Achille Mbembe, Necropolitics

Macht bestimmt darüber, wer lebt und wer nicht. – Lebensbedingungen im buchstäblichen Sinn zu gestalten, nicht nur soziale Bedingungen, sondern die Möglichkeit biologischen Lebens, darin kulminiert Politik. Das ist eine der Kernthesen von Achille Mbembes „Necropolitics“, und es könnte eine der Kernfragen unsere Zeit sein, in der die Politik der Pandemie so tief und so offensichtlich wie selten in Lebensmöglichkeiten eingreift. So ausdrücklich hat Politik in den vergangenen 50 Jahren noch selten mitbestimmt, wer wo wie leben – buchstäblich am Leben bleiben – kann. 

Es kam allerdings anders: Weil Mbembe Israel als plakatives Beispiel für ausgeübte Biopolitik anführt, weil Israel in seiner Politik gegenüber Gaza viel weiter in Lebensmöglichkeiten eingreift als wir das von Politik gewohnt sind, sah sich Mbembe vor allem in Deutschland mit Vorwürfen des Antisemitismus konfrontiert. 

Diese Unterstellungen sind haltlos. Sie zeugen von einem tiefgreifenden Unverständnis gegenüber dem, was Mbembe eigentlich herausarbeiten möchte. Sie lassen sich auch nicht über Umwege oder über latenten oder in Kauf genommenen Antisemitismus erhärten. Wo die Entstehung der Vorwürfe anhand einzelner herausgegriffener Zitate noch annähernd erahnt werden kann, werden sie bei der Lektüre des gesamten Texts vollkommen haltlos. 

Worum geht es dann in Mbembes Essay? 

Mbembe sucht nach zeitgemäßen Grundlagen von Demokratie und Freiheit. Zeitgemäß, weil beides, Demokratie und Freiheit, nicht mehr so selbstverständlich ist. Und weil beides für einen großen Teil der Welt nie selbstverständlich war. Mbembe knüpft in seinen Überlegungen vor allem an Foucault und Fanon an. Foucault brachte den Begriff der Biopolitik auf und beschäftigte sich mit der Effizienz von Macht, Frantz Fanon ist einer der deklariertesten Kritiker und Erklärer kolonialer Macht und antikolonialer Perspektiven. Letzteres brachte Mbembe zusätzlich zur Unterstellung des Antisemitismus auch noch den Vorwurf ein, als intellektuelles One-Trick-Pony alles mit den Folgen kolonialer Gewalt erklären zu wollen. 

Auch Letzteres stimmt nicht nur nicht, es wäre für den Großteil der Weltbevölkerung auch eine legitime Perspektive. 

Demokratie der Spezies

Aber der Reihe nach. Macht hat mit Gewalt zu tun, das bildet Demokratie keine Ausnahme. Demokratie legitimiert, wo Gewaltausübung stattfinden kann. Und weil – aus philosophischer und aus banaler Perspektive, Gesetz nicht mit Gesetz legitimiert werden kann (auch wenn Rangordnungen zwischen unterschiedlichen Normen dafür sorgen, dass Bürokratie und Justiz funktionieren), werden letztlich diverse, oft ins Mystische abgleitende Begründungen herangezogen. Diese Begründungen funktionieren in Kolonien weniger, sie prallen dort auf andere Mythen und sie sind nicht aus kulturellem Vorverständnis heraus erklärbar. Das ist ein Grund, warum in Kolonien der Weg zur Gewalt kürzer war: Die da kennen unsere Regeln nicht, also gelten sie auch nicht für sie. 

Wie, und das ist die zentrale Frage in Mbembes Essay, lassen sich dann Regeln für eine globale Demokratie schaffen? Mbembe nennt das eine Demokratie der Spezies, die für alle Menschen funktionieren kann. 

Die Anderen bleiben draußen

Eine wesentliche Voraussetzung dafür sind die Möglichkeiten des Begegnen und Verstehens. Mbembe sucht Situationen der Begegnung, in denen andere nicht nur zum Objekt gewordene Andere sind – oder in denen zumindest klar ist, dass sie die Anderen sind, von denen wir nichts wissen (und umgekehrt). Für solche Begegnungen, vor allem für die Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin, für die Hürden, die dem vielleicht hartnäckig im Weg stehen, sind koloniale Fantasien natürlich ausgiebiger Stoff. Man fürchtet sich voreinander, man hat kein Bild vom anderen, andere sind Objekt, Rohstoff, Ware, sie sind Fläche für Phantasien, oft bedrohlich, jedenfalls ganz anders  Das andere, das andere Denker über psychoanalytische Umwege festzumachen versuchen, ist bei Mbembe der N* (vor allem in seiner Kritik der Schwarzen Vernunft hält er hartnäckig an diesem Begriff fest). Der N* ist nicht durch Hautfarbe oder Herkunft bestimmt, er ist das ganz andere, das sich den üblichen Kategorien entzieht, auch wenn es vielleicht genau nach diesen erfasst werden möchte. Je mehr etwas unfassbar anders ist, desto stärker ist das Bestreben, es zu erfassen und zu regulieren, desto mehr konzentrieren sich jene, die es regulieren möchten, auf das Erfassbare, desto wichtiger werden Biopolitik und Nekropolitik in ihrer einfachsten, auf den Körper ausgerichteten Form. 
Mbembe umkreist seine Themen in mehreren auch unabhängig voneinander lesbaren Kapiteln. Manche beschäftigen sich eher mit Demokratie, Freiheit und kolonialen Perspektiven, andere auch mit sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, andere verfolgen Spuren der Rechtfertigung von Gewalt weiter.  In all diesen Linien steht für Mbembe die Frage nach dem Umgang mit dem Anderen im Vordergrund. Das Andere, das können Menschen sein (das sind die Passagen, in denen Kritiker dann Kolonialismus als Universalkeule sehen), das können Fragen sein, auf die wir keine Antwort wissen, oder auch ungeklärte Gründe. Mbembe diagnostiziert dabei auch einen gewissen Hang zum Anderen. Das Andere ist nicht immer nur bedrohlich, es ist auch praktisch – gerade seiner Bedrohlichkeit wegen. Es ist ein Argument, es ist ein Grund, es ersetzt letzte Gründe. In einem der Kapitel etwa stellt Mbembe Parallelen zwischen Animismus und Kapitalismus fest: Werden sie infrage gestellt, ziehen sich beide auf mysteriöse Mächte zurück, die im Hintergrund wirken, die keine Gegenwehr und keine Gegenargumente dulden und Zusammenhänge herstellen und erklären.  In einem anderen Kapitel beschäftigt er sich mit dem Umgang mit Andersartigkeit, mit dem Bedürfnis nach Lösungen im Umgang mit dem Anderen, die auch schnell auf Sehnsucht nach großen Entscheidungen hinausläuft. Das ist das Thema populistischer Politik, die klare und eindeutige Lösungen verspricht – und die Symbolfigur jener, die sich große und endgültige Entscheidungen wünschen, ist der Selbstmordattentäter, der Entscheidungen und ihre Endgültigkeit auf die Spitze treibt.

Ethik des Passanten

Ist das lösbar, lassen sich Verbindungen und ein Boden für gemeinsame Entscheidungen finden, wenn die Beschäftigung mit dem Anderen derart im Mittelpunkt steht? Im letzten Kapitel stellt Mbembe knapp auf wenigen Seiten das Konzept einer Ethik des Passanten vor. Passant ist in diese Fall eine Figur, die vorübergeht, manchmal stehenbleibt und sich einmischt, manchmal solidarisch ist, manchmal losgelöst, manchmal nah dabei oder doch auf Distanz, „aber niemals gleichgültig“. – Das lässt sich als Beschreibung ebenso lesen wie als Aufruf, als Problem ebenso wie als Lösung. Und das ist einer der Kritikpunkte an Mbembe, die ich gelten lassen würde: Die Feststellung des Anderen allein bringt uns nicht weiter. – Aber sie ist trotzdem so lange wichtig, solange es für einige neu ist, dass es das Andere oder die Anderen gibt, ebenso wie uns selbst.

Viktor Mayer-Schönberger, Thomas Ramge: Das Digital

MayerSchönberger Ramge Das Digital

Ein Jurist und ein Journalist schreiben ein Buch über die Zukunft der Wirtschaft. Und das ist zugleich auch die Schwäche dieses Buches. Akademische Forscher und Medienmenschen sind Beobachter und bei aller gewissenhaften Recherche Außenstehende, gerade was soziale Dynamik oder fehlende Dynamik in Unternehmensorganisationen betrifft. So werden Mercedes und Spotify gleichermaßen als Vorzeigebeispiele flexibler moderner Organisationsformen beschrieben – und alle, die mal in großen Konzernen gearbeitet haben, wissen, wie seltsam es ist, die eigene klägliche Arbeitsrealität in schillernden Worten in Medien beschrieben zu sehen. 

Aber worum geht es eigentlich?

Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge denken über die Auswirkungen digitaler Transformation nach. Mit Überwachung, Kontrolle und Manipulation halten sie sich, im Gegensatz zu Shoshanna Zuboff, nicht lange auf. Das lässt den Blick frei für andere Perspektiven.  Natürlich stehen Märkte im Mittelpunkt.

Digitale Märkte organisieren schnell, kleinteilig und flexibel, sie koordinieren Wissen. Digitale Märkte sind ähnlich wie das, was man früher Netzwerke nannte. Sie ergänzen, in zunehmendem Maß ersetzen sie auch, große und starre Organisationen.  Das sorgt für präzisere und effizientere Koordination, aber es geht zu Lasten von Stabilität und Sicherheit. Beziehungen müssen neu hergestellt werden, Entscheidungen müssen anhand neuer Informationen und Sachlagen nie getroffen werden – sie richten sich nicht nach von Fakten unberührten Regeln oder Glaubenssätzen. 

Auf diesem Weg kommt dann doch wieder Kontrolle ins Spiel. Ein Weg, doch zu mehr Sicherheit im Sinn von Kontrollierbarkeit zu kommen, ist überbordende Überwachung, die immer dichtere Daten schafft. – Da darf natürlich das Cybersyn-Experiment der chilenischen Diktatur nicht als düsterer Warnhinweise am Horizont fehlen.

Datenreichtum ist eine Richtung, in der Mayer-Schönberger und Ramge neue Wachstumsperspektiven und auch neue Steuerungsmechanismen für Märkte sehen. Von Geld nämlich gibt es zu viel – und es lässt sich zu leicht vermehren, teilen, aber nicht unbedingt sinnvoll einsetzen. Daten dagegen sind produktiv. Wer sie hat, trifft bessere Entscheidungen, handelt effizienter und gewinnt Vorsprung vor anderen. Die Autoren denken sogar an eine Datensteuer: Unternehmen sollen nicht Geld zahlen, sondern Daten offenlegen, damit Wissen allen zur Verfügung steht.

Dass auch hier die Perspektive wieder ein wenig theoretisch ist, zeigt ihr eigenes Beispiel von Banken. Banken wissen sehr viel, sie haben Daten, sie können aus Daten noch mehr Information ableiten – und sie können dennoch sehr wenig damit anfangen. Neben einem Rest von Unsicherheit bleibt vor allem immer noch Unentschlossenheit, die Banken vom Handeln abhält. Vielleicht werden Geschäftsbanken auch die erste Branche sein, die trotz einer Fülle von Daten verschwindet. Niemand braucht sie mehr.  Peer to Peer-Finance, FinTech-Innovationen und Crowdinvesting setzen an, Banken das Wasser abzugraben. Wer dagegen mit Daten und Informationen arbeitet und gut Geschäfte damit machen, sind Investmentbanken – mit all den Schattenseiten, die Investmentbanking mit sich bringt. 

Auch in dieser Analyse, selbst wenn sie inhaltlich zu teilen ist, macht sich eine recht deutliche akademische Distanz der Autoren zum ihrem Gegenstand bemerkbar. Sie mischen Crowdfunding und Crowdinvesting und sehen Kickstarter als Finanzierungsplattform für Startups, obwohl dort allerdings eher Produkte finanziert werden. Diese Unschärfe schwächt auch ihr Argument für die Effizienz von Markt-Plattformen wie Kickstarter: Zwar scheitern dort nur 15% der Projekte (diese Zahl führen die Autoren an), es sind aber eben nur Projekte und keine Gründungen, wie die Autoren offenbar meinen. (Und für fertig konzipierte und finanzierte Projekte halte ich eine Scheiterquote von 15% im übrigen für relativ hoch.)

Märkte wie sie Mayer-Schönberger und Ramge beschreiben, sind natürlich trotz aller Koordinationsfähigkeiten keine rosigen Plätze. Gerade in Zeiten praktisch weltweiter Skalierbarkeit von nahezu allem wird die Verhandlung auf Märkten immer mehr zu einem Alles-oder-Nichts-Spiel. Es ist erst entschieden, wenn es einen sehr eindeutigen Sieger gibt. In diesen monopolistischen Tendenzen sehen die Autoren Gefahr für Innovation – und einen Hinweis darauf, dass steigende Unternehmensgewinne diesen Hang zum Monopolismus verstärken. Geld wird weniger in Innovation oder neue Produkte investiert oder verteilt, es wird zunehmend entweder abgeschöpft – oder in Prozesse und Formalismen investiert, die die Marktposition stärken. Wichtiger als neue Funktionen, die neue Kunden anlocken, sind Convenience-Elemente, die Kunden stärker binden – oder ihnen den Ausstieg schwerer machen. Das ist gut fürs Geschäft, aber schlecht für die Sache. 

Auch hier argumentieren die Autoren wieder für mehr Drang zur Offenheit und Offenlegung von Daten. Unternehmen, die ihre Steuern über Daten und Offenheit zahlen, können sich weniger gut abschotten und anderen den Weg nicht so leicht erschweren. Was allerdings voraussetzt, dass andere diese Daten zu nützen wissen. 

Digitaler Kapitalismus wird oft als Schreckensvision beschrieben. Mayer-Schönberger und Ramge zeigen eine deutlich freundlichere Perspektive. Allerdings eine, die sehr mündige, zielstrebige und technisch versierte BürgerInnen und PolitikerInnen voraussetzt. 

Was, wenn die “Erfolgsgeschichte Europa” nur Zufall war?

Ein Sendbote aus der Zukunft, ein Wink (oder Anklopfen) Gottes, eine glückliche Fügung für die Natur – dem Corona-Virus hat man schon viel in die Schuhe geschoben. Dramatische Maßnahmen, drastische Einschnitte, Unsicherheit – das verlockt offenbar viele zu reflexartige großen Worten. Manche ergehen sich eben in Visionen einer Post-Krisen-Ära, andere beschränken sich darauf, dass alles anders wird (und sie die ersten sein werden, die es uns erklären – sobald es ihnen eingefallen ist), und wieder andere greifen eben nur zur großen Geste.  Zur großen Geste griffen vor allem auch Regierungsmitglieder, als sie verkündeten, die Wirtschaft lahmzulegen und gleichzeitig zu retten: “Koste es, was es wolle.“ Da steckten gleich mehrere Versionen von Größe drin:  Die Krise war groß, denn sie erforderte solche Maßnahmen.  Die Maßnahmen waren groß.  Und auch jene, die diese Maßnahmen verkündeten, waren groß.

Das ist knapp zwei Monate her. In der Zwischenzeit hat man gesehen, dass tatsächlich vieles auf dem Spiel steht. Schließungen, Sperren und Veranstaltungsverbote haben weite Kreise gezogen. Das hat Abhängigkeiten sichtbar gemacht, die vielen vielleicht nicht offensichtlich waren. An großen Industriemessen hängen nicht nur die Salesabteilungen der Industrieunternehmen, sondern auch Messebauer oder Tischler, die Messestände herstellen, Werbeagenturen, die Verkaufsfolder gestalten, Filmproduktionen, die Produktvideos erstellen. An Festivals und Konzerten hängen nicht nur Veranstalter und Bands, sondern auch Labels, Promoter und geplante Kampagnen, an denen hängen wiederum Medien, für die entfallene Veranstaltungen entfallende Inserate bedeuten.  Klingt alles logisch und nicht weiter erwähnenswert. 

Zufälle kann man nur schwer wiederholen

Aber die Hilfsmaßnahmen zur Rettung der Wirtschaft, ihre Lücken und das laufende Nachbessern haben durchaus auch offenbart, dass unsere scheinbar durchorganisierte und durchgestaltete Gesellschaft vielleicht doch eher nur zufällig funktioniert. Man kann sie, so wie die Wirtschaft, leicht sperren, abdrehen, herunterfahren. Aber es ist sehr schwer, sie wieder zu öffnen, ihr auf die Sprünge zu helfen.

Am deutlichsten zeigt sich das im Umgang mit den Kleinen: Kleinunternehmen und Ein-Personen-Unternehmen kamen zuerst in den Hilfsprogrammen, die auf Kurzarbeit und Kredite setzten, nicht vor. Dann wurden sie in einem eigenen Härtefallfonds berücksichtigt, der betroffenen ein wenig Taschengeld zusichert. Dann wurde heftige Kritik laut, weil auch Kleinunternehmen genau so wie große laufende Kosten decken müssen und daher nicht nur ihre Gewinne, sondern auch ihre Umsätze brauchen. Schadenersatz für verlorene Gewinne hilft vielleicht beim Überleben der UnternehmerInnen, die Unternehmen selbst können aber nur mit zumindest teilweisem Schadenersatz für verlorene Umsätze überleben. Dann wurde mit dem Hilfsfonds nachgebessert, der auch für Kleine Zuschüsse zu Fixkosten bieten soll – diese werden aber mit Zahlungen aus dem Härtefallfonds gegengerechnet. Unter dem Strich bleibt also nichts. Ein-Personen-UnternehmerInnen konnten sich entscheiden, ob sie von den Hilft-Almosen ihre Betriebskosten zahlen – oder doch lieber was zum Essen kaufen. – Und dann wurde auch das noch mal über den Haufen geworfen und anders entschieden. 

„Immer weiter“ ist auch eine Seitwärtsbewegung

Man kann das laufend notwendige Nachbessern als Zeichen der Realitätsferne der handelnden Personen sehen. Man kann es aber auch als ein besonders deutliches Beispiel dafür nehmen, wie wenig Politik eigentlich tun kann, wenn sie im positiven Sinn konkret werden soll, wenn sie etwas anderes tun soll, als entweder zu verbieten oder grobe Rahmenbedingungen zu schaffen. 

Vieles funktioniert, weil es sich entwickeln konnte und so zu guten Lösungen geführt hat, die man am Reißbrett oder von der Kommandobrücke aus nicht hätte entwickeln können. 

Das kann ein gutes Zeichen sein – aus dem Chaos entsteht etwas Funktionierendes, wenn man die Menschen nur machen lässt. Oder es kann auch ein Zeichen dafür sein, dass das, was wir für verlässliche Entwicklungen halten, für eine laufende Erfolgsgeschichte, vielleicht nur auf dünnem Eis gebaut ist. 

Ausnahmeszenario Stabilität

Die Corona-Krise hat jetzt mal etwas spektakulärer an Gewohntem gerüttelt. Die Crashs nach der Finanzkrise waren dagegen vergleichsweise klein. Jetzt sind alle in irgendeiner Form betroffen.  Trotzdem tun die einen so, als ob man alles mit nur ausreichender Anstrengung wieder in den gewohnten Gang bringen könnte. Andere tun so, als sei jetzt endlich ein großer Einschnitt da, der uns zum Umdenken zwinge. 
Die Perspektive, die mir fehlt, ist die, dass wir uns eigentlich seit längerem eher seitwärts als vorwärts bewegen. Wir waren es immer gewohnt, vor allem Europa als Erfolgsgeschichte zu betrachten: Menschenrechte, Freiheit, Wohlstand, Wirtschaftswachstum – das war die erklärte Richtung und das Vorbild für andere. Die Tatsachen, auf denen das Bild gründet, gehören allerdings schon länger der Vergangenheit an. Wirtschaftswunder gibt es hier schon länger keine mehr, wirtschaftspolitische Rezepte aus der Nachs- oder gar Zwischenkriegszeit empfinde ich eher als bedrohlich denn als lösungsorientiert (egal, ob sie jetzt mehr oder weniger Staat predigen). 

Der Historiker Eric Hobsbawm beschrieb das 20. Jahrhundert im gleichnamigen Buch als “Zeitalter der Extreme”und war Anfang der Neunziger Jahre, als er das Buch schrieb, ungewöhnlich pessimistisch. Er empfand die Phasen des Wirtschaftsaufschwungs in der Nachkriegszeit als unerklärlichen Ausreißer, nicht als logische Folge kollektiver Anstrengung. Das endgültige Ende des Kalten Kriegs war für ihn auch eher ein Nebenschauplatz, der schon längst von neuen Krisenszenarien überholt war. Wem Hobsbawm zu eindeutig politisch exponiert ist, der kann sehr ähnliche Thesen auch bei Ian Kershaw und seiner Geschichte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lesen. 

Wenn wir jetzt schon die Corona-Krise zum Anlass nehmen sollen, Dinge neu zu denken, dann würde ich gerne dort ansetzen. Vielleicht haben wir uns unsere eigene Geschichte die längste Zeit falsch erzählt. Vielleicht können wir auf gar keine Erfolgsgeschichte von immerwährendem Fortschritt, die wir auch in andere Kontinente exportieren müssen, zurückblicken. Vielleicht können wir uns, wenn wir Zukunftsperspektiven suchen, eher an anderen Kontinenten,  in denen das Behelfsmäßige, Improvisierte seit jeher das bestimmende Element ist, orientieren. 

Mit dem Durcheinander anfreunden 

Gerade im Licht der Corona-Krise blicken viele aus Europa besorgt nach Afrika. Das Virus werde den Kontinent hart treffen, heißt es. Schwache Volkswirtschaften seien nicht dafür gerüstet, der dramatischen Wirtschaftskrise zu begegnen. Das ist eine Sichtweise. Bemerkenswert ist aber, dass diese Einschätzungen oft eher auf Gefühl beruhen und wenig auf Tatsachen gestützt sind. Der Kontinent sei dicht besiedelt, Wasserversorgung sei ein Problem – all das stimmt. Auf der anderen Seite haben viele Länder Afrikas Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Viren, Einschränkungen können leichter durchgesetzt werden – und Händewaschen in Restaurants ist in vielen Regionen weiter verbreitet als in Europa. 

Und was die wirtschaftlichen Einschränkungen betrifft: Viele Menschen sind es gewohnt, in kleinen Schritten zu denken und zu handeln. Man verlässt sich nicht darauf, dass alles so bleibt wie es ist, man verlässt sich nicht auf staatliche Hilfe oder Bankgarantien. Für Wachstum und Weiterentwicklung ist das schlecht. Aber es ist resilient und pragmatisch.  

Vielleicht ist es ja auch für Europa an der Zeit, die Perspektive zu wechseln und sich von der Vorstellung langfristiger stetiger Entwicklung zu verabschieden – zumindest, sofern es das tägliche Leben der Menschen betrifft. Seit Douglas Coupland 1991 Generation X veröffentlichte, hat die Vorstellung vom ewigen Aufstieg ohnehin schon ihren Knacks. Kinder haben nicht mehr die stetigen Karrieren ihrer Eltern, Anlagemöglichkeiten sind weniger sicher, Eigentum ohne Erbschaft ist außer Reichweite. Trotzdem wurde diese Entdeckung seither alle paar Jahre neu gemacht, immer wieder sind neue Generationen der Meinung, sie wären die ersten, die schlechter aussteigen werden als ihre Eltern, immer wieder betrachtet man das als eine Zäsur. Offensichtlich hält diese Abwärtsbewegung seit nun über 30 Jahren kontinuierlich an und schafft es trotzdem, immer wieder Erstaunen hervorzurufen, immer wieder neu als aktuelle Entdeckung verpackt zu werden. 

Ich sehe das als Indiz dafür, wie schwer wir uns tun, uns von der Wachstums- und Erfolgsgeschichte zu verabschieden. Immer mehr für alle – das ist das Versprechen, das, wenn wir Hobsbawm oder Kershaw folgen, auf einem Zufall, einem Irrtum beruht, aber trotzdem hartnäckig weitererzählt wird. Und immer öfter kommt man immer wieder erstaunt zu dem Schluss, dass es gar nicht gilt.

Alles oder nichts statt Wachstum 

Die Wachstumsgeschichten haben sich verändert. In einer Alles-oder-nichts-Logik lassen wenige Giganten wenig Platz für andere Unternehmen. Durchschlagender Erfolg wird zum Ausnahmeszenario. Das Bild solider Familienunternehmen, die mit Qualität und Verantwortung reich wurden, ist durch das ellbogenaktiver StartUps abgelöst. Effizienz, Durchsetzungsvermögen, Einzigartigkeit – das sind die Kriterien, die die Vorstellung vom friedlichen Biotop, in dem genug Platz für alle ist, abgelöst haben.  Das kann unterschiedlich gesehen werden. Eine Interpretation ist: Es geht ja doch. Es ist möglich, Erfolg zu haben, die gleichen Erfolgsstorys zu schreiben, die man sich im vergangenen Jahrhundert gewünscht hat – sogar noch mehr, schneller, weiter. Man muss es nur wollen und sich diesem Prinzip unterordnen. 

Eine andere Möglichkeit ist es, unsolidarische Auslesen zu beklagen. Übrig bleibt, wer den anderen nichts übrig lässt. 

Noch eine Interpretationsweise wäre es, das Augenmerk auf Kleinteiligkeit und Initiative zu legen: Wo sich etwas bewegt, dort kommt diese Bewegung nicht aus großen Programmen, es ist ein weitaus kleinerer Rahmen, in dem Aktivität stattfindet. Im klassischen Bild muss dieser kleine Rahmen immer verlassen, am liebsten gesprengt werden. Es muss wachsen, groß werden, Arbeitsplätze schaffen. Das ist notwendig, um die Erfolgsgeschichte für alle zu gewährleisten. Das waren wir so gewohnt. Das findet aber weniger und weniger statt. 

Das wäre nun gar nicht so tragisch, wenn wir sozial und wirtschaftspolitisch damit umgehen könnten. 

Damit landen wir wieder bei den Kleinunternehmen, die am Anfang der Überlegungen standen.Das sind diejenigen, die am längsten arbeiten können, auch wenn sich rundherum alles ändert, weil sie am wenigsten Ballast mitschleppen. Und diejenigen, die am schnellsten wieder arbeiten können, wenn man alles den Bach runtergegangen ist.  

Das Problem: Bislang wurden Klein- und Einzelunternehmer eher als unterste Entwicklungsstufe gesehen, als etwas, das vielleicht mal eine Unternehmen werden kann. Mit Netzwerk- und Kommunikationstechnologien können aber gerade einzelne viel schnell bewegen. Kleine und agile Organisationen können sich gut anpassen, Entwicklungen vorwegnehmen und schnell umdisponieren, wenn sie doch falsch liegen. 

Eigentlich sind sie das Modell der Zukunft – gerade dort, wo große Industrieproduktion nicht mehr stattfindet, weil sie zu teuer ist (wie in Europa) oder noch nie stattgefunden hat (wie in großen Teilen Afrikas) weil Transportwege und andere Infrastruktur nicht passen. 

So schreibt man vielleicht keine großen Wachstums- und Erfolgsgeschichten, man kann schwer, meinetwegen kaum Kontinuität über Generationen hinweg schaffen (wobei das auch andere Ursachen hat) – aber es ist schlicht auch angemessen.  

Die neue Kleinteiligkeit

Dafür gibt es aber noch wenig wirtschaftspolitisches Verständnis. Auch das hat sich vor allem in der Corona-Krise gezeigt, als es darauf angekommen wäre, gerade die Kleinen zu stärken und zu erhalten. Das war zwar erklärtes Ziel – die dafür getroffenen Maßnahmen gingen aber in mehreren Runden am Ziel vorbei. 

Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge beschreiben in ihrem Buch „Das Digital“ eine von Unternehmen als Organisationsinstrumente menschlicher Arbeit zu Märkten als Koordinationsort von Informationen reichende Entwicklung. Als im wesentlichen Informationsmärkte sind Märkte dabei datengetrieben. Als weitaus kleinere und schnelle Einheiten haben sie so das Potenzial, die besseren Angebote zu schaffen. 

Auch diese Perspektive verabschiedet sich vom Idealbild der großen Tanker und Flaggschiffunternehmen – und sogar von der Vorstellung, dass ein Markt, der immer größere immer erfolgreichere Unternehmen hervorbringt (oder zulässt), wenigstens für gute Kapitalgewinne sorgt, wenn schon Lohnquoten sinken. Mayer-Schönberger und Ramge zitieren Daten, denen zufolge auch Kapitalrenditen sinken – sie landen nur noch in Unternehmensgewinnen. In einer Alles-oder-nichts-Logik, die zum beherrschenden Modell von Erfolg, Aufmerksamkeit, Reichweite und anderen monetarisierbaren Elementen wird, fließen Gewinne zunehmend nicht in Forschung und Innovation, sondern darin, die Position abzusichern, indem Geschäftsmodelle exklusiver, ausschließender und kontrollierbarer gemacht werden. Das ist eine Entwicklung, gegen die auch das Marktmodell aus „Das Digital“ erstmal nur auf die Zukunft setzen kann. 

Wenn wir jetzt tatsächlich über neue Zeiten nachdenken wollen und uns dabei nicht bloß in Glitzervisionen einer vagen neuen Welt ergehen wollen, dann wäre es wohl ein wichtiger erster Schritt, offen für eine neue Kleinteiligkeit, ihre Netzwerke und ihre Effizienz zu sein. – Das ist es ja auch, was TheoretikerInnen eines neuen datengetriebenen Kapitalismus beschreiben. Und das ist eigentlich, was bislang als Heilsbringer für eine in Schwierigkeiten geratene Wirtschaft gesehen wurde. Die Schattenseite dabei war bis jetzt aber auch, dass Flexibilität, Dynamik und Kleinteiligkeit eben nicht zu soliden, kontinuierlich wachsenden und Verlässlichkeit bringenden großen Strukturen führen. Das galt bislang als Schwäche. Eine reale zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik dagegen würde das als Realität akzeptieren – und sich damit anfreunden. Auch wenn es zu Lasten der bislang gewohnten Erzählungen geht.

Warum ich allergisch auf Prophezeiungen bin

Trends sind eine dankbare Angelegenheit. Sie betreffen immer die Zukunft, sie verändern sich, manchmal sind sie eine langwierige Angelegenheit, andere verpuffen, kaum wurden sie diagnostiziert. Bewegte Zeiten sind noch bessere Zeiten für Trenddiagnostiker: Es liegt auf der Hand, dass sich etwas ändern könnte, Trends beschreiben Veränderung – also bricht hier ihre Blütezeit an. Und die Welt hungert in bewegten Zeiten nach Trends, wenn alles in Bewegung und nichts mehr selbstverständlich erscheint, dann ist auch die kryptischste Prophezeiung willkommen. Sie könnte einen Hinweis darauf geben, was man tun kann oder soll, wie man Ungewissheiten begegnet. Auch wenn sie kaum schlüssiger ist als ein Horoskop. Irgendwas wird in den Raum gestellt. Es könnte plausibel sein, wenn man denn möchte, dass es plausibel ist. Aber es ist dennoch – mindestens ebenso beliebig.  Ich entwickle zunehmend eine Allergie gegen diese Arten von Zukunftsdiagnostik und Prophezeiungen. Das hat mehrere Gründe. Ein ganz banaler und auf den ersten Blick auch widersprüchlicher Grund ist: Ich bin immer auf der Suche nach Optionen und Lösungen. Als Selbstständiger, der jede Entscheidung, die er trifft, auch umsetzen muss, ist es essenziell, handeln zu können. Auch in unklaren Zeiten. Trendprognosen und Prophezeiungen leben zwar von dem Nimbus, solche Handlungsanleitungen geben zu können, sind aber das genaue Gegenteil. Sie beschreiben Optionen, die sich vielleicht eines Tages in undefinierten Zeitplänen materialisieren werden. Man kann versuchen, daraus Richtlinien für eigene Entscheidungen zu treffen und darauf hinarbeiten, dafür gerüstet zu sein. Vielleicht materialisieren sie sich aber auch nicht so. Dann hat man halt Pech gehabt.

Das mit dem Pech ist normaler unternehmerischer Alltag. Nicht alles funktioniert, nicht alles bringt Geld. In kreativen oder innovativen Branchen gilt das umso mehr.  Deshalb ist es bei aller Schönheit, die gut formulierte weitsichtige Trendprognosen an sich haben, umso wichtiger, kurzfristig zu handeln. Es ist schön, zwanzig Jahre später festzustellen, dass man recht hatte – aber was hat man in diesen zwanzig Jahren gemacht, wovon hat man gelebt? In zwanzig Jahren hatte man üblicherweise überdies so viele Ideen, dass irgendeine davon schon richtig gewesen sein wird – aber das kann sich ja auch in sehr unterschiedlicher Intensität auswirken, von „Hab ich mir auch schon mal gedacht“ bis „Ich hab damit Millionen verdient“.

Diese beiden Punkte, die Schönheit und die Diversität von Prognosen und Prophezeiungen, sind das nächste Problem. Prophezeiungen nehmen Verwirrung zum Anlass, Klarheit zu schaffen. Aus einem Gewirr von Informationen destillieren sie ein paar Punkte heraus, die zu verfolgen sich lohnen soll. Je unspezifischer und vager die Ausgangslage ist, desto bessere Zeiten sind es für Prophezeiungen; das Vage, Ungewisse ist der beste Freund des Propheten, der sich in die Lage versetzt, es zu entschlüsseln und den anderen zu übersetzen – ganz so wie alte Propheten Gebote und Testamente empfangen haben.

Auch die solide argumentierten Prophezeiungen sind Kinder dieser Ungewissheit. Sie müssen irgendwo ansetzen, sich selbst ein Fundament schaffen. Von dort aus können sie dann wieder mit Logik anderen nachvollziehbaren Techniken arbeiten. Es kommen sogar Argumente, eine an sich in Vergessenheit geratene Kulturtechnik, wieder ins Spiel.  Trotzdem bleiben nüchtern betrachtet zwei große Schwächen erhalten. Die erste: Der Ausgangspunkt ist selbst geschaffen. Prognosen und Prophezeiungen setzen irgendwo an – sie müssen eine willkürliche Entscheidung treffen, um sich ein Fundament zu schaffen. Bevor man dann von dort aus argumentieren kann, muss auch noch eine Werteentscheidung getroffen werden. Die gibt die Richtung vor. Prognosen und Prophezeiungen funktionieren schließlich nach dem Muster: Wir sind, wo wir nicht bleiben wollen, also wollen wir anderswo hin. Eine Variante wäre noch: Auf uns kommen Entwicklungen zu, die das, was wir haben, nicht mehr wünschenswert erscheinen lassen. Oder: Wenn wir so weitermachen, entfernen wir uns von dem, was wir eigentlich haben sollen.

Und wo ist jetzt das Problem?

Prognosen und Prophezeiungen sind unterhaltsam; allerdings verleiten sie oft dazu, uns mit dem falschen Teil zu beschäftigen. Der spektakuläre Teil von Prophezeiungen, mit dem man sich gern beschäftigt, ist der, nachdem die zwei beschriebenen Schwächen überwunden wurden. Danach entwerfen sie bunte, verlockende, beängstigende, spektakuläre oder beeindruckende Bilder, die uns in ihren Bann ziehen. Über die können wir diskutieren, wir können uns fürchten, freuen, inspirieren lassen oder in Angst erstarren.

Das ist allerdings so, als würde man einen Lottogewinn verplanen oder gar schon ausgeben, noch bevor man überhaupt einen Lottoschein ausgefüllt hat.  Denn der relevante Teil, der, den man analysieren und bewerten kann, das sind die Entscheidungen davor, die Standortbestimmung und das Werturteil, das die Richtung vorgibt. Das sind Entscheidungen, deren zugrundeliegenden Fakten man annähernd kennt und über die man sich ein Bild machen kann. Trotzdem kann man sie auch für falsch halten, trotzdem beruhen sie zu einem guten Teil auch auf Meinungen.  Und es sind die Entscheidungen, die ganz praktisch im Alltag getroffen werden müssen.

Aus ganz praktischer Sicht „sinnvoller“ wäre es also, sich mit diesen ersten beiden Entscheidungen zu beschäftigen. Aber das ist im Vergleich zu Visionen und großen Entwürfen natürlich langweilig und unspektakulär.  Blöd, dass ich kaum anders kann.  Immer, wenn ich tolle Visionen, Prognosen und Prophezeiungen höre, kann ich nicht anders, als nach diesen zwei Entscheidungen zu suchen. Und diese Entscheidungen sind es dann auch, die darüber bestimmen, ob ich Prognose und Prophezeiung relevant finde. Oder ob ich zu dem Schluss komme, dass sich hier jemand in ein buntes Bild, eine spektakuläre Vision verliebt hat, und nun nach Krücken sucht, mit denen diese sich stützen ließe. Unterhaltsam kann das ja trotzdem sein, aber man könnte es dann ja auch schlicht Unterhaltung nennen …

Ryu Murakami: In Liebe, dein Vaterland

Ich finde japanische Literatur sehr schwer verdaulich. Egal ob Kenzaburo Oe, Osamu Danzai, Kazuki Kaneshiro – es sind immer ultradepressive Storys, die in Schwermut und Schande enden. E gibt nicht mal dramatische Enden oder Heldentode, es geht einfach immer direkt auf den worst case zu und unterbietet diesen dann noch. Meist gibt es keine Auflösung, kein Drama, einfach nur schleichende Depression, alles ist mies, Leiden und Elend.

Ryu Murakamis 1000-Seiten Epos “In Liebe, dein Vaterland” lässt erst mal ähnliches vermuten: Nordkorea setzt zur Invasion in Japan an, ein gewinkelter Plan tarnt Soldaten als abtrünnige Rebellen, die eine Insel in Japan besetzen, um von dort aus angeblich Nordkorea zu stürzen. Das hemmt die internationale Gemeinschaft, die Nordkorea gerne fallen sehen möchte, und das nimmt auch ganz Japan selbst im doppelten Sinn in Geiselhaft: Man kann nicht hart durchgreifen, um die eigenen Leute nicht zu gefährden, und außerdem würde man ja auch gern gegen Nordkorea vorgehen.

Die nordkoreanischen Soldaten sind keine guten; sie verhaften Volksfeinde, beschlagnahmen deren Vermögen, um ihre Operation zu finanzieren, foltern und töten.  Was nach einem klassischen Worst case-Setup klingt, wird eine aufregende, vielschichtige und packende Erzählung, cool wie Thomas Pynchon (als der noch cool war – Pynchon Vineland habe ich mit Begeisterung gelesen, ein paar weitere seiner Bücher mit Hoffnung; Mason & Dixon ist eines der wenigen Bücher die ich halbfertig gelesen weggelegt habe), mysteriös wie Roberto Bolano und gnadenlos wie Sibylle Berg in ihren besten Zeiten.

Die Story mischt Erzählebenen aus der Perspektive der Nordkoreaner, der Japaner in den besetzten Gebieten, japanischer Regierungsbeamten in Tokio und einer geheimnisvollen Gang schwererziehbarer japanischer Jugendlicher, die im Lauf der Geschichte eine immer wichtigere Rolle bekommen.

Viel mehr kann man über die Handlung gar nicht verraten, ohne massiv zu spoilern.

Das Setting ist ein krisengebeuteltes Japan in der Post-Finanzkrisenzeit, in dem sich Armut und Obdachlosigkeit ausbreiten und das auch international ins Hintertreffen gerät. Dem stehen die Kummer gewöhnten Nordkoreaner gegenüber, die trotz all der Brutalität, die sie auf ihrem Feldzug mitbringen, in Japan dezente Freuden der Freiheit entdecken – wie etwa eigene persönliche Unterwäsche.  In Summe ergibt das eine unbedingte Leseempfehlung.

Erwähnenswert ist dabei auch noch, dass es mit dem Septime-Verlag ein recht kleiner unabhängiger Verlag ist, der sich an Übersetzung und Veröffentlichung gewagt hat. – Ein Grund mehr, das Buch zu kaufen.

Ist jetzt schon diese Post-Corona-Zeit, in der alles anders ist?

Haben wir jetzt schon diese Post Corona Zeit? Sind die Wiederauferstehung von Bauhaus, Möbelhaus und Döblinger Drogenpartys die Vorboten dieser Zeit des Neuanfangs und der Besinnung, deren Herold das Virus als Rückkehrer aus der Zukunft war?  Beginnt im Ansturm auf Elektrohändler und mit der Diskussion über Autokaufprämien die Gestaltung des postkapitalistischen Zeitalters?
Werden wir jetzt Zeugen dieser Ära, in der kein Stein auf dem anderen bleibt, in der ein Virus, so klein, dass man es gar nicht sehen kann, die Welt durcheinanderbringt und mehr bewirkt als Hunderttausende Fridays for Future-DemonstrantInnen in allen Erdteilen, als machtgierige Dikatoren hinter ihren Zäunen und mit ihren Zöllen? 
Können wir uns mit ruhigem Gewissen in dieses Zeitalter stürzen, wenn wir noch gar nicht wissen, ob das Virus nicht doch aus chinesischen Laboratorien entkommen ist oder gar freigesetzt wurde? 
Und soll es nun ein Kult der Fledermaus, des Schuppentiers oder doch des Mobilfunkmasten werden? 


Dutzende Lifestyle-ProphetInnen und InfluencerInnen haben uns ein neues Zeitalter versprochen, in dem der Neoliberalismus, den man schon hunderte Male besiegt hat, nun aber wirklich sein Ende finden wird, in dem turbokapitalistische Reißwölfe nichts mehr zum Schreddern finden, in dem Rassisten angesichts der Bedrohung von außen endlich einen gemeinsamen Feind und damit zueinander finden und sich auf das Gemeinsame besinnen. Eine Zeit des Innehaltens und der Besinnung haben sie heraufbeschworen, in der Konsum einen neuen Stellenwert bekommen wird – und schließlich eine neue Normalität

In Europa leben wir noch keine zwei Monate mit der konkreten Corona-Krise und haben doch schon einiges durchlaufen. 
Gemeinsam mit den Zusammenhalten-Euphorikern machten die “Grundeinkommen jetzt“-Rufer die erste Welle. 
Fast zeitgleich kamen die, die das Fehlen der Schuldenbremse und hohe Staatsquoten feierten.  
Dann kamen Arbeitsplatzgarantie- und Mindestlohnfighter. 
Dann wurde es ein wenig vage, es kamen die Propheten, die mit weisem Gestus erklärten, das „danach“ alles „anders“ würde Die eine Chance sahen. 
Die Entschleunigung genossen. 
Die Warnungen aus der Zukunft sahen, oder die Stunde des Kommunismus. 
Die jetzt Solidarität predigen. 
Oder Punkte-Pläne mit großen Überschriften erstellen.
Und trotz aller Unsicherheit, nie dagewesenen Zeiten, trotz der Einzigartigkeit, von der sie noch gestern predigten, heute genau wissen, was zu tun ist.

Absurde Mischung? Ja. Aber das alles sind Zitate aus loser Beobachtung. Ich habe den Müll nicht mal systematisch gesammelt (nur die ersten paar Tage).
Es sind Dinge, die Publizisten, Forscher, Politiker und Expolitiker in den Raum stellen, mit denen sie schnell und planlos auf einen neuen Zug aufspringen. 
Und während man noch staunt, was hier wieder für Müll an einem vorbeirauscht, kümmern sie sich schon wieder um das nächste Thema, bearbeite sie die nächste Baustelle und sondern die nächste Weisheit ab.  Manche sieht man dann noch, wie sie aus ihre Versteck amüsiert zusehen, wie andere versuchen, Sinn in ihren Fragmente zu finden. Oft haben sie aber auch selbst schon vergessen, was sie eigentlich gesagt haben. 

Allesamt sind sie die Speersitzen einer neuen Kulturtechnik unserer Zeit. Es ist die Kulturtechnik des Behauptens.  Behauptungen ersetzen Argumente, Wissen und Nachdenklichkeit.
Entschlossen Behauptende sind eine natürliche Bedrohung der Nachdenklichen, deren Einwände im Wirbel schöner neuer Wortfetzen untergehen. 

Ein bunter Spaß, der vor allem in Ausnahmesituationen blüht? Andere Umstände befördern das Behaupten vielleicht besonders – aber der Verzicht auf Argumente, eigentlich auf einfachste Grundzüge von Logik, ist schon lange keine Ausnahme mehr. 
Und das ist nicht nur schlecht für alle, die gern Argumente vorbringen würden. Es lässt auch alle allein, die eigentlich gern verstehen würden. 

Geld wächst nicht nach, Kosten schon

Ich geh ja nur zwei oder drei Mal im Jahr zum Friseur, insofern bin ich von Corona-Einschränkungen ja nur marginal betroffen. Ich dachte zuerst auch, dass grundsätzlich ohnehin viel an Geschäften weiterlaufen wird, weshalb es keine unmittelbaren Sorgen geben wird.

Coronabedingte Ausfälle im Agenturgeschäft, dachte ich, werden wohl erst im Herbst richtig schlagend werden. Dann wenn Unternehmen nach eine Nachdenkpause im Frühjahr, während der Isolationsphasen, eine Sommerpause angehängt haben, im September wieder auf Betriebstemperatur sind und im Oktober vielleicht hoffentlich schon wieder Entscheidungen treffen.  Bis dahin läuft noch einiges weiter, das sich auch sehr gut remote erledigen lässt, und außerdem ist ja noch einiges an offenen Rechnungen draußen.

Letztere werden nun zum Problem. Seit Mitte März, seit von Corona, Einschränkungen, Isolation und Quarantäne die Rede ist, habe ich keine nennenswerten Eingänge mehr am Konto. Ein paar Buchhändler haben ein paar Euro für kleine Bestellungen bezahlt, der Direktvertrieb über Onlineshops läuft weiter und das dank coronaspezifischer Aktionen recht gut – aber große Kunden lassen aus.  Da geht es zum Beispiel um einen Marktführer in Österreich mit 400 Millionen Euro Jahresumsatz, der keine Einbrüche in seinem Kerngeschäft hat; vielleicht fallen ein paar Zusatzservices weg, aber der Großteil der Einnahmen ist dort nach wie vor im Trockenen.  Oder um die Österreich-Niederlassung eines globalen Konzerns mit über 7 Milliarden Euro Jahresumsatz.  Oder um einen Konzern, der sich gleich 90 Tage Zahlungsziel ausbedungen hat und die noch überschreitet.

Offen sind für mich relevante Beträge in der Höhe von etwa einem Viertel des Jahresumsatzes. Für mich ist das relevant, für die Kunden eher nicht. Ich glaube auch nicht, dass da bewusste Entscheidungen getroffen wurden, Zahlungen einzufrieren. Vielleicht lassen sich ja nur vom Home Office aus nur die fehlenden Unterschriften nicht organisieren. Vielleicht ist der Zugang zur Freigabe von Überweisungen aus externen Netzwerken nicht möglich. Oder vielleicht haben Mitarbeiterinnen im Home Office einfach nicht die notwendigen Daten bei der Hand.

Die Frage ist ja: Ist das jetzt Krise oder nicht? Ich weiß (oder zumindest gehe ich hoffnungsfroh davon aus), dass noch einiges an Geld reinkommen wird, aber ich habe es noch nicht. Ich könnte einiges an Kosten für laufende Produktionen stoppen, um flüssig zu sein. Aber damit würde ich die Firma längerfristig lahmlegen. Also habe ich mich entschlossen, mich dann doch um diesen Härtefallfonds anzustellen.

Da steckt allerdings ein durchaus schräges Berechnungsmodell dahinter. Zwar wird der Umsatzrückgang als Grundlage herangezogen, um überhaupt festzustellen, ob hier gefördert werden kann. Gefördert wird dann allerdings nicht im Verhältnis zum Umsatzrückgang, sondern im Verhältnis zu einem durchschnittlichen fiktiven Nettoeinkommen aus dem Vorjahr.

Das bedeutet: Für einen Umsatzrückgang von 70% im ersten Betrachtungszeitraum würde ich knapp 1000 € bekommen. Nicht berücksichtigt ist dabei, dass der gerettete Umsatz (also die 30%) auf neue Produkte zurückzuführen ist, die zu entwickeln und zu vermarkten auch Geld gekostet hat. Ebenso zählt dabei nicht, dass dieses Geld eigentlich nicht entnommen werden kann, weil es zur Finanzierung anderer laufender Produkte gebraucht werden wird (so etwas kann man als Einzelunternehmer ja grundsätzlich nicht abbilden).

Und ich habe mich schon lange nicht mehr mit meinem Nettoeinkommen beschäftigt. Das geht wohl vielen so. Man betrachtet den Umsatz, zahlt Rechnungen, freut sich, wenn etwas übrig bleibt, und ärgert sich zugleich, wenn man davon mehr Steuern zahlen muss. Und ein „echtes“ Nettoeinkommen steht ja dann auch erst drei Jahre später fest, wenn die Sozialversicherung auch endlich abgerechnet hat.  Das ist in dem den Härtefällen zugrundegelegten Förderkriterien übrigens auch nicht berücksichtigt.

Das führt zu einigen merkwürdigen Konstellationen.

  • Schlecht steigen jene aus, die im Corona-Monat durch Investitionen und Mehraufwände Umsätze gerettet haben. Sie bekommen gar nichts oder weniger.
  • Schlecht steigen auch jene aus, die noch Zahlungseingänge aus älteren Projekten haben und für die die Krise erst später beginnen wird. Denn der Härtefallfonds läuft derzeit mit 15.6. aus.
  • Gut steigen jene aus, die alle Zahlungseingänge auf nach Juni verschieben konnten, erst mal nichts machen und die drei Monate aussitzen.
  • Besser steigen auch jene aus, die im Vorjahr ihre Sozialversicherung nicht bezahlt haben oder denen noch größere Nachzahlungen bevorstehen. Denn ihre Umsatzrentabilität war deutlich höher.
  • Die Sozialversicherung, die man sich derzeit ja noch leichter stunden lassen kann, zeigt sich auch besonders gnädig und exekutiert Rückstände zur Zeit nicht. Das macht sich bereits in einer niedrigeren Konkursquote bemerkbar. Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Die Nachforderungen werden kommen, und auch die Konkursanträge durch die Sozialversicherung werden nachgeholt werden. 

Wie man es besser gemacht hätte?

Sagt ja niemand, dass es einfach ist.  Was sich hier aber meiner Meinung nach zeigt, ist wie wenig staatliche Eingriffe tatsächlich in kontrollierter und nützlicher Art und Weise vorgenommen werden können. Einschränken, stoppen, verbieten, regulieren, das klappt. Anschieben, wiederbeleben, ausgleichen – das ist sehr schwierig. Das klappt dann, wenn Rahmenbedingungen geschaffen werden, Möglichkeiten eröffnet werden, bei der Beseitigung von Hindernissen geholfen wird.  Ich möchte das dann aber bitte nicht Rettung nennen. Es ist Schadenersatz, und auch das nur teilweise, in Form einzelner Tropfen auf immer heißeren Boden.
Und viele dieser Schäden kommen aus veralteten Sichtweisen von Wirtschaftspolitik. Da kann das Virus gar nichts dafür.

Shoshana Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism

Es wird langsam ein wenig manifest – ich habe wachsende Schwierigkeiten mit amerikanischen Bestseller-Sachbüchern. Erst hinterließ Malcolm Gladwells „Talking to Stranges“ bei mir große Ratlosigkeit, jetzt habe ich mit großer Verwunderung Shoshana Zuboffs „The Age of Surveillance Capitalism“ gelesen. Die Verwunderung war dabei nicht dem Inhalt geschuldet, sondern der Tatsache, dass das Buch streckenweise euphorisch rezipiert wurde. 

Zuboff unterzieht die Geschäftsmodelle der Tech-Giganten einer kritischen Analyse. Um darin viel neues zu finden, muss man die letzten 20 Jahre schon in der Pendeluhr geschlafen haben. Insbesondere Google und Facebook sieht Zuboff als Musterbeispiele der neuen Überwachungskapitalisten. Der Grundtenor der Kritik: Konzerne beuten wie seit jeher Menschen aus, diesmal allerdings vorrangig durch Analyse und Vorhersage ihres Verhaltens. Technologieriesen sammeln Daten, analysieren sie – und verwerten das Wissen, sie schaffen immer dichtere Netze, die immer mehr Daten liefern und immer bessere Möglichkeiten bieten, das aus Analysen gewonnene Wissen anzusetzen. User, meint Zuboff, sind damit nicht einmal mehr das Produkt, sie sind bloße Kadaver, die übrig bleiben, wenn ihre Information ausgewertet wurde, sie spielen keine Rolle mehr. 

Den Konzernen und ihren Geschäftsmodellen ist es egal, was Menschen machen – solange sie ihre Tools und Netzwerke bedienen und benutzen, sind die monetarisierbare Manövriermasse, die gewinnbringend durchgeschleust werden kann. 

Das klingt nicht nett. Aber es unterliegt den gleichen etwas überzogenen Vorstellungen und Phantasien von Allmacht, Allwissen und Kontrolle, mit der eben die so kritisierten Tech-Giganten ihre Relevanz in der Welt behaupten wollen. Facebook, Google und Microsoft erzählen am laufenden Band, wie sehr und wie dicht sie die Welt vernetzen, was sie alles tun und beeinflussen können und wie unverzichtbar sie deshalb sind. Auf dieser Erzählung beruht ein großer Teil ihres Wertes, sie begründet sie Attraktivität der Branche für Investoren. Und auch dabei ist egal, wie diese Erzählung gemeint ist. Sie kann positiv formulierte Eigenwerbung sein, wenn sie von den Konzernen selbst sein, sie kann Kritik sein – solange die Erzählung von der Allmacht bekräftig wird, blühen die Geschäfte.  Und es blühen eben nicht nur die Geschäfte der Konzerne, sondern auch die der KritikerInnen.

Viel von dem, das Zuboff in Kritik verpackt, hat in den vergangenen 20 jähren verschiedene Phasen von Belustigung über Begeisterung, Gleichgültigkeit, Angst, Faszination, Hoffnung und anderen Erwartungen durchlaufen.

Smart Homes, Smart Cars, vernetzte Dinge und ähnliche Visionen beschäftigen uns in unterschiedlichen Prototypen-Stadien seit über 25 Jahren. Sie sind schleichend Realität geworden, Veränderungen sind in vielen kleinen Schritten passiert. Das hat den Vorteil, dass UserInnen immer noch Entscheidungsmöglichkeiten haben. Mit den smarten und vernetzen Devices haben sich auch Sorgen und Kritik daran gewandelt: Stand zu Zeiten des Supercomputers Hal noch die Angst vor einer übermächtigen künstlichen Intelligenz im Vordergrund, so ist jetzt die Angst vor den menschlichen Manipulatoren dieser künstlichen Intelligenzen und ihren allzumenschlichen Motiven überwiegend. 

Wir sind einer digitalen Allmacht nicht ohne jede Option ausgeliefert. Wir haben immer noch schrittweise Entscheidungsmöglichkeiten – das vereinfacht Zuboff wohl aus dramaturgischen Gründen stark. In ihrer Darstellung sind wir ausgeliefert. 

Überwachung und Datensammlung sind massiv – aber zumindest im Westen basieren sie immer noch großteils auf Konsum. Menschen nutzen Dinge, weil sie praktisch sind, weil sie es wollen; noch gibt es kaum flächendeckende Zwangsverpflichtungen. Überzogenes Datensammeln braucht immer noch jemanden, der mitmacht. Zweifellos ist dabei aber oft die Informationslage nicht ausreichend. Die Tech-Giganten sind aber durch Konsum zu Giganten geworden. Noch ist in den nicht totaliären Gesellschaften Konsum die treibende Kraft, und diese geht damit von unten aus. Auch wenn Tech-Konzerne heute einschränkend, ausgrenzend und ausschließend sind, sie wurden nur groß, weil viele Menschen etwas von ihnen wollten. Darin liegt auch nach wie vor ihr Wert. 

Zuboff ist dagegen immer um klare Fronten bemüht. In ihrer Darstellung werden Tech-Konzerne zu feindlichen Invasoren, denen Menschen ausgeliefert sind, die zuviel wissen, und deren Freiheit deshalb eingeschränkt werden muss. Sie brauchen Kontrolle.  Das ist ein heimelig-revolutionärer Ansatz, dem man möglicherweise zustimmen kann. Allerdings verfehlt dieser Punkt womöglich sein eigentliches Thema. Denn Manipulation, Falschinformation, Steuerung in Form von Druck oder Konditionierung sind keine Entwicklungen, die auf Technologie zurückgehen. Sie unterliegen psychologischen Grundsätzen – unter anderem deshalb sind diese Entwicklungen ja so erfolgreich.  Und sie sind vor allem deshalb so erfolgreich, weil sie auf menschlichem Verhalten beruhen. Menschen verhalten sich immer, dagegen kann man nichts tun. Und wer sich danach ausrichtet, wie Menschen sich am häufigsten verhalten, hat eine gute und effiziente Geschäftsgrundlage. 

Das führt zu Zuboffs zweitem Kritikpunkt, der in der Rezeption weniger beachtet wurde (dort konzentrierte man sich mehr auf die Allmacht), den ich aber für um einiges relevanter halte. Die gigantischen Ausmaße führen zu Gleichgültigkeit. Inhalte, Qualität, Anspruch, Zielsetzung – all das wird zunehmend völlig egal, was zählt, ist dass sich etwas bewegt. Was das ist, in welche Richtung es geht, ist unerheblich. Konkret: Es ist egal, wer Werbung auf Facebook bucht, es ist egal, dass SEO belanglosen redundanten Content bevorzugt, es ist egal, das Filter- und Community-Effekte in Social Networks zu Entropie und Gleichförmigkeit führen – man muss es nur wissen, sich danach ausrichten, den Trend verstärken, und schon hat man eine gute Geschäftsgrundlage. 

Das hat Effekte, die weit über den Machtbereich der Technik-Konzerne hinausgehen. Als erfolgreich, wertvoll und „gut“ gilt, wer diese Logik beherrscht und seine Geschäfte nach ihr richtet. Leichte Kategorisierbarkeit von allem, Schubladisierbarkeit und die Entsprechung zu Stereotypen sind Erfolgsfaktoren.  Reichweite und Beachtung sind Indizien von Erfolg – was und wie über etwas gesprochen wird, ist es egal, Hauptsache, es wird darüber gesprochen.

Aufmerksamkeitssurrogate in Form von Likes und Shares sind plakative Anzeichen dafür, wie Reichweite und Verbreitung inhaltliche Arbeit und Auseinandersetzung mit einer Idee ersetzt haben.  Das verändert, wie wir öffentlich auftreten, woran wir arbeiten, was wir als Gesellschaft für wichtig halten, womit wir uns beschäftigen, wem wir unsere Zeit widmen und wohin unsere Energie und Aufmerksamkeit fließen.  Dabei sind aber nicht die Tech-Konzerne die handelnden Akteure, sie sind nur die gleichgültigen Profiteure. Die Akteure sind Menschen, die auch die Wahl hätten, sich anders zu verhalten. Für sie ist es aber auch eine bequeme Taktik geworden, sich der Logik von schneller Beachtung zu unterwerfen, den Gedankengang der Pointe zu opfern und die Sorgfalt im Denken der Wiedererkennbarkeit. 

Das hat Auswirkungen darauf, wie wir überhaupt noch argumentieren. Meist ist ein Argument schon zu lang, es gehorcht nicht den Regeln der eindimensionalen Einfachheit, indem es mehr als eine Seite eines Sachverhalts beschreibt – und damit ist die Gefahr der Ablenkung schon zu groß. Der Argumentierende fällt aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der Kunde (den dort draußen sind heute alle Kunden) wendet sich möglicherweise etwas anderem zu – das kann nicht sein, er oder sie muss schnell mit einer neuen Behauptung wieder eingefangen werden.  Behauptungen ersetzen Argumente als Kulturtechnik.  Wenn wir nicht mehr Argumentieren, dann können wir auch nicht mehr verstehen. Das ist ein Problem, gerade in einer nicht einfachen Zeit, in der viele Entscheidungen getroffen werden müssten. 

Deshalb sehe ich Auswege auch nicht in einem Rückzug in Privatheit, in der uns dicke Mauern vor Beobachtung schützen, wie Zuboff schreibt. Nichts gegen den Wunsch, auch mal unbeobachtet sein zu wollen – das ist gut und sinnvoll, löst aber wenig Probleme.  Wir brauchen mehr hartnäckige, lästige, bohrende, fragende und argumentierende Öffentlichkeit, in der Machtverhältnisse weniger dazu genutzt werden können, andere vom Tisch zu wischen, in der jene, die andere nicht ausreden lassen, die nicht zuhören, die nicht argumentieren, nicht jene sind, die Bewunderung für Entschlossenheit und Prägnanz einheimsen.  Das liegt aber an den Nutzerinnen und Nutzern. In den entscheidenden Punkten bleiben auch die größten Konzerne und Plattformen erstmal nur Werkzeuge.