Blättern in Paralleluniversen

Blättern in Paralleluniversen

Ich bin meiner Neugier erlegen und habe mal in den intellektuellen Boulevard bei Pragmaticus und Weltwoche geblättert.

Sie begegnen den Neugierigen öfters auf Twitter, man hört von dem einen oder andere Affront, im eigenen Alltag sind sie aber völlig irrelevant: Neokonservative Blätter wie Pragmaticus oder Weltwoche tragen die intellektuelle Nase hoch. Aber was ist dran? Neulich in der Bahnhofsbuchhandlung bin ich meiner Neugierde erlegen. Ich musste mal in die Horte der Cancel Culture-Kritik schnuppern. 

Es sind ja alles kluge Leute. Es verwundert allerdings, wenn in Leitartikeln wiederholt betont wird, wo die Wahrheit zu finden sei. Nämlich genau hier. Im Pragmaticus schreiben Expertinnen „unverfälscht“, erklärt Andreas Schnauder. Und die Weltwoche tritt gar an, um die „Wogen des Wahnsinns“ in der Welt zu glätten, lässt uns Roger Köppel wissen. Das ist interessant. Beide verschreiben sich also der Agitation. Insbesondere der Pragmaticus, der ExpertInnen den Vorrang gegenüber JournalistInnen einräumt, verabschiedet sich damit von der Idee der analysierenden Berichterstattung. Da schreiben Think Tank-Mitarbeiter über Gaza oder über Zinsen und bringen damit natürlich eine Agenda ins Blatt, ein Pro, das großzügig auf sein Kontra verzichtet. Man kann das machen, das ist nicht unseriös, reine Pro-Kontra-Gegenüberstellungen sind ebenso vorhersehbar langweilig und reden öfter aneinander vorbei als miteinander – aber man sollte es nicht Journalismus nennen. Wer sich mit solchen Texten, die etwa so vorhersehbar spannend sind wie ein Fernsehabend mit Schlagerrevue (gibts sowas noch?), unterhalten möchte, kann das gerne tun. Viele schätzen ja die Vorhersehbarkeit.

Manchmal verwundern aber kognitive Dissonanzen. Die aktuelle Pragmaticus-Ausgabe etwa stellt sich dem Thema Verbote. Da werden Freiheitsbilder heraufbeschworen, da sind Essverbote in öffentlichen Verkehrsmitteln Akte der Knechtschaft. Gestern im Zug neben mit hat eine Gruppe Schüler übelriechende panierte Klumpen von KFC aus großen Eimern gefuttert, Helden des Freiheitskampfes also, denen man dereinst Denkmäler setzen wird. Da wird das Hinwegsetzen über Verbote von jenen gefordert, die zugleich auf Integration pochen. Mit dem 911er mit 200 Sachen über die Autobahn brettern ist ok, bei der Hochzeitsparty mit der Schreckschusspistole in die Luft ballern ist Zeichen mittelalterlicher Rückständigkeit. Gehört verboten.

Da beanspruchen „Kulturphilosophen“, das „gesamte Panorama“ westlicher Geisteshaltungen über die Jahrhunderte im Blick zu haben und beklagen eine schleichende Moralisierung – klar, vor ein paar Jahrhunderten gaben das nicht, da haben wir alles kühl und rational durchdiskutiert mit Feuer und Schwert.

Coronaverbote waren schlimme Eingriffe in die Freiheitsrechte und nur mal ein Vorgeschmack auf die heraufdräuenden Klimaverbote. Klimawandel kann übrigens nicht ganz so schlimm sein: Schließlich haben Eisbären auch die Eem-Warmzeit von 130.000 Jahren überlebt, lernen wir auch in dieser Ausgabe.

Am deutlichsten abgelehnt werden einer Umfrage im Heft zufolge im übrigen Verbote beim Autofahren, egal ob Tempolimits oder Verbrenner-Aus, gefolgt von Drogen- und Alkoholverboten. Wenn der moderne Freiheitskämpfer also seinen KFC-Kübel im Zug aufgegessen hat, raucht er einen Ofen und fährt betrunken Auto.

Immer noch besser, als kognitiv invasivem Nudging zum Opfer zu fallen. Auch davon lernen wir im Pragmaticus. 69% befragter Menschen fühlen sich übrigens von Medien bevormundet; diese wollten Meinungen durchsetzen oder aufzwingen. Bevormundend, btw, finde ich die „Conclusio“-Boxen am Ende des Artikels, die noch einmal zusammenfassen, was man jetzt wirklich aus dieser Story mitnehmen soll – um Menschen vor dem anstrengenden Missverständnis zu bewahren, eigene Schlüsse zu ziehen. In den Headlines der Conclusio-Boxen steht auch was von „Fakten“. Dazu muss man sagen: Fakten vertragen sich nicht mit dem häufig dort verwendeten Konjunktiv. „Fakten“ im Konjunktiv sind Hypothesen. Das ist auch nichts schlechtes. Aber doch etwas deutlich anderes.

Und die Weltwoche? Wenn Roger Köppel nicht gerade Wogen des Wahnsinns in der Welt glättet (wenn das im übrigen kein bevormundendes investives Nudging ist …) ist er offenbar sehr fleißig. Eine ganze Reihe von Storys und Interviews in diesem Heft sind von ihm selbst. Dazu kommen noch einige Essays und Kolumnen von Russland-Verstehern, Analysten im wilden Infight mit Strohmännern, Vernunftapologeten, auf die, blättern man einmal um, Interviews mit Wirtschaftsastrologen folgen, die Markenhoroskope erstellen, und, Achtung, auch Tom Kummer führt hier wieder Interviews. (Für die Nachgeborenen: Kummer war der Interview-Star der späten 90er Jahre, dem Hollywood und der Rest der Welt intimste Geheimnisse für das Magazin der Süddeutschen verrieten. Nur hatten viele dieser Interviews nie stattgefunden. Kummer verschwand für einige Jahre. Chefredakteur des SZ-Magazins war damals, dann nicht mehr, Ulf Poschardt.)

Weltwoche-Kolumnisten befleißigen sich gern einer ausufernd adjektivüberladenen Sprache und liefern Takes, zu denen Menschen außerhalb ihres Gedankenuniversums erst mal nachrecherchierten müssen. Teilweise, weil ich noch nie von der Sache gehört habe, teilweise, weil die vertretene Perspektive so schräg ist, dass sie dazu herausfordert, sich neue Fakten zu verschaffen. So wird etwa Serbien als technologisches und soziales Fortschrittsland des Balkan beschrieben. Hatte ich so noch nicht gehört. Ein andere Kolumnist freut sich über eine ganze Schulklasse ohne Handys, „und alle verstanden Schweizerdeutsch“. Und es wird gefeiert, dass das kritische Buch der Autorin Michèle Binswanger über die von einem Kollegen missbrauchte Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin erscheinen konnte. Binswanger wurde vor einigen Monaten erst wegen der Verleumdung von Spiess-Hegglin verurteilt; zwischen der Weltwoche und Spiess-Hegglin gab es ebenfalls einige Rechtsstreitigkeiten.

Und auf all dieses Durcheinander folgt ein schöner Kultur- und Rezensionsteil, den ich ohne die Zeitung davor vielleicht sogar öfter lesen würde.

Beide Magazine beklagen immer wieder Welten ohne Halt und sie versuchen, diese aufzuhalten. Beim Pragmaticus ist hypostasierte Vernunft wie aus dem Cancel Culture-Kritik-Lehrbuch das Gegenmittel der Wahl. Köppel beklagt überhaupt öfters ein beerdigtes Christentum.

Es ist schön und manchmal beneidenswert, wenn man sich mit solchen Retrospektiven beschäftigen kann. Es ist verständlich, dass Nostalgie ihr Publikum findet. Es ist auch erschreckend, dass sich diese Spielart von Medien weniger Zukunftssorgen machen muss als andere Formate.

Sowohl der Pragmaticus als auch die Weltwoche erfüllen die Funktion, LeserInnen einen sicheren Hafen zu bieten. Sie ordnen ein, urteilen, verurteilen – auch und gerade wenn sie beanspruchen, das Gegenteil zu tun. Sie bieten erwartbare Meinungen in überschaubarer Zahl. Es ist eine Art intellektueller Boulevard, der weit ausholt und dann doch immer wieder bei den gleichen Erwartbarkeiten landet.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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