Geoffroy de Lagasnerie, Die Kunst der Revolte

Wenn wir etwas kritisieren, bestätigen wir es. Wenn wir etwas bekämpfen, erkennen wir dessen Macht an. Wenn wir nach den Regeln spielen, dann können wir zwar gewinnen, aber wir können die Regeln nicht ändern. Also müssen wir uns, wenn wir dagegen sein wollen, eine neue Position suchen, von der aus wir handeln können. Das ist, im verkürzten Schnelldurchgang, der Gedankengang in Geoffrey de Lagasneries „Revolte“.

Revolutionen sind mit Anführern verknüpft mit Heldenfiguren, denen man Denkmäler setzen kann. Das macht es leichter, Geschichte zu erzählen. Das macht es aber auch schwieriger, eine gemeinsame Sache zu finden – überall spielen persönliche Interessen eine Rolle. Und es macht die Polizeiarbeit leichter: Der personifizierte, identifizierte Revolutionär ist leichte Beute.

Aufstehen, für etwas einstehen – das verändert den Rahmen nicht. Und es macht haftbar.

Der mündige Bürger oder die demokratische Citoyenne sind ebenfalls an konkrete Identitäten und damit verbundene Rechte geknüpft: Sie dürfen wählen, Volksbegehren starten, sich anderer demokratischer Institutionen bedienen, weil sie identifiziert sind, weil sie Staatsbürgerin und Staatsbürger sind. Das verschafft ihnen Rechte, aber nicht zuviele. Rechte zu haben, bedeutet zugleich, diesen gehorchen zu müssen – denn sonst sehen eben diese Rechte auch Konsequenzen vor.

Und selbst wer sich außerhalb dieses Rahmens stellen möchte, akzeptiert diesen damit. Ziviler Ungehorsam als Form der politischen Äußerung bezeichnet sich als Ungehorsam und anerkennt also, dass das, was er gerade tut nicht rechtens ist. Damit sind die Ungehorsamen auf die Duldung der Gehorsamen und jener, die Gehorsam verlangen, angewiesen. Denn das Recht, sich außerhalb des Rechts zu positionieren oder gar das Recht zu ändern, behält sich der Staat vor.

Politik, schreibt Lagasnerie, “ist Sache der Besetzung eines Medien- oder eines physischen Raumes. Dieses Einbringen des Selbst, des eigenen Namens, der eigenen Stimme, des eigenen Körpers, diese „Veröffentlichung“ seiner selbst als kämpfendes Subjekt fungiert als Definition der politischen Handlung. Der Figur des Staatsbürgers, der sich ausdrückt, der Forderungen stellt, der demonstriert, der sich schämt, wird so stillschweigend die Figur des Individuums entgegengesetzt, das flieht oder schweigt, das schweigend die Ordnung der Dinge akzeptiert, das heimlich das Gesetz übertritt.“
Dieses Grundprinzip von Politik macht Menschen haft- und angreifbar, und das ums-mehr, je weniger sie in der formellen Politik verankert sind. Und es schiebt andere Formen des Protests aus dem Bereich des Politischen, es grenzt sie aus und unterminiert so ihre Legitimität und Wirksamkeit.

Nachhaltige und aktive Anonymität als Revolutionspotenzial

Protest braucht also auch Mittel, andere Positionen einzunehmen, am Beispiel von Protest lässt sich zeigen, dass auch die Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften in Frage gestellt werden muss. Allerdings nicht etwa, um einzelne ausschließen und ihnen dadurch Rechte absprechen zu können, sondern um dem, wogegen revoltiert wird, auf Augenhöhe entgegentreten zu können.
Lagasnerie zieht zur Illustration seiner Überlegungen Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning heran. Allen dreien wird Hochverrat vorgeworfen. Und alle drei haben ganz deutlich Machenschaften aufgezeigt, die nicht in Ordnung sind, die aber nach den Gesetzen des Staates, der sie begangen hat, nicht hätten enthüllt werden dürfen.
Alle drei haben ursprünglich Anonymität genutzt, um sich der Verfolgung zu entziehen, mussten dann aus unterschiedlichen Gründen in die Öffentlichkeit.
In diesen Formen des Protests sieht Lagasnerie neue Möglichkeiten der Revolte. Es sind Wege, die an Herrschaftsverhältnissen und Hürden vorbei Probleme thematisieren und Widerstand ausüben können. Anonymität, erklärt Lagasnerie, demokratisiert die Zugangsbedingungen zur Demokratie, und sie ist eine Technik zur Aufhebung von Unterwerfung.

Noch haben wir damit aber kein neues Konzept, dass Formen der Revolte effizient ersetzt. Anonymität ist oft unwirksam, weil der Kontext und die dadurch vermittelte Autorität fehlen. Anonymität muss Energie aufwenden um anonym zu bleiben und kann nicht alle Kommunikationsgelegenheiten nutzen. Netzwerke wie Wikileaks deuten erste neue Möglichkeiten an – aber sie sind noch kein reproduzierbares und unstrittiges Konzept.
Vielleicht ist auch Anonymität nicht der entscheidende Punkt. Lagasnerie führt auch Thoreau an, der nachdem er mit seiner Gesellschaft unzufrieden war, Wege suchte, einer Gemeinschaft, der er nicht ausdrücklich beigetreten war, wieder auszutreten. Da half es aber weder, sich loszusagen oder Steuern zu verweigern – Thoreau konnte ein paar Nächte im Gefängnis verbringen, aber er blieb ein Bürger seiner Welt …

Afrikanische Zeitungen

Adrien hatte alles im Griff. Während der knapp zwei Wochen, die er uns unterwegs in Benin begleitete, konnte ihn nichts überraschen oder nervös machen. Bis ich ihn nach Zeitungen fragte …

Wo auch immer ich reise, kaufe ich auch Zeitungen. Recht viele davon kann ich lesen, manche kaufe ich der Gestaltung halber.
Und gerade in den Ländern Afrikas sind die Zeitungsmärkte oft sehr unterschiedlich ausgeprägt. Benin war lange eine Zeit Vorzeigedemokratie (bis zuletzt die Wahlen mit finanziellen Hürden für kleine Parteien erschwert wurden; mehr dazu gibt es im Podcast auf Brandrede). Im Zeitungsmarkt hat sich das nicht niedergeschlagen.
Wir haben drei Tage lang auf Märkten, bei kleinen Händlern und in Shops nachgefragt, wurden immer weitergeschickt und ich war bereit, aufzugeben. Die Zeitung, die Adrien mir dann stolz in die Hand drückte, war knapp eine Woche alt, was Adrien nicht störte (mich auch nicht), fühlte sich an wie hektographierte Unterlagen, die in den 70er Jahren an Volksschulkinder verteilt wurden, hatte ein sehr aktionistisches Layout – und enthielt unter anderem wortwörtlich von Russia Today übernommene Meldungen zu Putins Neujahrspressekonferenz. (Benin hatte mal eine sozialistische Phase, die allerdings mit Ende der 8ßer Jahre auch zu Ende war.)

Benin

Ganz anders in Uganda. Hier sind Zeitungen präsent, werden von fliegenden Händlern in Verkehrsstaus verkauft, gehören zum Angebot von Straßenhändlern und werden gelesen und diskutiert.
Journalisten sind bekannt und schreiben Bücher – und auch die findet man bei Händlern oder sogar in Tankstellenshops.
Uganda wird zwar seit über dreißig Jahren vom gleichen Präsidenten regiert, der manchmal sehr beleidigt auf Zeitungskritik reagiert und die Redaktionen angriffiger Boulevardblätter auch fallweise von der Polizei einschüchtern lässt. Zeitungen sind aber keineswegs verstummt.

Uganda

Nochmal anders im benachbarten Ruanda. Dort spielen Zeitungen wieder kaum eine Rolle im öffentlichen Leben. Die einzige, die man gelegentlich zu Gesicht bekommt, ist ein Regierungsblatt – und interessiert niemanden. Sie wird eher als Verpackungsmaterial benutzt.

In Togo, das nicht gerade demokratisches Musterland ist, blüht ein bunter Boulevard, in Ghana sind Politik und Medienlandschaft sehr lebendig.

Togo

Ghana

Ich arbeite noch an dieser Sammlung …

Und hier gibt es eine Sammlung zu afrikanischer Gegenwartsliteratur.