Mehr Bürokratie!

Mehr Bürokratie!

Über Bürokratie beschwert man sich gerne. Das ist ein Fehler – denn nichts bremst Ideen mehr als die Möglichkeit, sie gleich umsetzen zu können.

Weg mit den Bremsern, der Trägheit, den Paragraphen und Formularen – diesen Ruf hören wir tausendfach von Innovatoren, Unternehmern, Freigeistern, Politikern, Gründern, Versicherungsnehmern oder Bankkunden, ja sogar von Beamten. Jeder auch noch so kleine Berührungspunkt mit Bürokratie scheint diesen Reflex auszulösen, es ist ein Minimum, ein kleinster Rückzugsort gemeinsamen Verständnisses, etwas, das überall und von allen selbstverständlich abgenickt wird – damit man weitermachen kann wie bisher.

Ich habe Einwände. 

Ein erste Einwand ist: Wenn viele Leute seit langem einig sind, wie ein Problem zu lösen sei, wenn sie einander dessen wieder und wieder  versichern, dann sind Zweifel angebracht, ob diese Lösung denn eine Lösung ist. Das Problem zeigt sich offenbar unbeeindruckt davon. schlimmer noch: Möglicherweise trägt diese Lösung dazu bei, das Problem zu reproduzieren. Redundanz ist ein starker Überlebensfaktor.

Ein zweiter Einwand könnte sich mit den Vorzügen von Bürokratie befassen: Auch Freigeister wie Hanna Arendt sahen in Bürokratie einen Meilenstein der Demokratie, Bürokratie als Herrschaft des Niemand, der über Vorschriften und hinter Formularbergen regiert, schützt vor Willkür. Bürokratie liefet Antworten auf Fragen, die nicht gestellt wurden und schafft Klarheit.

Das befreit.

Ich möchte aber aus eine ganz anderen Perspektive und mit anderen Argumenten die beliebte Verdammung der Bürokratie infrage stellen. Denn was täten all jene Freigeister, die bürokratische Hürden beklagen, die Stolpersteine in ihrem Weg sehen,  wenn es diese Bremsklötze und Hindernisse nicht gäbe? Sie hätten keine Zeit mehr für ihre Klagen, keinen Leerlauf in den Leerräumen zwischen Regeln und Paragraphen – denn sie müssten in einem fort all das umsetzen, woran allein die Bürokratie sie hindert. Sie fassen einen Plan – sie schreiten zur Tat. Eine schnelle Geschäftsidee – schon umgesetzt. Optimierungspotenzial erkannt und gleich genutzt.

Über zu viel Bürokratie klagen, eine Ende der Bürokratie fordern und das goldene Zeitalter der Postbürokratie verheißen – das macht nur für jene Sinn, die unter dem Schutzmantel der Bürokratie Freiräume finden. Bürokratie ist das notwendige Sicherheitsnetz, das eigentliche Sprungbrett für InnovatorInnen, die neue Pläne am laufenden Band ankündigen – und sich darauf verlassen können, dass irgendein Controller-Bürokrat Zweifel anmelden und nach bedächtigerer Vorgangsweise rufen wird. Alle Entscheidungen fällen sich leichter, wenn gewiss ist, dass sie ohnehin von Bedenkenträgergremien ab- und rundgeschliffen werden. Und weitreichende Pläne sind schnell gefasst, wenn die Weitergabe an eine Organisation statt der Sorge um die Umsetzung Spielraum für das Reifen der nächsten Pläne schafft.

Die Klagen über Bremsen und Hürden, die Verheißungen der besseren Welt nach dem Ende dieser Hindernisse sind Hohn für jene, die nicht in den Genuss der bremsenden Sicherheit kommen. Wie schwer ist es, Entscheidungen zu treffen, wenn man weiß, dass niemand ihnen widersprechen wird! Sie gelten dann, sofort, und sie zeigen Wirkung. Wie vorsichtig und gut überlegt muss ein Plan sein, wenn man weiß, dass man ihn auch selbst umsetzen muss! Wenn man außerdem weiß, dass für die nächste Zeit die Entscheidung für diesen einen Plan die Entscheidung gegen alle anderen Pläne ist – denn es bleiben dann keine Zeit und keine Spielräume mehr für andere Pläne.

Niemand entscheidet also zögerlicher als die, die frei von jeder Bürokratie sind. Sie verfügen über kein bremsendes Sicherheitsnetz, das sie vor ihrem eigenen Elan schützt. Sie sind sich selbst verantwortlich und müssen mit sich selbst verhandeln, welche Pläne mit welcher Priorität abgehandelt werden. Sie müssen sich selbst eingestehen, Pläne und Ziele nicht ausreichend verfolgt zu haben. Und sie müssen mit sich selbst verhandeln, wann es an der Zeit ist, von Plänen abzulassen und sich neu zu orientieren – sie sind Richter über ihr eigenes Scheitern. Die Freiheit, sich für alles entscheiden zu können, gepaart mit dem Anspruch, Entscheidungen auch umzusetzen, schränkt enger ein als die sprödeste Bürokratie.

Es sei denn, man begnügt sich mit dem schalen Hauch heißer Luft. Auch das kann unterhaltsam sein, manchmal sogar zufriedenstellend – aber diese Haltung trägt Züge eines performativen Widerspruchs, mit dem es sich aber gut leben lässt: In der Umgebung der Bürokratie-Gegner ist es für eine gelungene Macher-Attitüde ausreichend, oft und deutlich genug zu sagen, dass man diese Attitüde für sich beansprucht.

Bürokratie ist ein unverzichtbarer Katalysator für Ideen und Innovation. Wer in Bürokratie ein ernstzunehmendes Hindernis sieht, hatte entweder noch nie eine Idee – oder kam noch nie auf Idee, dass man Ideen auch selbst umsetzen könnte.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

Sonst noch neu

Oswald Wiener, Probleme der Künstlichen Intelligenz

Maschinen gelten möglicherweise nur als intelligent, weil wir uns selbst für intelligent halten. Vielleicht ist auch menschliche Intelligenz aber nur ein flacher Formalismus. Ein Ausweg kann die Konzentration auf Emergenz statt Intelligenz sein. Aber auch die Frage, ob in einem Prozess Neues entsteht, ist nicht trivial.

Onur Erdur, Schule des Südens

Biografische Wurzeln in Nordafrika als prägende Elemente postmoderner Theorie – und als Ausgangspunkt zu einer Verteidigung von Postmoderne und Dekonstruktion gegen mutwillige Missverständnisse und akrobatische Fehlinterpretationen.

Medienfinanzierung: Last Exit Non Profit

Non Profit-Journalismus entwickelt sich als neuer Sektor auch in Österreich, Stiftungen unterstützen in der Finanzierung. Hört man den Protagonisten zu, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass hier abgehobener, belehrender Journalismus gemacht wird, den man eben lieber macht, als ihn zu lesen.

Yuval Noah Harari, Nexus

Prinzip Wurstmaschine: Harari verarbeitet vieles in dem Bemühen, leichtfassliche und „originelle“ Einsichten zu formulieren und wirkt dabei fallweise wie ein geheimwissenschaftlicher Esoteriker. Auch bei Extrawurst weiß man nicht, was alles drin ist – aber das Ergebnis schmeckt vielen.

Meine Bücher