In den 70er Jahren, als dieses Buch erschien, war es revolutionär, heute ist es in Gefahr, in gefährliche Nähe zu Querdenkern und Esoterikern zu geraten: Karin Knorr Cetina stellt in ihrem Klassiker die Frage nach einer Anthropologie der Wissenschaft. Welche Rahmenbedingungen abseits von instrumenteller Rationalität bestimmen wissenschaftliches Arbeiten? Wie weit kann eine eigene wissenschaftlicher Rationalität isoliert werden, wie weit ist auch Wissenschaft Grundsätzen und Gewohnheiten alltäglichen Handelns unterworfen?
Knorr Cetinas Methode der Laboratory Studies setzt auf teilnehmende Beobachtung – so wie Anthropologen am Leben Indigener teilnehmen und wie es Bruno Latour teilweise noch heute praktiziert. Dazu gehört ein Theoriegerüst, dass sich auf Peirce und Quine stützt und Theoriebeladenheit von Beobachtung als Tatsache akzeptiert.
Daraus entwickelt Knorr Cetina eine Perspektive auf Wissenschaft, die jede Wissenschaft, auch technische Naturwissenschaften, als konstruktiv statt deskriptiv oder reflexiv kennzeichnet. Wissenschaftler schaffen Wissen und Fakten, sie entdecken sie nicht, sie schaffen Gesetzmäßigkeiten und Konstanten, die es ohne Wissenschaft und ihre Methoden nicht gebe.
Der Experimentator im Labor ist für Knorr Cetina eine der kausalen Ursachen seiner Ergebnisse. Wissenschaft ist eher eine Sache der Rechtfertigung als von Entdeckung: Als Ergebnis beschriebene Findings und Prozesse werden erklärt und in passende Zusammenhänge gestellt. Diese Zusammenhänge werden nicht schlicht vorgefunden, sie sind Ergebnis einer Wahl und diese Wahl kann besser oder schlechter gerechtfertigt werden.
Dabei spielt es eine große Rolle, wem gegenüber die Rechtfertigung greifen soll – wenn es wissenschaftliche Peers und Financiers überzeugt, ist es Wissenschaft. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit (im eigentlich von Frank intendierten Sinn) bestimmt, wer lukratives Publikum der Rechtfertigung ist. Unterschiedliche Kreise des wissenschaftlichen Publikums bestimmen, wie nachhaltig sich Erkenntnisse etablieren (das hat auch Ludwik Fleck beschrieben).
Das steht im Gegensatz zu klassischen Idealbildern wissenschaftlicher Prozesse. Im Idealbild von Wissenschaft legen ForscherInnen Fakten frei und nähern sich so der Wahrheit. Das ist ein geradliniger Prozess, der von allerhand Störfaktoren beeinflusst werden kann, sich aber geradezu zwangsläufig vollzieht, wenn diese aus dem Weg geräumt sind. Schwächen dieser Annahme hat David Bloor mit seinem Strong Programme der Wissenssoziologie dargelegt. Knorr Cetina legt nach. Sie zieht die Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit von Richard Merton in Zweifel: Skepizismus, Desinteresse im Sinn von Unvoreingenommenheit und Kommunismus im Sinn uneingeschränkten Teilens und Veröffentlichen von Erkenntnissen sind nicht die Leitlinien wissenschaftlicher Arbeit.
Die Rationalität von WissenschaftlerInnen ist vielmehr opportunistisch: Sie orientiert sich an Gegebenheiten und Gelegenheiten. Erfolg ist in der wissenschaftlichen Arbeit relevanter und effizienter als Wahrheit. Bestätigte Hypothesen, reproduzierbare Experimente – das sind Kennzeichen des Erfolgs. Über Wahrheit sagen diese Ereignisse noch nichts aus.
Relevanz der eigenen Arbeit wird mit literarischen Techniken inszenziert. Dazu analysiert Knorr Cetina wissenschaftliche Papers in ihren verschiedenen Versionen bis zur final publizierten und weist nach, wie Begründungen im Verlauf der Finalisierungen reduziert und eliminiert werden und dadurch die vertretenen Hypothesen und Methoden mehr und mehr als selbstverständliche oder einzig mögliche Wahl etabliert werden.
Transepistemische und transwissenschaftliche Komponenten der wissenschaftlichen Arbeit schließlich stellen das Ideal des Kommunismus infrage: WissenschaftlerInnen kämpfen um Ressourcen und Positionen und brauchen beides, um ihre Arbeit fortsetzen und ausbauen zu können. Das sind keine Störfaktoren des wissenschaftlichen Prozesses, sondern notwendige Bestandteile – so wie die Suche nach einem bessern Mikroskop oder einem effizienteren Algorithmus.
Wissen ist fabriziert – und das ist keine Schwäche oder Schwächung von Wissenschaft. Diese Einsicht stärkt des wissenschaftlichen Prozess und die Perspektive auf Wissen selbst als Prozess, nicht als Produkt. Wissen ist in Bewegung und steht immer in Beziehungen. Das ist eine pragmatische und konstruktivistische Perspektive, die weitaus dynamischere Beziehungen als Korrespondenz oder Konsistenz als Relevanzkriterien ansetzt. Das bedeutet auch: Es gibt viele verschiedene Gründe, warum etwas als wahr oder wissenschaftlich relevant angesehen werden kann. Und nicht alle dieser Gründe sind immer offenbar und für jedermann nachvollziehbar; sie entsprechen oft nicht dem ideal neutraler wertfreier unbeeinflusster Neutralität.
Diese pragmatische Wahrheitssicht ist durch Technowissenschaften zuletzt etwas in den Hintergrund geraten. Wo mehr gerechnet wurde schien es, als wäre auch Wahrheit eine Frage korrekter Rechenvorgänge und damit eindeutig und für alle nachvollziehbar.
Gerade für Technowissenschaften ist es aber jetzt um so wichtiger, zweck- und kontextorientierte Konzepte von Wissenschaft und Wahrheit zuzulassen und zu verstehen. Wie sonst sollen Daten interpretiert werden können, sie sollen Algorithmen beurteilt werden können, wie sollen Fortschritte von Machine Learning eingeschätzt werden können? Abbildungs- oder entdeckungsorientierte Wahrheits- und Wissenschaftskonzepte ergeben keinen Sinn mehr, wo gerechnet, entschieden, berechnet und programmiert wird.
Überall dort, wo Technik eine relevante Rolle spielt, ist pragmatischer Konstruktivismus die angemessene Sicht auf Wissenschaft und Wahrheit.