Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe

Slavoj  Žižek hat in letzter Zeit wohl eher nicht Simone de Beauvoir gelesen. Sonst wäre ihm erinnerlich gewesen, welche große Rolle Sex und Sinnlichkeit schon in den frühen Zeiten des Feminismus gespielt haben. Eigentlich hätte er nur die letzten Seiten durchblättern müssen, um einer Peinlichkeit wie dem Rant über die Entmystifizierung der Vulva durch Feminismus entgehen zu können. Auf diesen letzten Seiten fasst Simone de Beauvoir nach über tausend Seiten noch einmal zusammen, was Freiheit bedeutet, wie sie sich von Gleichheit unterscheidet und wie entscheidend dabei die Spielräume der handelnden sind. Die freieste und tatkräftigste Frau kann das faszinierende und verlockende Wesen sein, den Mythen gerecht werden und die Träume erfüllen, die mancher Mann hegt. Wenn sie es will. Und wenn sie es für ihn will. Und wenn sie es gerade jetzt will. – Damit ist auch noch nichts darüber gesagt, ob sie das soll, und schon gar nicht, ob sie das für alle soll.

Beauvoirs „Le deuxième sexe“ ist eines von der Art Bücher, die man heute kaum noch machen kann. Eine gelehrte, gebildete Frau nimmt sich ein Thema vor und bearbeitet es auf über tausend Seiten aus verschiedensten Perspektiven und in einem Zeithorizont, der praktisch die gesamte nachvollziehbare Menschheitsgeschichte einschließt. Es ist ein im besten Sinne ausschweifendes Buch, es ist interdisziplinär, vermutlich bevor es das Wort gab.  Das Buch spürt Ausschließungsmechanismen nach, die erklären, wie durch die Erzählung aus einer anderen Perspektive ein fremdes Bild entsteht. Das Bild der Frau ist eine männliche Vorstellung – dem spürt Beauvoir aus kultureller, historischer, wirtschaftlicher, psychologischer und soziologischer Perspektive nach.  Dabei geht sie fallweise auch hart mit Frauen ins Gericht: Autorinnen etwa spricht sie die ihres Erachtens notwendige Verachtung, Erfahrung, der schwarzen Humor ab, der für große Literatur notwendig sei (ok, das Buch erschien 1948, lange vor Sibylle Berg oder Elfriede Jelinek), Frauen hätten bisher ihr Potenzial verschwendet.

Befreiungsbestreben sieht Beauvoir als Energieverschwendung, Ablenkung und Beschäftigungstherapie, sofern sich diese auf das Erlangen von Gleichheit richten oder solange sie in Beziehung zu Männern und Herrschaft stehen.  Anstelle von Befreiung oder gar Gleichheit sollte Freiheit treten, und die muss mit Selbstverständlichkeit einhergehen: Die Abgrenzungen gegenüber Männern, die Gegenüberstellung von „freien“ und verheirateten Frauen, von Hausfrauen und arbeitenden Frauen – all das suggeriert noch immer Erklärungsbedarf, als müsste eine Frau rechtfertigen, warum sie nicht einem Bild entspricht, dass sie nicht selbst gezeichnet hat und das sie nicht für sich reklamiert hat. (Heute kann man das überdies in vielfacher Hinsicht auch auf Männer anwenden.)  Das einzig Misstrauen erweckende Moment ist Beauvoirs Begeisterung für kommunistische Gesellschaftsvisionen, in deren Lippenbekenntnissen sie wohl tatsächlich die Chance für eine formelle Freiheit der Frau sah. Dazu gibt es eine kurze, aber sehr klare Passage im Buch. In den 70er Jahren hat sich Beauvoir dann von kommunistischen Visionen abgewendet.

Beauvoir spricht viele Themen an, die in den folgenden Jahrzehnten weitgehend in der Versenkung verschwunden sind. So stellt sie beispielsweise fest, dass die Öffentlichkeit oft für Frauen feindliches Gebiet ist, egal ob die dunkle Straße, der bürgerliche Salon oder das Büro. Sie thematisiert Erotik und Passivität, unterschiedliche Erwartungen in der Partnerschaft und die absurde Belastung, der sich Männer aussetzen, die ihrer Ehefrau alles nehmen und daher alles für sie sein müssen. Es macht keinen Sinn, das Buch nachzuerzählen. Lest es; so sperrig es auf den ersten Blich wirkt, so lesenswert ist es. 

Eigentlich sollte „Le deuxième sexe“ Pflichtlektüre vor jeder erstmaligen Eheschließung sein, zumindest für Unter-35jährige.