Wer Bitcoin buchstabieren kann, ist Experte für alles: Viren, Spionage, erfüllenden Sex, Militärstrategie. Das lerne ich täglich auf LinkedIn und Twitter.
All dies Insiderwissen ist von großen Versprechen getragen: Bitcoin schafft Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Sicherheit, Souveränität – das unterscheidet Bitcoiner von altmodischen Münzensammlern. In der Nähe der Bitcoiner sind gern auch Menschen, die Dinge wie „Ich liebe Freiheit“ sagen. Ich verstehe manchmal nicht ganz, wovon und wofür digitale Währungen frei machen, wenn es letzten Endes immer darum geht, dass spicke Digitalwährungen besonders viel wert sind, sich also besonders gut in alte verachtete Papier- und Metallgelder umwechseln lassen.
Aber es ist ein grobes Missverständnis, rund um Bitcoin und Blockchain mehr verstehen zu wollen als die Informatik dahinter. Das wichtigste am digitalen Finanzexpertentum ist nämlich: Du darfst nie verstanden werden. Sobald du einen verständlichen und noch dazu im schlimmsten Fall eindeutigen Satz von dir gibts, bist du geächtet, musst in der Ecke stehen und wirst angehalten, deinen Mund mit Seife auszuwaschen.
Bitcoin ist für Insider.
Als Experte auf diesem Gebiet musst du stets mit der gleichen Präzision sprechen wie das Orakel von Delphi, dessen Sprüche großen Interpretationsspielraum lassen und die dann am beliebtesten sind, wenn gar nicht sicher ist, ob das Orakel überhaupt etwas gesagt hat.
Dabei kann ich mich ja gar nicht beschweren. Ich habe vor zwei Jahren mal eine Reihe von Coins gekauft. Da hatte ich doch mal zufällig etwas verstanden. Was, hatte nämlich ein Bitcoiner gefragt, was sagst du deinen Enkeln, wenn sie dir sagen: „Hättest du damals bloß einen Satoshi gekauft, dann hätten wir jetzt ein Leben in Saus und Braus und könnten zwischen Miami, Sansibar und Berlin hin- und her jetten.“
Gute Frage.
Ich habe ein paar Tage damit verbracht, in jede Coin, derer ich habhaft werden konnte, einen Euro zu investieren. Mein Portfolio ist jetzt ein farbenfrohes Schauspiel, herrlich anzusehen – wenn man ein Faible für Rot hat.
Ich habe natürlich Terra. Ich mochte den Crash, die kurzfristige Auferstehung und die mythisch-metaphysische Kombination der Kennzahlen „Wertentwicklung: +127,39%“ und „Wert: 0,0000€“. Aus Nostalgie für Pirate Bay-Zeiten habe ich auch BitTorrents gekauft. Nach ein paar Splits und Umreihungen habe ich jetzt über 5 Millionen davon – ohne auch nur einmal nachgekauft zu haben. Das nenne ich eine wundersame Vermehrung. Und ich bin glücklich, wenn mehr als 90 Prozent meines Portfolios weniger als 90% Verlust hingelegt haben.
Dabei habe ich viel gelernt über diese Freiheit, Souveränität und die Expertise, von der Krypta-Buben schwärmen. Ein paar Coins haben nämlich funktioniert. Die Gewinne habe ich zum Großteil rausgenommen. Ein Teil davon lag in Fondsparplänen und ist dort, gemütlicher als im Kryptowallet aber doch, langsamer geworden. Der Rest liegt auf einem Konto und schmilzt fröhlich mit der Inflationn dahin – aber er ist wenigstens noch da. Das ist auch nicht weniger als 0,0000.
Aufklärer sind nun viele: Corona-Leugner belächeln Schlafschafe, Qs Vertraute kennen geheime Wahrheiten, für deren Erkenntnis andere noch nicht reif sind. Impfgegner wünschen sich verlässliche und vertrauenerweckende Empirie, die wir bei weit riskanteren und alltäglicheren Dingen auch nicht haben. Kriegs-Experten und Militärstrategen sind ebenfalls gut informiert und sendebewusst.
Erklärer und Rationalisten dagegen wundern sich: Wie kann man trotz aller Fortschritte nur solchem Unsinn nachhängen? Wissen wir es nicht besser? Hat uns die Aufklärung nicht gelehrt, Fragwürdiges mit unserem Verstand zu prüfen und Logik und Fakten gelten zu lassen?
Superlativmänner lassen keinen Widerspruch gelten, können alles erklären und wissen alles besser – wie “Affen auf dem Rücken des Bärs”. Superlativmänner – diese schöne Wortkreation und das Bild des bärenreitenden Affen entstammen der Feder von Leopold Alois Hoffmann, der im späten 18. Jahrhundert in seiner “Wiener Zeitschrift” erbost gegen die Unsitten der Aufklärung ausritt. Anhänger der Aufklärung seien von Dämonen begleitet, der ihnen einrede, dass nichts zähle – außer dem Urteil ihrer eigenen Vernunft. Aufklärung sei allwissende Nichtwisserei, die Würden und Titel als Kindertand betrachte und die Jugend mit sich reiße, damit “Knaben und Mädchen Geheimnisse und Abscheulichkeiten der Onanie und der sinnlichen Wollust erfahren”. Aufklärung schließlich vermittle auch unangemessenes Selbstbewusstsein: “Seid stolz und übermüthig gegen Groß und Klein, denn dadurch erwirbst du Ansehen und Gewalt. Niemand ist ohnehin mehr als du, und weil du aufgeklärt bist, so darfst du mit Recht fordern, daß jedermann deine Einsichten respektire, und dir überall zugestehe, du seist klüger und weiser, als die ganze übrige Welt.”
Hoffmann selbst war allerdings auch nicht kleinlich, was die Einschätzung seiner eigenen Fähigkeiten betraf. Der Aufsatz, aus dem diese Zitate stammen, nennt sich stolz “Definitiv-Urtheil der gesunden Vernunft über Aufklärung und Aufklärerei” und erschien 1793.
Hängt hier ein Konservativer besseren Zeiten nach, kann jemand nicht mehr Schritt halten und neuen rasanten Entwicklungen rund um ihn nicht mehr folgen? Hoffmanns Geschichte dürfte Abwechslungsreicher gewesen sein. Er zog als junger Dichter von Böhmen nach Wien gab ein eigenes Wochenblatt für Predigten-Kritik heraus und war einer der jüngsten Freimaurer seiner Zeit – er wurde schon als nicht einmal 24jähriger in eine Loge aufgenommen.
In seinen “Wöchentlichen Wahrheiten für und über die Prediger in WIen”, legte Hoffmann aufklärerische Maßstäbe an Kirchenpredigten an und ritt damit eine Welle seiner Zeit, die ihn 1785 mit gerade mal 25 Jahren zum Professor für deutsche Sprache machte, 1790 wurde er als Professor für “Deutsche Sprache, den Geschäftsstil und die praktische Beredsamkeit” nach Wien berufen.
Für diesen Aufstieg mochten allerdings andere als wissenschaftliche und philosophische Fähigkeiten ausschlaggebend gewesen sein. Hoffmann, der mit Verlegern und Kollegen immer schon Kleinkriege um Honorare und nicht eingehaltene Versprechen geführt haben soll, hatte Kontakte zur Polizei geknüpft und sich als Spion, Konfident und Denunziant betätigt. Von Kaiser Leopold II, den Hoffmann in seiner WIener Zeitschrift über alle Maßen als gerechten und umsichtigen Weisen lobte, ist eine wenig schmeichelhafte Einschätzung überliefert: „Der Kerl ist ein Esel, ich weiß es; aber er leistet mir als Spion sehr gute Dienste.“
Hoffmann arbeitete auch nach dem Tod Leopolds weiter für die Polizei, verlor ohne mächtigen Vertrauten aber schnell an Einfluss und Ansehen, wurde als nur 33jähriger bei halbiertem Gehalt pensioniert und zog sich ins intellektuelle Exil nach Wiener Neustadt zurück.
Vom Aufklärer zum Denunzianten, vom Freigeist zum Reaktionär – das mag eine persönliche Wendung gewesen sein. Aber wen verfolgte Hoffmann mit seinem Zorn, gegen welche Eigenschaften richteten sich seine Argumente?
Die Feindbilder sind vielfältig.
Freizügigkeit, Verkommenheit und Zügellosigkeit sin ein großer Streitpunkt. Menschen leben nicht mehr nach traditionellen, bekannten, vorhersehbaren und kontrollierbaren Wertvorstellungen. Sie unterwerfen sich nicht mehr dem, was sich gehört. Das macht sie mitunter zu einer Bedrohung – vor allem für jene, die sich von Tradition und ihren Regeln beschützt gesehen haben.
Selbstüberschätzung, Rechthaberei und Egoismus sind andere Kritikpunkte. Die kritisierten Aufklärungsschwärmer sind von sich selbst überzeugt, kennen wenig Zweifel, haben ihre eigenen Interessen im Blick, vertrauen nur auf sich selbst, respektieren nur ihre eigenen Meinungen. Sie erfinden jeden Tag die Welt neu und erzählen anderen davon – ohne einen Blick darauf zu verschwenden, was die Welt schon über ihre Erkenntnisse weiß. Vielleicht ist ja nicht alles neu, aufregend und revolutionär, aber die Schwärmer kümmert das nicht.
Das Vertrauen, dass sie sich selbst entgegenbringen, lassen sie anderen nicht zuteil werden. Hoffmann wendet sich mit Zorn gegen ihren Skeptizismus, gegen sie Unsitte, alles zu hinterfragen, alles wissen zu wollen, sich mit Fragen zu beschäftigen, die andere schon geklärt und gelehrt haben. Wissensdurst ist ein Problem.
Ganz am Anfang seiner Polemik schließlich steht die Kritik des Widerspruchsgeists. Müssen sie denn immer zurückreden? Können diese Aufgeklärten denn die Dinge nicht einfach gelten lassen, so wie die Gelehrten und Herrschenden sie festgelegt haben?
Stattdessen wollen sie einfach und direkt ihre Meinung setzen – ihre Meinung gegen das erprobte und bewährte Wissen von Experten der vergangenen Jahrhunderte.
Der Reaktionär geißelt also jene, die Gewohntes und Bewährtes in Frage stellen, die Unterwerfung und Einordnung nicht akzeptieren wollen und sie selbst, mit eigenen Sinnen und eigenen Argumenten verstehen und diskutieren wollen. Sie misstrauen der üblichen Ordnung, sie haben anderes im Sinn.
Und was halten verschwörerisch Aufgeklärte und humanistisch Aufgeklärte einander vor?
Ihr gebt euch zufrieden, sagen die Verschwörungstheoretiker. Ihr schwimmt mit dem Mainstream, gebt euch mit allem zufrieden was man euch sagt. Ihr hinterfragt nicht, denkt nicht selber und lasst euch belügen.
Die humanistisch Aufgeklärten bremsen. Es gibt Tatsachen, sagen sie, gesichertes Wissen, Spielregeln der Demokratie. Nicht alle können gleichberechtigt überall mitreden, Expertise und Spezialistentum machen Sinn. Es kann nicht bei allen Entscheidungen um Meinung gehen.
Klingen Rationalisten, die sich auf Vernunft, Wissen, und Argumente berufen, heute wie die zornigen Anti-Aufklärer vor 250 Jahren? Sind die Argumente, mit denen man sich gegen Esoteriker und Verschwörungstheoretiker wendet, die gleichen, mit denen sich enttäuschte Nicht-mehr-Aufklärer gegen die Radikalen des 18. Jahrhunderts wandten?
Natürlich wissen wir heute viel mehr. Wir müssen weit weniger ungeklärte Voraussetzungen wie Traditionen oder Religionen beanspruchen, um Wissensansprüche zu untermauern.
Trotzdem finden sich jene, die nur auf Vernunft pochen, immer wieder in der schwächeren Position. Auf der anderen Seite gibt es immer weitere Verlockungen …
Eine mögliche Schwachstelle: Der Glaube an die Vernunft ist das auf verschlungenen Wegen erreichte Ergebnis spekulativer Philosophie. Die Beweisführung der führenden Köpfe ihrer Zeit wäre uns heute, begegnete sie uns in modernem Gewand und ohne den Charme des lang vergangenen, allenfalls hochgezogene Augenbrauen wert, gerunzelte Stirnen; wird würden über die Wortführer solcher Argumentationen hinter ihrem Rücken kichern.
Vernunft setzt sich durch, weil sie sich über Widersprüche hinweg ihren Weg bahnt? Dank der “List der Vernunft” funktioniert das auch dann, wenn Menschen ganz und gar unvernünftig und egoistisch handeln? Der Weltgeist bei der Arbeit ordnet alles im Sinn der Vernunft? Stehen wir kurz vor der Lösung, gibt es immer nur noch eine letzte Hürde, die auf dem Weg zum Sieg der Vernunft überwunden werden muss? – Das sind alles Versatzstücke aus Hegels Schriften, der Galionsfigur der spekulativen Philosophie.
“Hegel”, “Dialektik”, sagen heute viele Zitatedropper-PhilosophInnen auf Twitter, wenn etwas anders kommt, als manche glauben möchten. Die twitterphilosophische Interpretation dieses Schlachtrufs bedeutet dann allerdings oft, frei übersetzt: “Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.” Manchmal auch: “Wie man in den Wald ruft, so kommt es zurück.” Oder gar: “Auge um Auge, Zahn um Zahn.” Oder wienerisch: “Ana hot immer des Bummerl.”
Dialektik wird zum tröstlichen Ausgleich, demzufolge mal der eine, mal die andere oben ist, nichts ist für immer, und es kommt oft anders, als man glaubt. Das wäre eine sehr ausgleichende Vorstellung, in der irgendeine ausgleichende Macht als treibende Kraft dafür sorgt, dass nichts je zur Ruhe kommt.
Woher kommt denn der Widerspruch, der sich immer wieder gegen einmal formulierte Thesen stellt?
In einer naiv-brutalistischen Interpretation aufklärerischer Dialektik ist die Realität selbst im eklatanten Widerspruch zu dem, was sein soll. Widersprüche – das ist der Treibstoff marxistischer Utopisten, die Geschichte als Entwicklung hin zu einem kommunistischen Endstadium sehen. Was nicht kommunistisch ist, ist falsch, es widerspricht Vernunft und Freiheit, also ist es ein Widerspruch, den es zu überwinden gilt.
Fraglich ist aber, wie Widersprüche überwunden werden, was die revolutionäre Dialektik in Gang setzt. Ist es die Notwendigkeit des kommunistischen Endstadiums, das, als einzig vernünftiges Ergebnis der Weltgeschichte mal eintreten muss? Oder muss der Notwendigkeit doch mithilfe revolutionärer Subjekte nachgeholfen werden? Das Dilemma der Revolution – Wer soll revoltieren? Wann? Mit welchem Ziel? Oder bleibt die Revolution ein Dauerzustand? – ist also eine zutiefst aufklärerische Angelegenheit, eine, das durch die angenommene Entwicklung hin zu Vernunft befeuert und zugleich auch gebremst wird.
Vielleicht hatten die aufklärerischen Erfinder etwas anderes im Sinn: Hegels Dialektik beschreibt vielmehr die Gewissheit, dass nichts der Weisheit letzter Schluss sein kann. Wir lernen etwas, erklären es uns, verstehen es, bilden eine These, können etwas über die Welt sagen – und lernen im gleichen Moment, dass es auch anders sein könnte. Das Spiel wiederholt sich, das gleiche gilt auch für die nächste These. Und damit ist dafür gesorgt, dass nichts zum Stillstand kommt – denn auch die neueste These ist dem gleichen Schicksal ausgesetzt.
Der Glaube an die sich durchsetzende Vernunft ist eine Art globale Midlifecrisis, die alles Erreichte immer wieder mit quälend nagenden Zweifeln infrage stellt. War es das schon? Ist das wirklich alles? Das kann es doch noch nicht gewesen sein … Alles Erreichte wird, verglichen mit einem Ideal, ein vorläufiger Murks.
Das beschwört aber nur ein weiteres Ideal: Wenn wir der Vernunft nachhängen, die alles klären wird, dann gehen wir davon aus, dass Fehler auf Einflüsse und Abweichungen zurückzuführen sind, auf unvernünftige Störfaktoren, die die Klarheit der Vernunft vernebeln. Die vernünftige Wahrheit tritt dort ans Licht, wo Fehler und Einflüsse ausgeschlossen wurden. Schwebt die vernünftige Wahrheit also voraussetzungslos im luftleeren Raum, wo sie keiner Verschmutzung durch Umstände, Vorlieben oder Vorurteile ausgesetzt ist? Was für eine Wahrheit ist das dann, wessen Wahrheit ist keinen sozialen, historischen oder technischen Einflüssen ausgesetzt?
Bahnt sich die leuchtende Vernunft der Aufklärung ganz allein ihren Weg durch ein verlassenes Universum, in dem sie von uns Menschen nicht mehr gestört wird?
Zornigen Alt-Aufklärern wäre das vielleicht gar nicht so unrecht. Ratlose Welterklärer können sich ebenfalls damit anfreunden, sich in einer leeren Welt nicht mehr mit unsinnigen Einwürfen auseinandersetzen zu müssen.
Leider liegt beidem der gleiche Irrtum zugrunde: Es gibt keinen unverstellten Blick auf die Dinge und keine unverfälschte Rationalität, die “der Wahrheit” zum Durchbruch verhelfen wird. Das können wir erkenntnistheoretisch untermauern, wissenschaftstheoretisch bei David Bloor nachlesen, mit Cognitive Sciences und Neurophysiologie argumentieren oder auch mit den Methoden von Mathematik und Informatik argumentieren. Aber natürlich kann man auch die Augen schließen und sich von all dem nicht stören lassen und weiter einfach behaupten, recht zu haben.
Wilde Papiertiger setzen dazu an, den ORF zu zerfleischen. Ich habe seit 20 Jahren kein Fernsehgerät mehr, der ORF begegnet mit häufiger auf Twitter als in der Form von Streaming, Video on Demand oder Nachrichtenportalen und der ORF war immer eher etwas wie die Nationalbank für mich: Ein Ort, an den Mitarbeiterkinder Praktika machen, von denen sie nahtlos in gut bezahlte Jobs übergehen. Das ist natürlich ebenso ein Vorurteil wie die Idee, man könnte dem ORF einfach den Finanzstecker ziehen und weitermachen wie bisher, halt mit ein paar kleinen Einschränkungen und mehr Orientierung am Publikum.
Man kann ihn zusperren. Das ist eine realistische Option, über deren Konsequenzen man sich unterhalten müsste. Aber man kann nur als dogmatischer Papiertiger sagen: „Die anderen schaffen es doch auch.“ Die anderen haben private Financiers in Hintergrund, gehören zu Konzernen, die im Medien-Dauerentwicklungsland Österreich Platz besetzen, oder sie sind gut geförderte Testballons anderer Medienhäuser.
In knapp 30 Jahren habe ich verschiedene Medien aller Größenordnungen und Formate kennengelernt. Ich kenne Auflage und Einnahmen von „Subkultur und Untergrund“ (besser bekannt als Skug, damals, als es noch eine Printausgabe gab), von Indie-Comicverlagen in Ö und D. Ich weiss, was solide Corporate Publishing-Projekte kosten und was sie bewegen können und ich kenne die Zahlen, die die Kronen Zeitung täglich in Internet bewegt ebenso detailliert wie Click- und Conversionrates der Kampagnen großer ECommerce-Betreiber.
Und ich kann rechnen.
Das ist offenbar ein großes Handicap gegenüber all jenen, die selektiv ein wenig ~liberale~ Ökonomie gelesen haben, mal ein Zeitungsabo gekündigt, einen Fernseher abgemeldet oder einen Streaming Account bezahlt haben, und mit dieser Erfahrung jetzt solide Medienexperten mit felsenfester Meinung sind.
Sie werden die Medienlandschaft bekommen, die ihnen gerecht wird. Im schlimmsten Fall eine, in der sich wenig verändert.
Aber woher sollen sie es denn auch wissen. Medien, allen voran gewisse Fernsehsender, laden ja mit Vorliebe 80jährige ein, um über die Journalismuszukunft zu referieren und diskutieren. Die dann im besten Fall sagen, dass die Jungen es schon irgendwann richten werden.
Arthur Rimbaud hätte man ja eher als coolen Hund in Erinnerung. Poesie, Eskapaden, dann die Ausstiegsszenarien Seefahrt und Afrika und ein paar wilde Jahre als Draufgänger, die dann halt letztlich das Leben kosten. Nach einer Reise nach Harar habe ich seine Briefe auf Harar, Djibouti und Aden gelesen, und die zeichnen ein deutlich anderes Bild.
In seinen ersten Reisejahren war Rimbaud der neugierige Unternehmer, der alles mögliche lernen und ausprobieren wollte. Das lassen seine Buchbestellungen vermuten: Rimbaud ließ sich meterweise Fachliteratur schicken – über Landwirtschaft, Viehzucht, Eisenbahnbau und diverse andere technische Fächer.
In die Pläne mischt sich bald Enttäuschung. Die Bezahlung ist mau, die Geschäfte sind wenig aufregend, Chefs und Geschäftspartner halten ihre Versprechen nicht, alles dauert. Schon nach relativ kurzer Zeit redet Rimbaud von Rückkehr: Sein Ziel ist es, Geld zu sparen, es anzulegen und auch in Europa von den Zinsen leben zu können. Vom draufgängerischen Aussteiger keine Spur. Rimbaud beklagt auch, dass er sein Geld weder anlegen noch jemandem anvertrauen kann – es trägt es immer bei sich in seinem Gürtel und klagt über Hüftschmerzen. Der Geldgürtel aus Goldfrancs wiegt acht Kilo.
Dann mischen sich rassistische Töne über die dummen und faulen Einheimischen in die Briefe; Rimbaud scheint sich mit allen zu überwerfen: Mit den Menschen vor Ort, seinen Geschäftspartnern, den Kunden und den Behörden. Menelik II., Kaiser von Äthiopien, überlistet ihn bei einem Waffendeal und zwingt ihn, ihm die ganze Lieferung zum Vorteilspreis zu überlassen. Nach dem Tod eines seiner Geschäftspartner kassieren dessen Gläubiger angebliche Schulden bei Rimbaud doppelt. Die französischen Behörden verweigern ihm neuerliche Lizenzen für den Waffenhandel. Eine Geschäftsidee, eine neue Maultiersorte zu züchten kommt nicht vom Fleck; Rimbaud sucht zwar per Brief im Nahen Osten nach den besten Eseln, viel weiter entwickelt sich die Idee aber offenbar nicht.
Dann beginnen die Schmerzen in den Beinen. Rimbaud lässt sich Kompressionsstrümpfe schicken, besucht verschiedene Ärzte, es hilft nichts. So sehr er auch über die Hitze gejammert hat, so abschreckend bleibt dennoch die Vorstellung, ins kalte Europa zurückzukehren. Dann wagt er doch die Überfahrt.
In Marseille wird ihm ein Bein abgenommen. Zu den Schmerzen gesellt sich die Angst: Wie wird er einbeinig leben können? Und gilt der Rückkehrer der französischen Armee als Deserteur, wird ihn das Militär verfolgen.
Rimbaud besucht seine Familie für einige Wochen, hadert mit den Ärzten, schlechter Wundheilung und dem Holzbein und stirbt einige Monate nach der Amputation in Marseille.
Heute ist der Begriff der Kulturtechnik mit all seinen befreundeten Begriffen und Derivaten so weit verbreitet, dass man sich erst einmal versichern muss, was damit gemeint war. Reden wir von der klassischen Bedeutung der Kultivierung der Natur mit verschiedenen Technologien? Beziehen wir uns auf kulturelle Errungenschaften und deren Beherrschung? Oder reden wir von unterschiedlich vermittelten und zielorientierten Strategien, mit denen wir auf unsere Umgebung einwirken?
Don Ihde arbeitete in den 80er Jahren zu einem neuen Technologiebegriff, das Buch erschien 1990 und für Ihde war es damals noch notwendig, vorauszuschicken, das er Technologie als kulturelles Instrument betrachtet. Das war eine relevante Abgrenzung gegenüber diversen deterministischen Positionen, die Technologie als selbstständigen Block betrachteten, der entweder (technisch-deterministisch) Natur und Gesellschaft bestimmte oder (sozial-deterministisch) von der Gesellschaft bestimmt wurde, jedenfalls aber etwas von Natur und Gesellschaft verschiedenes war.
Ihde muss deshalb auch ausholen und erklären, dass es keinen technologiefreien Natur- oder Urzustand geben kann. Jeder Stock, jeder Stein, der zwischen seinem Anwender und einem Ziel vermittelt, ist Technologie.
Mit seiner Version, eine Trennung von Natur und Technik zu hinterfragen, erinnert Ihde auf den ersten Blick an Latour, er setzt allerdings andere Schwerpunkte. Ihde kritisiert auch die Vorstellung, bewegliche oder relative Konzepte von einer unabhängigen Position aus betrachten zu können, die letztlich selbst auch wieder relativiert werden können. Es muss zumindest auch deutlich gemacht werden, wie die vermeintlich bevorzugte Position zu ihrer bevorzugten Position gekommen ist und welches Konzept der Privilegiertheit dadurch zum Ausdruck gebracht wird. Diese Form der Reflexivität (in dem Sinn, dass sich die eigenen Ansprüche an andere Positionen auch auf die eigenen Positionen und deren Fundamente anwenden lassen müssen) erinnert an David Bloors Strong Programme der Wissenssoziologie und die Mahnung, dass Wahrheit nicht durch mangelnde Rationalität verstellt wird – nicht weil das nicht so wäre, sondern weil sowohl Wahrheit als auch Rationalität bewegliche Begriffe sind. Wir befinden uns nicht auf einem immer klarer werdenden Königsweg zur Klarheit, sondern auf verschiedenen Wegen, die teilweise auch wieder revidiert werden müssen.
Wahrnehmung ist Gestaltung, Beobachtung erst recht
Ihde möchte mit seinen Hinweisen auf die wandelbare Relevanz von Positionen vor allem die Situiertheit von Wahrnehmungen und Perspektiven deutlich machen. Jede Auswahl einer Perspektive (oder schon eines Themas, das in die Perspektive genommen wird) ist Auswahl und Einschränkung und damit nicht nur Abbildung, sondern auch Gestaltung. Phänomenologie beschäftigt sich nicht nur mit Erscheinungen, also mit Oberflächen von Dingen, die so gegeben sind. Die Wahrnehmung, die in der Phänomenologie thematisiert wird, gestaltet auch. Damit sind der Wahrnehmende und dessen Position unverzichtbarer Bestandteil der Wahrnehmung. Es gibt keine bloße Wahrnehmung und kein Ding an sich, es gibt immer nur Wahrnehmung als etwas und Wahrnehmung von einer Position aus.
Wird Wahrnehmung damit ein überdehnter überstrapazierter Begriff?
Ihde schlägt vor, Wahrnehmung, so wie Husserl sie in den Mittelpunkt rückt, schärfer zu beschreiben: Ihde unterscheidet zwischen Mikroperzeption als Sinneswahrnehmung und Makroperzeption als kulturell und hermeneutisch vermittelter Wahrnehmung, die also noch deutlicher auch eine Interpretations- und damit Gestaltungsleistung enthält.
Was haben all diese Überlegungen mit Technologie zu tun?
Technologie ist für Ihde zumindest in Hinblick auf Wahrnehmung, Wissenschaft und Erkenntnis in Mittel, Sinne und Wahrnehmungsfelder zu erweitern. Das schließt an alte Technologie- und Wissenschaftskonzeptionen an, in denen Instrumente eine zentrale Rolle spielen.
Neue Techniken und Instrumente bringen neue Wahrnehmungen und neue Erkenntnisse; damit verändern sie den Wahrnehmenden und die Wahrnehmung. Ihde unterscheidet diverse Beziehungsformen, in denen neue Erkenntnisse und Wahrnehmungen geschaffen werden. Damit rücken Fragen des Lernens und Vermittelns in den Blickpunkt: Wie lernen wir von neuen Techniken, wie ordnen wir neue, bislang unbekannte Informationen ein, wie erkennen und bewerten wir sie überhaupt – und wie wird aus Signalen, Daten, Geräuschen oder Flecken Information?
Technologie verändert Wahrnehmung
Ihde streift, vermutlich eher unabsichtlich, datenrelevante Fragen: Welche Signal- oder Textarten vermitteln wieviel Information, wie direkt, und auf welchen Kanälen? Ihde räumt dabei visuellen Darstellungsformen einen gewissen Vorrang ein. Grafiken etwa erlauben für ihn nicht nur hermeneutisches Verstehen (also Makroperzeption), sie vermitteln auch auf sinnlicher anschaulicher Ebene, funktionieren also auch im Bereich der Mikroperzeption. Schriftlicher Text, vor allem in Alphabeten kodifiziert, erlaubt nur hermeneutisches Verstehen, hier sind größere Übersetzungsleistungen notwendig.
Diese Sonderstellung von Visualisierungen, also von aufbereiteten Daten, schließt an Ideen zur Sonderstellung von Daten an, die im Datendiskurs öfter vorgebracht werden. So wie in den meisten Fällen liefert aber auch Ihde kein Argument für den direkten Vorteil von Daten. Sie können ihren Vorsprung erst dann umsetzen, wenn sie aufbereitet sind und einem uns bekannten Wahrnehmungsschema entsprechen. Daten nehmen hier dennoch insofern eine Sonderstellung ein, als sie eine Doppelrolle einnehmen: Sie sind Material und Werkzeug zugleich; sie liefern die Bausteine und den Bauplan und sie sind gleichzeitig Repräsentation und Relation. Daten bilden etwas ab (als Relation), indem sie die Grundlage für Darstellungsformen schaffen (also Repräsentation fördern), sie müssen den Bauplan für ihre eigene Anordnung mitbringen, weil sie sonst nichtssagendes Rauschen wären. Sie werden anhand eines Bauplans geschaffen, obwohl sie für sich in Anspruch nehmen sie könnten als unvoreingenommen Vorgefundenes betrachtet werden.
Das wissen wir, unklar ist allerdings, in welcher Reihenfolge das geschieht, welche Wirkungen mit welchen Ursachen zusammenhängen und welche Rolle unsere Wahrnehmung dabei spielt, insbesondere, inwieweit sie dabei gestalterisch eingreift. Mit mehr Optionen (und Technik schafft mehr Optionen) werden Entscheidungen immer relevanter: Mehr Entscheidungen müssen getroffen werden, sie haben auch weitreichendere Konsequenzen (In Analysen zu Data Science-Prozesse und der Frage, wo in diesen Prozessen Entscheidungen getroffen werden (Am Ende? Am Anfang? Mit jedem Schritt?) sind diese Fragestellungen zentral.).
Technik und Wissenschaft: Vernetzte Zusammenhänge oder klare Abgrenzungen?
Ihde führt das nicht viel weiter aus. Seine Mission ist mit dem Verdeutlichen dieser Verzweigungen und Abhängigkeiten erfüllt. Wir erinnern uns: Ihde Anliegen war es, Technologie als kulturelles Instrument sichtbar zu machen. Technologie ist nicht unabhängig von Welt, Natur oder Gesellschaft zu betrachten, sondern in all diese Bereiche verwoben. Fraglich ist eher, ob es etwas wie Technologie allein, Technik an sich gibt, oder ob es Technologie, so wie für Ihde generell alles, nur in Kontexten und Beziehungen gibt.
Ihde schafft also ein Bild von Technik und Technologie als Netzwerke von Beziehungen. Technologie ist eine vermittelnde Verbindung, nicht etwas, das abseits der Dinge steht oder von außen an diese herangetragen wird. Eine Uhr misst nicht nur die Zeit, die schafft eine konkrete Vorstellung von Zeit und durch diese Strukturierung schafft sie eigentlich überhaupt erst das, was sie in anderen Technik-Perspektiven nur zu messen vorgibt.
Bei all der Konzentration darauf, den Beziehungscharakter von Technik herauszuarbeiten, kann man Ihde durchaus entgegenhalten, wenig Substantielles zum Technikbegriff gesagt zu haben. Was ist nun Technik? Wie und wovon grenzen wir sie ab? Was ist keine Technik?
In den 80er Jahren war das ein neuartiger Weg; heute, wo sich dieser Gedanke durchgesetzt hat, wünscht man sich eher auch wieder konkrete Diagnosen. Ihde verweigert das und sieht in der Unschärfe neue relevante Wege zum Technologieverständnis.
Allerdings diagnostizierte auch Ihde schon Gegenwind zu diesen Positionen: In den 80er Jahren wurden erstmals seit langem wieder Sparmaßnahmen und Kürzungen in politischen Budgets diskutiert, allen voran in Thatcher-England; einige davon betrafen Wissenschaft und Universitäten. Viele Wissenschaftler hatten damals beklagt, dass diese Kürzungen auch auf die Aufweichung des Wissenschaftsbegriffs zurückzuführen seien. Wissenschaft, die einst harte Fakten geliefert habe, sei nun in vagen Relativismen verstrickt, die sogar Gesetze der Technik und Physik in Frage stellten – die Postmoderne dräute herauf (noch bevor Quantenmechanik dann zur vagen Generalentschuldigung jeder Unsicherheit wurde). Einen derart aufgeweichten Wissenschaftsbegriff könne niemand mehr finanzieren wollen, es sei kein Wunder, dass sich bei derart zerstörerischer Kritik von innen die Öffentlichkeit abwende. Wissenschaft und Technologie müssten mit Klarheit vorangehen. Ihde verwehrte sich dagegen – und rückte zusätzlich damals so avantgarditische Themen wie Umweltzerstörung, Nachhaltigkeit und Klimawandel in den Mittelpunkt des Philosophierens über Technik und Technikfolgen.
Zur gleichen Zeit entstanden im übrigen auch die ersten formellen Ansätze von Wissenschaftskommunikation, die ihrerseits auch noch ganz darauf ausgerichtet waren, Defizite im Publikum zu beseitigen, das der Wissenschaft eben noch nicht ausreichend Respekt und Aufmerksamkeit entgegenbringe, um die Klarheit und den Vorsprung der Wissenschaft zu schätzen. Wissenschaftskommunikation ist seither lange Wege zwischen Evangelismus, Clownerie, Wissenschaftsüberforderung, Besserwisserei und solider Öffentlichkeitsarbeit gegangen
Wo Ihde mit der Auflösung von Grenzen zwischen Technologie und Lebenswelten beschäftigt war, wünschen sich manche heute wieder schärfere Grenzen, mehr Respekt und klarere Ansagen.
Das ist verständlich. Es ist aber nicht nur angesichts von Ihdes Ausführungen auch fragwürdig, Technik und Wissenschaft als losgelöste unabhängige Autoritäten betrachten zu wollen.
Ihde hat die Verworrenheit von Technologie und Lebenswelt deutlich herausgestellt, seine Konzepte sind allerdings nicht besonders produktiv operationalisierbar. Im Vorwort deutet Ihde auch an, dass ein Text nur der erste einer Reihe ist, die neue und andere Technologiebegriffe herausarbeiten sollen.
Wesentlich bleibt aber der Beziehungsaspekt, der integraler Bestandteil auch von Konzepten wie Technologie ist und auf vielfache Weise beschrieben wird: Ihde unterscheidet embodiment, hermeneutic, alterity und background relations. Vor allem die Analyse der alterity Relations (die Idee vom relevanten Anderen ist dabei von Lévinas entlehnt) eignet sich, um monolithische Technologiekonzepte in beziehungsorientierte Konzepte zurückzuübersetzen, Entropomorphismen zu entlarven und Debatten um Agency und Verantwortung von (nicht für) Maschinen anders zu betrachten.
Daten liefern Antworten. Daten helfen zu besseren Entscheidungen. Daten lösen Probleme. Das ist das Credo jener, die evidenzbasierte Entscheidungen wollen, die Daten das Primat über Emotion und Vorlieben einräumen möchten und die Daten als Königsweg zur unverstellten Rationalität betrachten.
Diese Einstellung ist nicht selten.
Und sie ist in etwa so absurd wie die Vorstellung, Probleme und Folgen des Klimawandels wären mit der Erfindung des Thermometers ausreichend bekämpft.
Daten können vieles sein. In einer technisierten, heute vorherrschenden Perspektive, sind es zähl- und sortierbare Platzhalter, die auf etwas anderes verweisen. Daten unterscheiden sich nicht wesentlich von Alphabeten: Sie bedürfen einer Konvention, um Bedeutung zu schaffen. Sie sind auf Beziehungen angewiesen, um Sinn zu ergeben. Sie können beliebig kombiniert werden, ergeben dann aber nicht unbedingt konkrete Aussagen.
Manchmal vermutet man in Daten insofern eine Sonderstellung, als sie besonders klare, eindeutige und repräsentative Repräsentanten ihrer Art sein sollen. Diese Sonderstellung wird ihnen aber vor allem deshalb zuteil, weil sie ihnen eingeräumt wird. Das Konzept ist zirkulär – aber geschlossene Kreisläufe erhalten sich schließlich leichter selbst und sind weniger anfällig für Störungen von außen.
Thermometer sind nun auch besonders repräsentative Repräsentanten ihrer Art (wenn wir ihre digitalen Erscheinungsbilder mal außer Acht lassen). Säulen steigen, Zeiger schlagen aus – das sind eindeutige Datenvisualisierungen, die uns zeigen: Es wird mehr. Die Temperatur steigt. Wir können das eindeutig ablesen, wir haben Interpretationsmöglichkeiten, die keiner Übersetzung, keines Thesaurus bedürfen, die noch leichter verständlich und deutlicher ist, als unsere Alltagssprache.
Das Thermometer hat alle Daten-, Repräsentations- und Relationsprobleme rund um Temperaturfragen gelöst, verschiedene Skalen und Kalibrierungen funktionieren nach dem gleichen Muster.
Ein simples Säulenthermometer kann als Sinnbild für komplexe Datenaggregierungen und -visualisierungen gelten und hat vieles auf den Punkt gebracht. Die Existenz des Thermometers aber hat noch nichts dazu beigetragen, Probleme und Folgen des Klimawandels zu lösen. Sie wird es auch nicht tun.
Vielleicht ist die Existenz des Thermometers unverzichtbar, um Probleme und Folgen des Klimawandels feststellen, beschreiben und kategorisieren zu können. Das wäre viel. Aber warum tun wir so, als könnten wir von anderen Daten und ihren Erscheinungsformen so leicht so viel mehr erwarten?
Daten sind nützlich, davon sind alle überzeugt. Vielleicht sind sie auch gefährlich. Eventuell sogar wertvoll.
Daten entfalten jedenfalls Wirkung, das ist heute ein Gemeinplatz. Ungeklärt ist aber die Frage, wie diese Wirkung zustande kommt. Daten geben eine Richtung vor und sind Teil der Lösung. Allerdings übergeht dieses Szenario das Problem, wie Daten Organisationen verändern, in Prozesse eingreifen, Richtungswechsel in Strategien bewirken oder den Unternehmenserfolg beeinflussen. Dieser Übergang gleich oft dem wirren Wollknäuel in Cartoon-Projektplänen, der mit “Hier geschieht ein Wunder” beschriftet ist.
Data Science- und Big Data-Beschreibungen gehen heute glücklicherweise schon weit über die Betonung technischen und statistisch-mathematischen Spezialwissens hinaus. Fachwissen ist wichtig, um relevante Fragestellungen identifizieren zu können. Historisch-dokumentarische Kenntnisse sind notwendig, um Datenerhebungsprozesse gestalten und evaluieren zu können. Und jeder ernstzunehmende Datenspezialist wird nicht müde zu betonen, dass die Arbeit des Konzipierens, Sammelns und Bereinigens von Daten den völlig unglamourösen Löwenanteil in der Datenarbeit ausmacht. Bevor auch nur eine einzige Codezeile smarter Algorithmen geschrieben ist, wurden dutzende Stunden mit platten Strichlisten, Spreadsheets und Plausibilitätsprüfungen verbracht.
Der vorbereitenden Arbeit, der archäologischen Spurensuche wird also große Bedeutung beigemessen. Dann klafft allerdings eine große Lücke.
Daten sind wichtig und wirksam, so die Überzeugung. Wie gelingt ihnen das aber? Hier befinden wir uns großteils noch im Reich der Magie.
Das ist eine Gefahr für die Arbeit mit Daten.
Erwartungsmanagement ist ein weiterer zentraler Skill jedes Analysten. Erwartungsvollen Kunden oder CEOs muss klargemacht werden, dass Daten erstens Zeit brauchen und zweitens nur in eine Richtung zeigen. Ob dieses Zeigen ein Wegweiser, ein Schubs, ein unwiderstehlicher Sog oder ein bloßes Mahnmal ist, das liegt nicht mehr an Daten allein. Das ist eine Prozessfrage. Hier müssen sich Organisationen verändern. Und vor allem: Hier müssen Entscheidungen getroffen und durchgesetzt werden.
Data Science verspricht, zu besseren Entscheidungen zu verhelfen. Langwierige Data Science-Prozesse werfen die Frage auf, worüber eigentlich entschieden wird. Die letzte Entscheidung darüber, was nun tatsächlich umgesetzt wird, welche Handlungen aufgrund der Daten gesetzt werden, obliegt praktisch weder Data Scientists noch Data Analysts, sondern organisatorische verantwortlichen Personen. Es ist eine gefährliche Überschätzung von Daten, diesen Unterschied zu übergehen. Das führt zu Frustration (“Diese Daten bringen uns überhaupt nichts”), Lähmung (“Ich brauche mehr Daten, um das entscheiden zu können”) oder gar zum Daten-Deadlock.
Jeder Analyst kennt den Daten-Deadlock: Man präsentiert neue Ergebnisse, zeigt auf Problemstellen, leitet neue Empfehlungen aus Details ab – und bekommt die Antwort: “Das weiß ich schon, das ist nichts Neues für mich.”
In solchen Fällen bleibt eigentlich nur übrig, die Frage zu stellen: “Und warum handeln Sie dann nicht danach?”
Das ist in vielen Fällen das Ende der freundlichen Zusammenarbeit.
Manchmal aber offenbart diese Situation aber auch neue Handlungsspielräume – plötzlich wird klar, dass man sich bewegen kann, wer sich bewegen muss und dass immer nur überschaubare Schritte gesetzt werden können – die ihrerseits auch wieder analytisch begleitet werden können.
Data Science und Analytics enden nicht mit smarten Algorithmen und fancy Python-Scripts. Das sind nicht einmal die Höhepunkte von Datenprozessen. Sie sind das Ende der Anfangsphase, danach beginnt die Arbeit in Prozessen und Organisationen. Für manche ist das eine Entzauberung der mächtigen Daten. Magie aber hat noch selten gut funktioniert, wenn man nur nah genug hinsieht.
In den 90ern war das Internet Nerdkram, Artificial Intelligence beschränkte sich für die Öffentlichkeit auf ein paar Spracherkennungs- und Simulationstools, Machine Learning bestand in Diagnostiksoftware und Big Data gab es noch nicht.
Diese Rahmenbedingungen muss man wohl vorausschicken, wenn man den Text von Collins und Kusch auf aktuelle Fragestellungen anwenden möchte. Eine wesentlich unterschiedliche Perspektive: Heute ist Bias eines der zentralen Themen rund um Artificial Intelligence und Data Science; der Themenkomplex beschreibt ein Defizit von Technologie, die durch menschliche Vorurteile und soziale Einflüsse verunreinigt wird. Damals wandten sich die Autoren gegen die ihrer Meinung nach naive Vorstellung, Maschinen könnten selbstständig handeln und entscheiden und kritisierten in dieser Vorstellung eine Verkürzung, die die Relevanz menschlicher und sozialer Einflüsse unzulässig ignoriere.
Können Maschinen handeln?
Das ist das zentrale Thema dieses Buchs: Wie weit und unter welchen Umständen können Maschinen, wenn überhaupt, so etwas wir Agency besitzen?
Harry Collins und Martin Kusch entwickeln detaillierte Handlungskonzepte, um diese Frage zu diskutieren. In erster Linie unterscheiden sie zwischen Handeln (action) und Verhalten (behavior). Verhalten ist eine reaktive Existenzweise, die mit ihrer Umwelt reagiert, aber keinen Plan verfolgt und immer in konkrete Kontextbedingungen eingebettet ist und von diesen ausgelöst und gesteuert wird. Handeln besteht aus Abläufen, die nicht nur Reaktionen auf äußere Einflüsse sind oder einem anderen vorgefertigten Bauplan folgen. Auch dabei unterscheiden Collins und Kusch unterschiedliche Typen: Mimeomorphe Handlungen folgen dem immer gleichen Plan, können imitiert werden und sind sehr spezifisch in ihrer Reichweite und Wirksamkeit. Mimeomorphe Handlungen können nicht angewendet werden, wenn sich Rahmenbedingungen ändern, wenn Entscheidungen zu anderen als bereits bekannten Fragen (mit bekannten Antworten) getroffen werden müssen. Dann sind polymorphe Handlungen notwendig, die keinem vorgegebenen Ablauf folgen müssen sondern auch unvorhergesehene Abzweigungen nehmen können.
Wiederholbarkeit und Relevanz
Dieses auf den ersten Blick einleuchtende Konzept offenbart seine Schwierigkeit auf den zweiten Blick: Was ist gleich, wo beginnen Unterschiede? Welche Unterschiede sind relevant? Inwiefern können und sollen in die Diagnose von Unterschieden auch Positionen und Perspektiven des Unterscheidenden einbezogen werden? Collins und Kusch deuten dazu eine „sociology of the same“ an: „The whole pattern of human life could be said to be a matter of what we see as the same and the way boundaries between things are shifted about“. Das ist ein spannender Gedanke, der sich in viele Dimensionen verzweigen lässt. Informationstheorien liegt eine Frage von Unterschieden zugrunde – Luciano Floridi führt dazu viel über Levels of Abstraction als Gradmesser von Unterschieden aus. Bei Carnap und Bar Hillel führt die Betonung der Relevanz von Unterschieden zum Informationsparadoxon: Je größer ein Unterschied ist, desto gehaltvoller ist Information – bis zu dem Preis, dass die gehaltvollste Information der logische Widerspruch ist. Die Diagnose von Unterschieden ist eine zentrale Aufgabe von Machine Learning-Prozessen, im Fall der Segmentierung oder Clusterbildung sollen dabei Unterschiede erkannt werden, die für den Menschen nicht ersichtlich gewesen wären. Unterschiede sind eines der Kernthemen von Data Science, die Entscheidungen verspricht – also die Diagnose von Unterschieden und die Auswahl von unterschiedlichen Optionen.
Für Collins und Kusch ist Wiederholung ein zentrales Unterscheidungskriterium. Wiederholung gleicher Abläufe, die mimeomorphe Handlungen ermöglicht, setzt unveränderliche Umgebungen voraus. Es sind sehr konkreten spezifische Kontextangaben erforderlich, um Automatisierung zu ermöglichen. Mit Wiederholung werden Abläufe sebstverständlich, Neuigkeiten diffundieren ins Allgemeinwissen; in der Wissenschaftsphilosophie werden solche Prozesse als Closure oder Black Boxing diskutiert. Collins und Kusch möchten hier allerdings noch einmal unterscheiden.
Verallgemeinerbarkeit und Abstraktion machen den Unterschied
Es reicht nicht aus, wenn Abläufe oder Erkenntnisse akzeptiert und nicht mehr hinterfragt werden (wie bei den Konzepten von Closure oder Black Boxing). Damit Abläufe als mimeomorphe Handlungen gesehen werden können, müssen sie nicht nur repetitiv und akzeptiert sein, sie müssen auch spezifisch und konkret sein. Das bedeutet, sie sind nicht verallgemeinerter und beziehen sich immer auf einen konkreten Kontext und Anlass. Die Autoren exerzieren das am Beispiel von Vakuumpumpen durch: Robert Boyle und dessen Assistenten mussten bei der Erfindung der Vakuumpumpe im 17. Jahrhundert eine Reihe von neuen Abläufen erdenken, ausprobieren und einüben, um ihre Ergebnisse absichern zu können. Vieles davon ist heute grundlegendes Allgemeinwissen; ein technisch halbwegs versierter Mensch kann, mit einigen knappen Anleitungen, heute eine Vakuumpumpe in Betrieb nehmen und erkennen, ob sie funktioniert.
Trotzdem bleibt aus der Ablauf des Inbetriebnehmens von Vakuumpumpen eine polymorphe Handlung die nicht automatisiert werden kann. In Anbetracht der Allgemeinheit von Vakuumpumpen gibt es zu viele Optionen und Unterschiedlichkeiten, als dass Abstraktion und Automatisierung möglich wären. Es kann allenfalls die Inbetriebnahme und Überwachung einer spezifischen Vakuumpumpe als mimeomorphe Handlung dokumentiert und automatisiert werden.
Das erinnert an John Deweys Ausführungen zu Abstraktion, Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit: Dewey betont, es könne keine distinterested Science geben, weil die für wissenschaftliche Methode notwendige Transparenz immer nur in Hinblick auf spezifische Kontexte gegeben ist. Wissenschaftliche Theorien müssten allerdings den Anspruch haben, in jedem möglichen konkreten Kontext zu gelten.
Wer entscheidet, was konkret ist – und was Zufall?
Konkrete und gültige Feststellungen brauchen also konkreten Kontext.Das wirft die Frage auf, wer diesen Kontext herstellt. Das wiederum ist, wenn wir zur Ausgangsfrage zurückkehren, was Maschinen tun können (und an Machine Learning, Data science und Artificial Intelligence denken), eine Frage, die das Potenzial hat, eine grundlegende Konzepte rund um Data science auf den Kopf zu stellen. Maschinen arbeiten und analysieren in einem vorgegebenen Umfeld, sie überschreiten fallweise Grenzen, die zu überschreiten ihnen ermöglicht wurde (oder die irrtümlich als Grenzen angenommen wurden). Sie machen also, was ihr Rahmen ihnen ermöglicht; der Rahmen wurde letztlich durch menschliche Aktivität abgesteckt. Gern zitiertes Gegenbeispiel ist etwa Conways Game of Life, bei dem ein simples Set von Regeln neue Regeln erzeugt. Schaffen damit automatisierte Systeme ihre eigenen Reproduktionsbedingungen, etwas, das lebenden Organismen vorbehalten schien? Auch die Abläufe in einmal in Gang gesetzten Game of Life-Prozessen sind allerdings davon abhängig, wie sie in Gang gesetzt wurden – und sie verlassen nicht den Rahmen ihrer vorgegebenen Möglichkeiten, sie können sich nicht ohne weiteren Anlass für etwas anderes als das Übliche entscheiden.
Collins und Kusch unterscheiden verschiedene Arten von Maschinen, um diese Frage konkreter zu behandeln: Behavers folgen immer gleichen Abläufen. Disjunctive Behavers können je nach Gegebenheit zwischen verschiedenen vorgegebenen Abläufen entscheiden. Feedback Behavers können ihre Abläufe an diverse Inputs anpassen. Learning Behavers verändern sich und ihr Verhalten im Lauf wiederholter Interaktion mit der Umwelt. In dieser Typologie wäre das Game of Life auf der ersten Stufe von schlichten Behavers anzusiedeln. Ein Beispiel für die oberste Stufe ist für Collins und Kusch ein paar Stiefel, das sich im Lauf der Zeit an Körper und Bewegung ihres Trägers anpasst.
Auch in einer anderen Maschinentypologie in diesem Buch sind Algorithmen, Artificial Intelligence und Neurone Netze nicht unbedingt auf der obersten Ebene von Maschinen anzusetzen: Werkzeuge (tools) verstärken unsere Fähigkeiten, Stellvertreter (proxies) ersetzen oder vertreten uns, Neuigkeiten (Innovationen) setzen Abläufe um, die für uns unmöglich sind. AI und neuronale Netze sind für Collins und Kusch Proxies; ein Beispiel für Novelties wären Tiefkühler.
Maschinen zu überschätzen, in dem ihnen Agency zuerkannt wird, ist für Collins und Kusch ein grundlegendes Missverständnis, das die Analyse der Handlungsfähigkeit von Maschinen verstellt. Denn Maschinen können in ihrer Handlungstypologie nie über mimeomorphe Abläufe hinauskommen. Sie können Menschen zwar vertreten – aber nur dort, wo Menschen ihre Aktivität auf mimeomorphe Handlungen reduzieren.
Eine spannende, im Buch nicht gestellte Frage: Wäre es möglich, einen durchschnittlichen menschlicne Lebensablauf zwischen Pflichtschule, Dienst nach Vorschrift und Konsum auf mimeomorphe Abläufe zu reduzieren?