratikern öfters wiederholt und sie kann unterschiedlich interpretiert werden. Mal stärkt sie den Menschen als Maß aller Dinge, manchmal schwächt sie ihn als unfähig, die wahren und relevanten Dinge zu erkennen.

Im Gegensatz zu Fehlinterpretationen, die die Beobachterabhängigkeit von Fakten als unseriöse Entfernung von Realität betrachten, sieht Schrödinger hier einen Aufruf zu wissenschaftlicher Redlichkeit: Man könne sich nicht mit einem Gegenstand beschäftigen oder etwas über ihn erkennen, ohne eine Beziehung zum ihm herzustellen. Jeder Gegenstand wird durch seine Beobachtung im Bild des Beobachtenden verändert, jede Beschreibung, die diese Tatsache nicht berücksichtigt, bleibt unvollständig. Schrödinger schreibt sogar: „Mind has erected the outside world out of its own stuff“. 

Für Schrödinger ist diese Perspektive auch Beitrag zur Beseitigung von Erkenntnisproblemen. Nachdem der Beobachter immer Teil der Beobachtung ist, muss keine Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem, zwischen Subjekt und Objekt überwunden werden. Denn es gibt diese Grenze nicht.

Vor dem Hintergrund diese Überlegungen fragt sich Schrödinger, wie es Leben geben kann und wie oder als was wir es verstehen können. 

Leben, insbesondere Genetik, bringt das Weltbild des Physikers durcheinander. Gesetzmäßigkeit und Wissen als Statistik – das funktioniert, wenn der Physiker unterschiedliche Abstraktionslevels betrachtet, problemlos. Jede Beobachtung schließt unzählbar viele Atome ein und damit unzählige Möglichkeiten, die Dinge verlaufen können. Die Menge macht die Statistik verlässlich und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Dinge wiederholen lassen.

Die Planmäßigkeit von Zellteilung, Vermehrung und Leben stellt diese Beobachtung infrage. Gene bestimmen über den Verlauf des Lebens – und für Schrödinger sind sie auch auf Atomebene betrachtet zu klein, um Ordnung über Statistik schaffen zu können. Hier herrscht Ordnung, bevor die durch Normalverteilungen geschaffen werden kann.

Die Ordnung der Physiker ist für Schrödinger statistische Gesetzmäßigkeit, die durch Wiederholung aus Unordnung entsteht. Im Gegensatz dazu folge Leben dynamischer Gesetzmäßigkeit, also einer fortschreitenden Entwicklung, die Ordnung aus Ordnung schafft. Hier läuft eine Mechanik ab – die Schrödinger nicht religiös oder mystisch betrachtet. Er stellt nüchtern fest: Leben folgt physikalischen Gesetzen, die wir noch nicht kennen.

Schrödingers Überlegungen in „What is Life“ und „Mind and Matter“ sind damit mit mehrfacher Hinsicht aus naiv wissenschaftlicher Perspektive neuartig und vielleicht sogar befremdlich: Physik, die Alleserklärer-Wissenschaft, stößt oft und schnell an ihre Grenzen. Wissenschaftliche Neutralität und methodische Reinheit gibt es nicht; Wissenschaft und Wissenschaftler sind immer Teil der Beobachtung und damit auch ihr eigener Gegenstand. Und letztlich: Das ist kein Manko, das es auszuräumen gälte, weil es nicht ausgeräumt werden kann. Es ist eine Tatsache, die akzeptiert werden muss und die für ein klareres Bild wissenschaftlicher Methoden und Prozesse gilt.

In den Jahrzehnten seit Schrödingers Schriften sind ähnliche Gedanken oft und aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Intentionen oder Problemen im Blick formuliert worden.

In der Geschichtswissenschaft postulierte Clifford Geertz die teilnehmende Beobachtung als Methode der Feldforschung – und gilt damit als Wegbereiter der Postmoderne. Seine Grundidee: Der Beobachter kann sich nicht aus dem Spiel nehmen und so tun, als wäre er nicht da. Also soll er offen Teil der Methode sein. 

David Bloor legt in seine Strong Programme der Wissenssoziologie dar, dass Rationalität allein kein Königsweg zur Erkenntnis ist. Im Gegenteil: Alle Arten von Einflüssen, rationale und irrationale, wünschenswerte und nicht wünschenswerte haben Einfluss auf aktuelle Methoden und sind immer vorhanden. Es gibt keine reine, unbeeinflusste, ausschließlich rationalen Gesichtspunkten gehorchende Methode, die uns zu sicherer Erkenntnis führt, wenn wir sie nur unbeeinflusst lassen. 

Bruno Latour stritt oft und viel mit David Bloor und lässt sich doch auf recht ähnliche Ergebnisse kondensieren: Wissenschaft existiert nicht im luftleeren Raum. 

Karin Knorr-Cetina benannte ein ganzes Buch nach der Erkenntnis, dass Erkenntnis Fabrikation ist.

Ich habe noch gar keine ausdrücklich postmodernen Ansätze erwähnt, dennoch galten all diese Konzepte immer wieder als aufgeweichte Ergebnisse schwammiger Sozialwissenschaften, die in unversöhnlichem Gegensatz zu „echter“ „exakter“ Wissenschaft, also in erster Linie zur Physik, stehen. 

Mit der Idee, dass Rechnen und Messen nicht alles (und auch selbst vorrangig Konvention) ist, ist viel Unfug getrieben worden. Mit Kritik an dieser Idee ebenso. Und ich bin überzeugt, dass die wenigsten sehr lauten Kritiker angeblicher postmoderner Antiwissenschaftlichkeit Schrödinger oder Heisenberg gelesen haben.

Schrödinger liefert auch ganz beiläufig Feststellungen, die je nach persönlicher Präferenz als Vorläufer oder Kernaussagen von Relativismus, Konstruktivismus, Strukturalismus oder anderen grundsätzlich pragmatischen Wissenskonzeptionen gesehen werden könnten.

Einige davon: 

Theorien der Physik sind immer relativ, weil sie immer von grundlegenden Annahmen abhängig sind. Diese Annahmen sind keine Selbstverständlichkeiten. Sie sind erklärungsbedürftig und müssen thematisiert werden können, wenn wissenschaftliche Ergebnisse bewertet werden oder zu konkreten, etwa politische Entscheidungen führen sollen.

Unser Ego ist unser Weltbild. Wir können weder hinter das eine noch hinter das andere, und wir können das Ego, also uns selbst, nicht aus der Beobachtungssituation nehmen. Sonst sind wir nämlich nicht mehr da und wissen gar nichts.

Das Ich ist letztlich nur eine Leinwand, auf der Daten gesammelt werden. Es ist ebenso abhängig von seinen Erfahrungen, wie die Erfahrung vom Ich abhängig sind. Denn ohne das Ich in der Gleichung gäbe es auch diese Erfahrungen nicht.

Was bedeutet das vereinfacht und auf den Punkt gebracht: Wer von Objektivität, unverfälschter Rationalität und neutraler ideologiefreier Erkenntnis redet, zeigt damit recht wenig Erfahrung mit wissenschaftlicher Praxis und der Einordnung wissenschaftlicher Ergebnisse.

Jeanette Gusko, Aufbrechen

Menschen, die Umbrüche erlebt haben, sind flexibler, resilienter und offener, weil sie sich Alternativen nicht nur vorstellen können, sondern auch erlebt haben

Das ist eine relevante und richtige Ansage in einer Welt, die zusehends an Homogenität verliert, in der Eindeutigkeit die mit Gewalt hergestellte Chimäre nationalistischer, konservativer oder autoritärer Demagogen ist.

Gusko bemüht allerdings genau diese Eindeutigkeitschimäre als vermeintlich allgegenwärtigen Hintergrund, von dem sich Transformationskompetente abheben. 

Damit nicht genug: Transformationskompetente sind, geht es nach Gusko, in bestimmten Milieus zu finden. Es sind Ostdeutsche, die keine Ossis mehr sein wollen, Menschen mit Migrationshintergrund (auch in der zweiten und dritten Generation) und aufgestiegene Arbeiterkinder.

Fast allem, was Gusko über Transformationskompetenz sagt, kann ich zustimmen. Nur finde ich die Ausgangslage mit diesen klar abgetrennten Töpfen, vielleicht noch mit Gummiring abgedichtet wie Marmelade oder eingelegtes Gemüse zum Überwintern, völlig absurd. 

Scheidungen, Pleiten, Jobverlust, Alleinerziehendendasein, um nur ein paar Umbrüche aufzuzählen, sind Transformationen, die in der Mehrheitsgesellschaft offenbar watteweich aufgefangen werden. Im Gegensatz dazu beschreibt Gusko potenziellen Jobverlust in Transformationskompetenz-Milieus als existenzbedrohend.

Menschen ohne Migrationshintergrund oder Aufstiegsbiografie sind in Guskos Darstellung – unausgesprochen aber deutlich – Karriere- und Lebenswege vorgezeichnet, auch wenn es keine Anwaltskanzleien oder Arztpraxen von den Eltern zu übernehmen gibt, nicht einmal eine Greißlerei.

Die Eindeutigkeit der Mehrheitsgesellschaft ist eine Schimäre, die Eindeutigkeit der Herkunftsmilieus wundert mich allerdings ebenso. Es ist problematisch, in solchen Fällen auf die persönliche Geschichte zurückzugreifen. Gusko und ihre Gesprächspartner machen das, also sei es hier auch erlaubt. Mein Vater war Wissenschaftler, dann auch Universitätsprofessor, meine Mutter Volksschullehrerin. Klassisches Akademikerkind voller Akademikerprivilegien also. Mein Vater war der erste und einzige Studierte in einer Arbeiter- und Flüchtlingsfamilie, die im Zweiten Weltkrieg alles verloren hatte. Allerdings als Deutsche, die aus dem heutigen Polen nach der deutschen Grenze fliehen mussten. In der erweiterten Familie gab es keine Selbstständigen, Unternehmer oder Manager, lange Zeit nicht einmal Angestellte. Es gab auch niemand, den man in Rechts- oder Steuerdingen um Rat fragen, mit dem man Behördenwege abkürzen oder irgendwelche anderen Abschneider gehen konnte. Ich habe unausgesprochen gelernt, dass man nirgendwo dazugehört und eigentlich auch nirgends dazugehören will, dass man seine eigenen Dinge selbst regelt und dann am besten fährt, wenn man von niemandem etwas braucht. Ich hatte nie das Gefühl, arm zu sein, Kleidung von Bruder und Cousin war lange Zeit normal und mein Bruder und ich haben bis in das Alter von 17 oder 18 in Stockbetten in einem etwa zehn Quadratmeter großen Zimmer mit Fenster zum Gang geschlafen. Der Vater eines Schulfreunds war Eisenbahner, die ganze Familie konnte kostenlos mit der Eisenbahn fahren. Das waren Luxus und Privilegien. Urlaubsreisen gab es alle paar Jahre, die restlichen Sommer gab es Großeltern. Als Studienanfänger hätte mit eine akademische Karriere gefallen, aber niemand konnte mir sagen, worauf des dabei ankommt, auch mein Vater hatte als Physikprofessor keine Ahnung, was von Juniorphilosophen erwartet würde (heute, zwei abgeschlossene Studien später, weiß ich es noch immer nicht). Ich habe alle fünf Jahre den Job gewechselt, habe es dabei lange Zeit immer wieder gut erwischt, bis ich mal gestolpert und durch alle Netze gefallen bin und nach ein paar zähen Jahren heute ein besseres Leben hab. Ich bin weiß, männlich und hetero. Bin ich jetzt transformationskompetent oder bin ich Teil der gleichförmigen Mehrheitsgesellschaft?

Ich halte die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Umgebungen, Situationen und Möglichkeiten umgehen zu können, für weitaus relevanter als den Großteil aller Ausbildungen. Ich finde es befremdlich, bei Erwachsenen mehr auf eine vor dreißig Jahren absolvierte Ausbildung als auf Tätigkeiten zu achten (was nicht bedeutet, dass jetzt alle Ärzte wären. Aber mein Vertrauen würde da weniger durch Uni-Zeugnisse geprägt). Ich halte geradlinige Karrieren mit gleichförmigen Aufgaben in ähnlichen Branchen und stetig in kleinen Schritten wachsenden Verantwortungsbereichen für kritische Alarmsignale, wenn Menschen gebraucht werden, die neue Probleme lösen und diffuse Situationen klären können. 

Aber ich finde es völlig abstrus, Fähigkeiten zum Perspektivenwechsel, Kreativität in Betrachtungsweisen oder Problemlösungskompetenzen an Gruppenidentitäten festzumachen. Die Idee widerspricht in ihren formalen Grundzügen ihren eigenen Inhalten völlig. Mit ihrer These konstruiert Gusko eine große konsistente Einheitsgesellschaft wie AfD und FPÖ es nicht besser könnten, und setzt dieser mehrere in ihrer Homogenität nicht minder konstruierte Minderheitsgesellschaften entgegen, die auf wundersame Weise durch gemeinsame Züge geeint werden. Es ist ein wenig tragisch, dass Logik by Gruppendynamik heute ein anerkanntes und übliches Argumentationsmuster ist.

Und natürlich kann ich als Nicht-Ossi, als Teilzeit-Arbeiter:innenkind mit unsichtbarem ostpreußisch-slowakisch-österreichischen Migrationshintergrund nicht mitreden, weil ich nicht betroffen bin. Ebenso wenig wie ich, als im auf dem Land gelebt habe, im Wirtshaus mitreden konnte, weil ich auch nach zehn Jahren nicht „von hier“ war. Oder ebenso wenig wie ich je als Wiener mitreden konnte. Oder ebenso wenig, wie ich „Menschen wie mich“ unter den „Reichen und Mächtigen“ gesehen hätte. Und ich könnte auch nicht einmal sagen, ob ich jetzt im Vergleich zu meinen Eltern auf-, ab- oder sonst wohin gestiegen wäre. Ich verdiene gut, besitze wenig, und wäre selbst nach strengen sozialdemokratischen Phantasien nicht vermögenssteuerpflichtig. Ich habe jetzt schon einige Bücher solcher „Klassenreisender“ gelesen, aber ich hätte noch immer keinen Anhaltspunkt gefunden, wohin ich mich orientieren sollte. Liegt das daran, dass ich ein lebenslanges Jahresticket für Klassenreisen gebucht habe? Oder ist das ein Hinweis darauf, dass das eventuell doch ein untaugliches Konzept ist?