Cathy O’Neill: Weapons of Math Destruction

Es ist ein sehr amerikanisches Buch: In vielen Beispielfällen wiederholt Cathy O‘Neill ihren Punkt ein uns andere Mal und fasst ihn zum Schluss noch einmal in einem knapp 20seitigen Konzept zusammen: Algorithmen und Datenanalysen sind alles andere als wertfreie Technik oder Mathematik. Sie multiplizieren den Bias desjenigen, der sie erstelllt hat, indem sie es möglich machen, dass nun auch Menschen, die diesen Bias gar nicht haben, ihre Entscheidungen unabsichtlich auf diese Vorurteile bauen. Sie füttern Fehlentscheidungen, indem sie als selffulfilling prophecies dafür sorgen, dass der ursprünglich falsche Bias nach und nach immer realer wird. Und sie bieten willkommene Ausreden, keine eigenen Entscheidungen zu treffen, keine eigenen Daten zusammen oder Annahmen zu hinterfragen, denn sie lagern die Verantwortung an vermeintliche Evidenz aus.

Diesen Begriff der Auslagerung von Verantwortung und des Aufschiebens von Entscheidungen hat der dänische Medizinsoziologe Klaus Hoeyer als „promissory data“ näher beschrieben: Daten sind ein Versprechen aus der Zukunft. EntscheiderInnen ziehen sich auf die Position zurück, jetzt keine Entscheidung treffen zu wollen, weil sie evidenzorientiert entscheiden wollen, die Datengrundlage dafür gibt es also noch nicht. Also muss man sich Daten beschaffen, abwarten, und dann werde die Evidenz gleichsam von selbst für die richtige Entscheidung sorgen. – So handelt man verantwortungsvoll, ohne zu handeln.

O‘Neill zitiert unter anderem Analysesysteme aus Polizei- und Präventionsarbeit, LehrerInnenbewertung oder Justiz, um ihre Thesen zu untermauern. All diese Anwendungen wurden geschaffen, um vermeintlich objektivere Entscheidungen treffen zu können, um die Auswirkungen persönlicher Vorlieben oder rassistischer oder sexistischer Vorurteile zu reduzieren. In vielen Fällen wurden dabei allerdings nur die Vorurteile jener, die urteilen sollten, durch die Vorurteile jener, die die Analysesysteme erstellten, ersetzt. In anderen Fällen verleitete der Drang zu Präzision die AlgorithmusautorInnen, AnalystInnen oder DatendesignerInnen zu absurden Rechenmodellen, die zwar überaus eindeutige und klar berechenbare Ergebnisse lieferten, die aber in keinem nachvollziehbaren Ergebnis zum eigentlichen Dateninput standen. O‘Neill bringt dazu Beispiele von Lehrerbewertungssystemen, deren Ergebnisse für die gleichen Lehrer von einem Jahr auf das andere Schwankungsbreiten innerhalb der gesamten verfügbaren Messskala auswiesen – ohne dass sich an Unterricht oder Rahmenbedingungen irgendetwas verändert hätte. In anderen Fällen wurden alle LehrerInnen an Schulen in sozial schwächeren Umgebungen schlechter beurteilt, weil außerschulische Einflüsse auf die Leistungen der SchülerInnen nicht berücksichtigt wurden.

Das Phantasiebild von wertfreien Daten und vorurteilsfreier Mathematik nimmt großen Stellenwert ein. Daten lösen Ideologie ab und schaffen neutrale Orientierungssysteme. Damit kommt wissenschaftliche Präzision auch in alltägliche Entscheidungen, in ökonomische Überlegungen oder in sozial und politisch bestimmte Fragen. Das Problem dabei: Auch wissenschaftliche Präzision ist zwar innerhalb des eigenen Modells präzise, aber alles andere als wertfrei. Zahlreiche Werthaltungen bestimmen Fragen der Wissenschaft.

Eine ganz augenscheinliche Wertentscheidung ist etwa die Frage, welche Probleme relevant genug sind, um im Zentrum der Forschung zu stehen und wie Forschungsbudgets zugeordnet werden. Manche sehen in diesen Prozessen vielleicht außerwissenschaftliche Entscheidungen. Philosophinnen wie Heather Douglas haben gezeigt, dass auch genuin wissenschaftliche Tätigkeiten wie etwa die Modellbildung, die Kalibrierung von Skalen und natürlich jede Form von Interpretation in sehr vielen Fällen wertebasierte Entscheidungen sind. Modelle sind nicht nur Erklärinstrumente, sie bilden auch Prioritäten ab – anhand eines Modells lässt sich ablesen, was den ModellierInnen wichtig war und was eher vernachlässigbar. Gleiches gilt für Messsysteme – die scheinbar neutralsten und wertfreisten Werkzeuge überhaupt: Messsysteme bilden ab, wie wichtig oder kritisch das zu Messende ist.

Douglas illustriert das anhand von Messsystemen zur Feststellung gesundheitsschädlicher Emissionen: Wird jede Emission gemessen, weil sie potenziell schädlich ist? Wie präzise ist die Skalierung? Oder gelten Schwellwerte, unterhalb derer nicht gemessen wird? Solche Entscheidungen bilden Prioritäten ab – und sie stehen auch für Werte. Niedrige Schwellwerte oder das Bestehen auf präzisen Skalen ab der kleinsten messbaren Einheit etwa stehen in Heather Douglas‘ Beispielen für Werthaltungen, die Gesundheit und Umwelt höher priorisieren. Höhere Schwellwerte dagegen entstehen aus Werthaltungen, die Wirtschaft und unternehmerische Freiheiten höher priorisieren – indem sie etwa helfen, Einschränkungen und strengere Regeln zu vermeiden.

Douglas‘ Konzept basiert auf Carl Hempels Idee des induktiven Risiko das wissenschaftstheoretisch untersucht, wie sich das Risiko, falsch zu liegen (und für die Folgen falscher Entscheidungen verantwortlich zu sein) auf Wissenschaft auswirkt.

O‘Neill spielt mit dem Gedanken eines hippokratischen Eids für Data Scientists, der sie ebenfalls an Folgen und eigentliche Zwecke ihres Handelns erinnert und hilft, die Priorität von mathematischer Präzision und technisch ausgefeilten Modellen hin zu mehr Verantwortung und sozialer Orientierung zu lenken. Das verleitet natürlich unter Umständen auch dazu, Data Scientists eine überzogene messianische Rolle einzuräumen. Pragmatischer finde ich den Ansatz, in der Evaluierung von Modellen Mathematik und Technik mal ganz beiseite zu lassen und Algorithmen wie naive User als Black Box zu betrachten, also nur auf den Output zu achten – und dann zu überprüfen, welche Annahmen diesen Ergebnissen zugrundeliegen, was er eigentlich tut, wem er nützt, wem er schadet, wer davon eigentlich betroffen ist. Anhand dieser Überlegungen kann dann schließlich geprüft werden, ob die Entscheidungen des Algorithmus tatsächlich Sinn machen.

Die Substanz von Weapons of Math Destruction lässt sich also auch knapper zusammenfassen – aber es bleibt dennoch ein wichtiges Buch vor allem für jene, die in Daten, Mathematik und Technologie neue Objektivität und klarere Entscheidungen erhoffen. Gerade auch weil es von einer Mathematikerin geschrieben wurde, und nicht von einer möglicherweise vorbelasteten Sozialwissenschaftlerin.

Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik

Hannah Arendt ist ja eine der verführendsten Persönlichkeiten der Philosophiegeschichte. Sie hat zu allem etwas gesagt – und dabei noch dazu verschiedenes. Und immer sehr treffend Scharfsinniges. Das macht sie zum Reibebaum für Linke und Rechte, zur Ikone für Liberale – und in Wahrheit zu einer sehr sorgfältigen, überaus belesenen Denkerin, die man nicht auf Häppchenzitate reduzieren darf.

Das gilt umso mehr für Texte, deren Aktualität heute, fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen, LeserInnen aggressiver als eine Speikobra ins Auge springt. “Wahrheit und Lüge in der Politik” ist ein solcher Text. Arendt schrieb diesen Text über die Pentagon Papers und die Lügen des Vietnam-Kriegs, aber angesichts solcher Textpassagen – wer hat da heute in Österreich nicht einen zwanghaft wutentbrannten ÖVP-Abgeordneten Andreas Hanger vor Augen, der sich über die schalsten Kleinigkeiten empört, um vorhandene Empörung von ihrem eigentlichen Gegenstand abzulenken?

“Endzweck [der Lügen] waren weder Macht noch Profit” sondern das Image selbst. “In Hinblick auf das Endziel verwandeln sich alle politischen Zielsetzungen in kurzfristig austauschbare Hilfsmittel; zuletzt, als alles auf eine Niederlage hindeutete, bestand das Ziel nicht mehr darin, die demütigende Niederlage zu vermeiden, sondern Mittel und Wege zu finden, um ein Eingeständnis zu vermeiden und ‘das Gesicht zu wahren’.” – Deine Chefs sind schon lange als machversessene Lügner bloßgestellt, aber du musst nicht nur weiter das tote Pferd ihrer Lügen weiter reiten, du kannst es sogar aus voller Überzeugung und mit guten Erfolgschancen tun, denn: “Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.”

Im Klartext: Niemand glaubt dir. Alle wissen, dass du lügst. Aber dank deiner Lügen (und der deiner Chefs) haben Menschen denn Sinn dafür verloren, was der Nutzen von Wahrheit sein könnte. Sie haben vielmehr gelernt: Wer die Wahrheit sagt, ist ein schwacher Charakter, der sich selbst beschädigt. Und schließlich: All das bestätigt die “Vermutung, dass es vielleicht in der Natur des Politischen liegt, auf Kriegsfuß mit Wahrheit in allen ihren Formen zu stehen. Die Frage ist, warum unter gewissen und keineswegs seltenen Umständen das unbekümmerte Aussprechen von Faktizitäten bereits als eine antipolitische Haltung empfunden wird.”

Natürlich verfolgt Politik immer einen Zweck. Natürlich vertragen sich Zwecke immer nur in sehr bedingtem Ausmaß mit Wahrheiten und noch weniger mit Ehrlichkeit.

Und, und hier macht sich wieder bemerkbar, dass man Arendt nicht häppchenweise zitieren darf und dass Kritik an herrschenden Verhältnissen ihr Ziel keineswegs damit erreicht hat, dass sie ausgesprochen wurde, genau genommen hat sie damit noch gar nichts erreicht: “Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann?”

25 Jahre danach: Zurück an der Universität

Ich hab jetzt mein erstes Uni-Semester nach 25 Jahren hinter mir; das erste von (mindestens) vier Semestern im Master History and Philosophy of Science ist erledigt. Kaum etwas macht deutlicher, dass man doch ein wenig älter geworden ist …

Warum studiere ich überhaupt? Es sind zwei wesentliche Gründe. Der eine ist recht einfach: Ich habe Lust darauf – In den vergangenen 25 Jahren habe ich mich zwar immer mit Philosophie und Ideengeschichte beschäftigt, aber ich bin neugierig auf die neueste Forschung und darauf, auch mal wieder systematisch wissenschaftlich zu arbeiten. Der andere ist eher sportlicher Natur: Ich habe zwei jeweils zu zwei Dritteln fertige Philosophie-Dissertationen liegen lassen, die erste, weil ich mit dem Betreuer nicht einer Meinung war (rückblickend: Ich hatte recht. Aber ich hätte präziser formulieren können.), die zweite (zehn Jahre später), weil ich damals das unsäglich laissez-faire, nicht eingehaltene Termine und die generelle Wurschtigkeit an der Universität nicht so toll fand.

Daran hat sich jetzt ziemlich viel geändert.

Am Auffälligsten: Es gibt Klopapier. In dern 90er Jahren musste man es sehr gut timen, wenn man mal musste, um wenigstens bei einem der Würstl-Buffets noch rechtzeitig vorher eine Serviette zu ergattern. Auch abgesehen von den Toiletten waren die Universitätsgebäude ziemlich rustikal: Man rauchte auf den Gängen, saß in der Regel auf dem Fußboden oder verbrachte die Zeit zwischen Vorlesungen irgendwo auf Stiegen sitzend und lesend. Die Wände waren mit Plakaten zugepflastert und man konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass Universitätsgebäude jemals renoviert würden.
Heute strahlen Universitätsgebäude,  die Gänge sind aufgeräumt, Plakate und Aushänge sind in Schaukästen zurückgedrängt.

Auch inhaltlich ist einiges anders: In den 90ern waren Studierende eher Störfaktoren. Kontakt zu Lehrenden gab es allenfalls nach Vereinbarung während der Sprechstunden, aber auch dann nur, wenn diese Lust hatten. Forschungsseminare bestanden meist darin, einen Text kapitelweise durcharbeiten zu lassen – das war ziemlich effizient für die Lehrenden, die sich keine Gedanken über neue Literatur machen mussten. Zu Anfang des Semesters waren die Räume überfüllt, gegen Ende saß man oft, wenn überhaupt, zu dritt da. Die potenzielle Nähe sorgte aber auch eher für Unwohlsein – sollte man jetzt wirklich miteinander reden?

Ein generelles Aufnahmestopp für wissenschaftliches Personal sorgte zusätzlich dafür, dass Studierende für Lehrende egal und uninteressant waren und Studierende sich auch keine Gedanken über eine wissenschaftliche Zukunft machen mussten. Bezahlte Doktorandenstellen und ähnliches kannte man allenfalls als Gerüchte von fremden Eliteuniversitäten.

Heute gibt es Obergrenzen für Studierendenzahlen in einzelnen Lehrveranstaltungen, Aufnahme- und Anmeldeverfahren, Anwesenheitspflichten – und Lehrende müssen Interesse daran zeigen, Studierende in ihre Veranstaltungen zu kriegen und dort zu behalten. Sie drängen auf Mitarbeit, stellen aufwendige Literatur zusammen und beharren darauf, ebenfalls bewertet zu werden.

Verschulung, Leistungsdruck und “neoliberale” EInflüsse werden oft beklagt – aber die Qualität der Lehre ist in astronomischen Ausmaßen gestiegen. Natürlich sind  auch die Anforderungen deutlich höher: vor 25 Jahren hielt man in einem Seminar eine Präsentation und fasste die vielleicht noch in einem kurzen Paper zusammen. Heute ist es üblich jede Woche einen Text lesen und ein kurzes Paper schreiben zu müssen, dazu kommen dann noch Präsentation und eigentliche Arbeit.

Wenn man vor 25 Jahren eher minimalistisch unterwegs war, hätte man vermutlich mit dem, was man heute in einem Semester lesen und bearbeiten muss, damals den ganzen ersten Abschnitt eines Diplomstudiums erledigen können.

Und sogar die Technik funktioniert: Literatur steht zum Download bereit, Videovorlesungen und -konferenzen klappen, sogart Diskussionen sind möglich. Ein wenig eindimensional sind sie – unter Studierenden kommt man online kaum zum Reden, man redet eher mit den Vortragenden.

Nur die Open Book-Tests, also schriftliche Onlineprüfungen, bei denen man Mitschriften oder Literatur verwenden darf, sind wohl für alle Seiten noch recht neu. Der Versuch, Fragen zu stellen, die auf Verständnis abzielen, nicht mit einfachem Abschreiben beantwortbar sind, aber doch konkretes Wissen abprüfen, führt mitunter zu eigenartigen Blüten (zum Beispiel: “Welche Prozesse im Lauf der Geschichte der letzten 1000 bis 2000 Jahre haben die Persönlichkeitsstruktur und den Umgang mit dem Körper geprägt? Skizzieren Sie zumindest zwei Ansätze zur Erforschung dieser Prozesse.” – Als eine von drei innerhalb einer Stunde sinnvoll zu beantwortenden Fragen ist das doch recht lose formuliert … ).

Einige Seniorstudenten gibt es trotzdem noch; ich bin nicht überall der Älteste. Manche Seniorstudenten reduzieren ihre Diskussionsbeiträge darauf, irgendwelche eher zusammenhanglosen Zitate oder Jahreszahlen zu droppen oder zu kommentieren, wenn sie eigentlich Fragen stellen sollten. Ich hoffe, ich bin nicht so, und ich möchte den Jüngeren gern sagen: Lasst euch von so was nicht beeindrucken. Die Leute haben mehr gelesen und wissen vielleicht mehr als ihr mit Anfang zwanzig, aber sie wissen offenbar wenig damit anzufangen.

Das gilt auch für die Einstellung gegenüber den Lehrenden: Nicht jeder 70jährige Emeritus, der beim Vortrag den Faden verliert, ist ein Genie. Oft sind es Leute, die seit 30 Jahren das gleiche erzählen und so tief im immer gleichen Gedankengang drin sind,  dass sie beim Reden gar nicht mehr wissen, was sie eigentlich gerade sagen. Das ist auf der einen Seite toll, auf der anderen Seite darf durchaus die Frage gestellt werden, wie relevant diese Art von Wissen noch ist und ob man sich diesen Fragestellungen nicht auch einmal anders nähern kann.

Gerade wenn es darum geht, neue Texte zu diskutieren, macht sich das Alter durchaus bemerkbar: Irgendeinen Ansatzpunkt findet man immer, man hat auch weniger Scheu, Dinge nicht zu verstehen (und darüber zu reden) oder auf der anderen Seite zu kritisieren. Bei den Jüngeren glaube ich aber auch – ich weiß, dünnes Eis – eine neue Strategie festgestellt zu haben: Wenn einem zu einem Text gar nichts einfällt, man aber gerade etwas sagen muss, dann ist es eine sehr sichere Bank, einfach zu sagen: “Es ist schon eine recht eurozentristische Perspektive und die Genderthematik ist auch nicht berücksichtigt.” – Das passt fast immer, manchmal (etwa wenn es um europäische Geschichte geht) ist es zwar ein wenig unangemessen, aber es kann selten einfach so als Unfug vom Tisch gewischt werden.

Das Alter macht sich auch noch anderswo bemerkbar:  Ich bin  häufig der einzige mit nur einem Vornamen. Und im Gegensatz zur Schule heißt hier sonst niemand Michael …

Wo soll das Studium hinführen? – Es schadet ja nicht, sich auch mit fast 50 noch mal echten Bildungshürden (nicht nur Wochenendkursen) zu stellen. Prüfungen sind jetzt übrigens ungleich schwerer als mit Anfang zwanzig – das liegt zum Teil am Gedächtnis, zum Teil auch daran, dass es eine ganz andere Art von Lernen ist: Etwas neues kennenzulernen, brauchbare Teile herauszunehmen, damit weiterzuarbeiten – das macht man auch im Berufsalltag oft. Es zur Gänze wiedergeben zu müssen, das ist eine ganz andere Liga. Dafür ist es heute, mit ein paar Jahren mehr, weitaus leichter, neue Zugänge zu Themen zu finden und Poster und Aufsätze zu schreiben.

Inhaltlich lege ich im Studium einen Schwerpunkt auf Ideengeschichtegerade in einer verwirrenden und unordentlichen Zeit halte ich es für wichtig, nachzuvollziehen, wie Ideen in die Welt kommen und wie es ihnen dort geht. Dabei kann man im übrigen auch mitlesen – hier auf Journal Ahnungslos.

Veranwortung und die starken Männer

Man weiß schließlich, was zu tun ist. Zweifel, Anerkennung für eine andere Position, das ist etwas für Schwächlinge, die sich nicht entschließen können und die nicht für ihre Taten geradestehen können. – Gerade in den vergangenen Wochen wettern wieder Konservative und Rechte gegen unschlüssige Schlafwandler, die Entschluss- und Tatkraft vermissen lassen, die noch immer über Ideen, Werte und Ziele reden, wo doch gehandelt werden müsse.

Christian Ortner doziert in der Presse im Vorbeigehen über die Legitimität des Tötens. Die Ermordung eines iranischen Atomphysikers sei legitim und ein Zeichen von Entschlossenheit und Verantwortung. Eigenschaften, die er in einem Europa, das sich immer auf seine Gesinnung herausrede, vermisse.

Welt-Journalist Ulf Poschardt fabuliert auf Twitter von einem deutschen Gesinnungsidealismus, der mit “der Freiheit, der Würde und der Poesie des Individuums” nichts anzufangen wisse. Das ist nicht ganz verständlich, aber es geht um mögliche Tempolimits auf deutschen Autobahnen.

Und die österreichische Regierung weigert sich, auch nur irgendwelche sinnvollen Maßnahmen zur dramatischen Lage der Geflüchteten in Moria zu beschließen, weil man ja nicht alle retten könne. Das wäre verantwortungslos den anderen gegenüber und außerdem gibt es genug andere Probleme auf der Welt. Die Chefin der Parteiakademie der ÖVP unterstreicht das noch mit einem Zeitungskommentar, in dem sie – erraten – einmal mehr Verantwortungsethik strapaziert. Wer ein Problem nicht ganz lösen könne, der löse es gar nicht, weshalb es also moralisch verwerflich sei, einem Kontingent von Menschen zu helfen.

Verantwortung ist etwas für entschlossen Handelnde – oder etwa nicht?

Alle wollen etwas verantworten. Verantwortung stellen sie einer Gesinnung gegenüber und greifen damit auf ein Konzept zurück, das auch schon über hundert Jahre alt ist. Max Weber stellte 1919 in einem Vortrag eine Gesinnungsethik, die auf die Gründe des Handelns abzielt, einer Verantwortungsethik, die auf die Folgen von Handeln abzielt, gegenüber. Man kann also ein- und dieselbe Handlung sehr unterschiedlich bewerten. Ein häufiges Missverständnis ist, dass man mit der rechten Gesinnung gar nicht mehr zu handeln bräuchte, um gut zu sein.

Das wirft nun schon einige Schwierigkeiten auf, denn wie nur könnte man nicht handeln? Jede Unterlassung ist auch eine Handlung, auch das Nichtstun hat Folgen, für die Verantwortung stehen kann. Relevanter ist aber die Frage, warum manche so viel mehr Wert auf die scheinbar aktivere und stärkere Position des verantwortlich Handelnden legen wollen. 

Verlockend sind natürlich klare Kausalketten: Ein Kanzler, der Wert auf einfache Bilder legt, mit denen sich Zusammenhänge unterstellen lassen (“Ich habe die Balkanroute geschlossen”), hat kein Interesse an Handlungen, die sich nicht als auf seine Entschlossenheit zurückgehende Problemlösung darstellen lassen.

Der autobegeisterte Journalist übernimmt gern die Verantwortung für sich und fährt nur bei guten Straßenverhältnissen schneller als 200 Stundenkilometer. Wenn er dabei draufgeht, war es ein männliches Ende. Wenn das andere Autofahrende mit weniger PS im Motor beim Überholen von dahintuckernden Lastwagen gefährdet, dann ist das Zeichen für deren schlechte Gesinnung – denn Autofahren wollen sie ja trotzdem, aber sie wollen nicht mit den Konsequenzen leben.

Und natürlich ist es verlockend, mit einer gezielten Attacke das Heranwachsen einer weiteren gefährlichen Atommacht zu verhindern und ein Menschenleben zu opfern, um damit viele zu retten. Aber in welcher Weltsicht gelingt das?

Klare Verantwortung, am besten in eindimensionalen Weltbildern

All diese Szenarien sind Ausdruck eines linearen Weltbilds, in dem klare Ursachen klare Folgen nach sich ziehen. Das grenzt Verantwortung gut ab. Ein Held kämpft mit einem anderen Helden, the winner takes it all. Atomphysiker tot, Problem gelöst. 

Jetzt mag, um bei diesem Beispiel zu bleiben, der getötete Wissenschaftler eine Koryphäe auf seinem Gebiet gewesen sein – aber nicht der Erfinder der Nukleartechnologie. Wissenschaft wird auch nicht mehr in Form von oralen Überlieferungen in Geheimbünden am Lagerfeuer vermittelt. Soll also wirklich das Rüstungsprogramm  eines ganzen Staats an einem einzigen Wissenschaftler hängen? Der Iran kündigt etwas anderes an. Welche Konsequenzen sind  es denn, für die ein Mordkommando die Verantwortung übernehmen kann? Wurden Spannungen beseitigt, Konfliktrisiken gesenkt? Werden sich internationale Beziehungen verbessern? Auch hier kündigt sich anderes an.

Für welche Konsequenzen kann also der entschlossen handelnde Held Verantwortung übernehmen? Mit welchen nachhaltigen Effekten, die er folgenden Generationen überlässt, unterscheidet er sich vom zaudernden Gesinnungsmoralisten?

Diese Behauptung, entschlossen Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen, macht nur für denjenigen Sinn, der sich sicher ist, die Geschichte in seinem Sinn erzählen zu können. Daraus könnte man nun eine Geschichte von Macht und Kontrolle entwickeln: Die entschlossen Handelnden sind eben jene, die die Welt gestalten, die Fakten schaffen, Vorbildwirkung zeigen, für andere die Kartoffeln aus dem Feuer holen usw.

Viel wahrscheinlicher ist aber eine Geschichte eines erstaunlich einfachen Weltbilds, das Geschichte als klare Reihenfolge von Ursache und Wirkung sieht, alle anderen außer einem selbst als einfache Reiz-Reaktions-Maschinen, und das alle anderen Ergebnisse als vorübergehende Abweichungen, als beiläufige Anomalien auf dem Weg zum großen Ganzen betrachtet.

Nicht umsonst sehen sich diese Akteure ja gern im Geist der Aufklärung, als Vernünftige, die nicht von irrationalen Wunschvorstellungen geblendet wurden, sondern dem Weltgeist nüchtern ins Auge sehen.

In der übervollen Rumpelkammer des Vorausgesetzten

Man kann das alles machen. Man kann Politmorde und Autobahnraserei befürworten, man kann – muss vielleicht sogar – funktional einfache und zielorientierte Weltbilder schaffen, um Pläne machen zu können.

Nur sind die hier ins Feld geführten Argumente grundfalsch. Dabei wirken sie so überzeugend und bewegend. Als würde jemand an die Gesinnung seiner Leserschaft appellieren. Als möchte jemand gern an Bildern von tatkräftigen Helden, von der Kraft des Einzelnen festhalten. Als hänge jemand einfachen Weltbildern nach, in denen jede Ambiguität ausgeräumt ist.

Man kann auch das Leid von Menschen gegeneinander aufwiegen, sich lieber um „die eigenen“ kümmern, keine Zeichen setzen, die Ungerechtigkeit punktueller Hilfe betonen. Schlüssig ist das aber nur, wenn wir klare Grenzen zwischen uns und denen ziehen können und wenn wir uns selbst davon überzeugen können, dass wir für Probleme, die wir nicht zur Gänze lösen können, auch nicht zum Teil verantwortlich sind. Das pervertiert den Verantwortungsgedanken allerdings deutlich.

Klingt das nach Ideologie? Das würden die vermeintlich scharfsinnigen Analytiker wohl entrüstet von sich weisen.

Dabei wird die Rumpelkammer des Ungesagten, aber Vorausgesetzten immer voller. Jede glatte, einfach und schlüssig klingende Behauptung verschiebt ihre Grundlagen in diese Rumpelkammer, um funktionieren zu können. Das ist ok. Aber es ist eine Verschwendung von Zeit, Aufmerksamkeit und Problemlösungskompetenz, wenn damit Scheingegner (diese Gesinnungsmenschen) bekämpft werden, wenn Schattenboxkämpfe und Affentänze vollführt werden, um den Plan der eigenen Großartigkeit weiterzuverfolgen.

Wahrscheinlich würde die Betroffenen einwenden, sie wollten das gar nicht. Sie sagten ja nichts, sie analysierten ja nur. Aber die, die auf ihre Gesinnung pochen – ja das sind ganz üble Schreibtischtäter.

Wir stecken in einer Krise des Erklärens und Analysierens. Solche scheinbare Gegenpositionen einnehmenden Scheindebatten, die von scheinbarer Entrüstung auf beiden Seiten leben,  sind dabei besonders tragische Charaktere in diesem Trauerspiel.

Expertise: Ups Kaputt

Die Politik haben wir glatten Karrieristen ohne Idee überlassen, in den Medien arbeiten überwiegend ungebildete Menschen mit mangelhaften Rechtschreib- und Grammatikkenntnissen, die Wissenschaft wird als nächstes die große Wurschtigkeit nicht überleben. Dem müssen wir etwas entgegensetzen, meint der Wissenschaftssoziologe Harry Collins in seinem aktuellen Buch „Are we all scientific experts now?“.

Müssen wir? Und ist die Frage nicht eher: Können wir?

In Wissenschaftssoziologie und anderen Feldern der Science Studies gibt es schon länger Debatten über Formen der Beteiligung an Wissensproduktion, die sich auch um eine potenzielle Aufweichung des Expertenbegriffs drehen: Haben zu Fragen des täglichen Lebens nicht alle Menschen etwas beizutragen? Fließt nicht in vielen Feldern Know-how aus der Praxis in die Wissenschaft ein und sollte die Zusammenarbeit hier nicht enger sein?

Harry Collins: Es ist nicht alles Expertise

Collins schärft hier etwas nach. In seinem aktuellen Buch arbeitet er eine Expertisen-Matrix aus, die helfen soll, verschiedene Formen von Expertise zu schärfen und zu klären, welche wo angewendet werden können.

Die allgemeinste Ebene von Expertise ist ubiquitous expertise. Hier haben wir etwas gründlich gelernt – es verschafft und aber keine besonderen Fähigkeiten. Gehen gehört dazu, das Sprechen der Muttersprache, oder die Fähigkeit, sich anhand von Straßennamen und -nummern in einem Ort zu orientieren.

Specialist expertise beschäftigt sich mit speziellen Formen des Wissens. Im Idealfall ist specialist expertise die Form von Wissen über ein spezifisches Themengebiet, die wir nicht nur lernen, sondern auch freihändig anwenden können, um dieses Themengebiet zu erweitern. Allerdings wirkt es auch wie specialist expertise wenn jemand wissenschaftliche Quellen liest, ohne sie einordnen und interpretieren zu können. Deshalb unterscheidet Collins hier noch einmal zwischen verschiedenen Formen allgegenwärtiger (ubiquitous) specialist expertise und der specialist expertise jener, die über ein wissenschaftliches Thema    diskutieren oder etwas sinnvolles beitragen können.

Meta expertise als dritte Form richtet sich weniger auf Sach- und Fachwissen, hier zählen etwa soziale Kriterien, die es uns erlauben, zwischen ehrlichen und verlogenen Politikern oder Verkäufern zu unterscheiden.

Die letzte und gefährlichste Form von Expertise bezeichnet Collins als default expertise. Das ist die Einstellung, die Abstufungen innerhalb dieser Formen von Expertise oder Nuancen der specialist expertise ignoriert und davon ausgeht, dass wir ohnehin alle den gleichen Verstand haben und mit Hausverstand bei auch den komplexesten wissenschaftlichen Fragen mitreden können. Das ist die Expertise jener, die an YouTube-Universitäten promoviert haben, von Dr. Google beraten werden und Insider-Information aus Telegramm-Channels beziehen.

Zurück zu Expertise-Idealen – geht das?

Schlüssig, aber wie weit hilft das der Wissenschaft? Hier muss Collins seine bislang analytische Perspektive verlassen. Es gebe keinen anderen Weg, als Wissenschaft und WissenschaftlerInnen für ihr Ideal zu respektieren. WissenschaftlerInnen als Nerds auf der Suche nach der bestmöglichen Wahrheit oder der wahrscheinlichsten Theorie, die nur vorsichtig Schlüsse ziehen und mit Empfehlungen und Entscheidungen zurückhaltend umgehend, sind nicht diejenigen, die griffige Positionen formulieren.

Relevante Kulturtechniken, mit denen man sich schnell Reichweite, Beachtung und Aufmerksamkeit verschafft, gehören nicht zum wissenschaftlichen Standardrepertoire.  Wahrheiten werden von jenen bestimmt, die Macht haben, ihre Ideen zu verbreiten oder die die griffigste Medienstory erzählen – Collins beschreibt das als unerwünschte Zukunftsvision. Der zeitgeist müsse sich ändern, wenn wir unsere Gesellschaft bewahren wollten, wir müssten einfacher Wissenschaft (wieder) einen größeren Stellenwert einräumen.

Zurück in den Elfenbeinturm?

Ist das die richtige Perspektive? Ist das eine Perspektive, die man überhaupt noch einnehmen kann? Ist nicht der Zug schon längst abgefahren, haben sich nicht schon lang neue Kulturtechniken etabliert, für die Wissen irrelevant ist?

Und das war lange Zeit ein Versprechen: Wir müssen nichts mehr wissen, wenn wir wissen, wo wir nachschlagen können. Wir brauchen nicht mehr warten, bis wir gefragt werden oder bis jemand unser Anliegen interessant findet, wir können uns selbst Gehör verschaffen. Wir können an etablierten Kommunikation- und Publikationskanälen vorbeipublizieren. Wir können Unmengen an frei verfügbarem Wissen konsumieren – und es verarbeiten, wie es zu unseren Interessen passt.

Wir haben Techniken zur Außenwirkung perfektioniert – das entbindet uns von der Notwendigkeit, an Inhalten zu arbeiten. Wer mehr macht, als sich verkaufen lässt, ist selber schuld.

Der Weg zurück, den Collins vorschlägt, ist verlockend. Es ist auch plausibel, dass viel Kritik an der Wissenschaft darauf zurückzuführen ist, dass Wissenschaft oft langweilig, platt und mit Fehlern behaftet ist. Das liegt in der Natur der Wissenschaft, die erst Wissen schaffen möchte und nicht vorgibt, schon alles zu wissen. Das verstärkt den Eindruck, dass auch hier nur mit Wasser gekocht wird und dass ohnehin alle mitreden können.  Das Problem mit der Zukunft ist allerdings, dass Rückschritte nie verlockend sind, dass der Weg zurück in bessere Zeiten praktisch kaum funktioniert. Alternative und stellenweise radikalere Ansätze, die Wissenschaft weiter öffnen, waren bislang auch wenig erfolgreich darin, der Wissenschaft Respekt oder auch nur Luft zum Reden zu verschaffen.  Deren Proponenten wie Bruno Latour haben offenbar auch ein weit weniger ideales Bild von WissenschaftlerInnen – für Latour ist das, was Collins als Deformation diagnostiziert, untrennbarer Bestandteil des Wissenschaftsbetriebs.

Wichtigste Expertise: was auch immer der Beachtung dient …

So lang wir alle berühmt werden wollen und uns gegenseitig den Eindruck vermitteln, dass wir auch auf einem guten Weg dorthin sind, wird das nichts werden mit dem Rückzug zu idealen und an Ruhm, Erfolg und Vorteil desinteressierten WissenschaftlerInnenwerten (dazu habe ich anderswo schon einiges geschrieben).

Die vielversprechendste Gegenbewegung sehe ich in dem Trend, dass jene Beliebigkeit, der Lärm, das direkte Feedback, das schnelle Aufeinanderprallen haltloser Meinungen zunehmend jenen auf die Nerven gehen, die bislang am meisten davon profitiert haben. JournalistInnen, Twitter-AktivistInnen, ExpertInnen für eh alles, die die Kulturtechnik des Behauptens perfektioniert haben, sind dann auch nicht mehr ganz zufrieden damit, nur eine von vielen gleichwertigen Stimmen zu sein, die problemlos übertönt werden kann.  Es sind also alle unzufrieden. Wohin das führt, das wird sich noch zeigen.

“Rhinestone Cowboy” – der Posterboy für politische Visionen der Gegenwart

Manchmal drängen sich uns ja komische Dinge auf. Bei mir war es heute morgen „Rhinestone Cowboy“, Glen Campbells traurige Ballade über einen erfolglosen Außenseiter, der so gern ins glitzernde Rampenlicht möchte. Eine Perle der 70er Jahre, die vor allem alternde Reitstallbesitzer immer gern ausgegraben haben

Auf den ersten Blick merkwürdiger Ohrwurm, auf den zweiten Blick aber die perfekte Allegorie von Politik in Corona-Zeiten, vor allem wenn man die großteils elendigen Budgetdebatten dieser Tage verfolgt hat: Menschen wünschen sich bessere Zeiten – gut, das war praktisch schon immer so.

Was sie sich vorstellen, ist aber gar nicht so toll und fern von allem, was funktionieren würde; möglicherweise haben sie gar keine Ahnung, was sie sich eigentlich vorstellen können: Campbell reitet in seiner Phantasie erbärmlich schlecht auf einem verlassenen Krautacker und winkt einem imaginären Publikum zu. So wird das nichts mit dem Glitzerstein-Kostüm und den jubelnden Mengen. Zu allem Überfluss: Sein Pferd ist weiß – Quarterhorses, also die überwiegend im Westernreitsport eingesetzte Pferdeasse, sind sehr selten weiß. Natürlich kann man auch andere Rassen oder der Farbe nach ausgesuchte Pferde reiten – aber man wird nicht gewinnen. Man wäre dann eher eine Art Eddy the Eagle der Arena.  Aber noch weit schwerwiegender: Rhinestone Cowboy zu sein, also erfolgreicher und bewunderter Rodeo- oder Reining-Reiter, ist ein elendiger Knochenjob mit Arbeitszeiten und Unsicherheitsfaktoren, die jedem Gewerkschafter die Grausbirnen aufsteigen lassen würden.

Aber in etwa diesem Stil und mit ähnlicher Treffschärfe bewegen sich politische Visionen der Gegenwart. PolitikerInnen streiten um Pensionszulagen, ohne die Finanzierbarkeit eines Worts zu würdigen. Gewerkschafter fordern Coronatausender für Handelsangestellte – von einer Handelsbranche im Lockdown. Wirtschaftskämmerer wollen mit Sonntagsöffnungen Handeslumsätze ankurbeln – obwohl Menschen ohne Perspektive sparen und sinnvollerweise einen Teufel tun, Handeslumsätze retten zu wollen. Finanzminister versprechen Milliardenhilfen und zahlen sie dann nicht aus. Ein Bundeskanzler wird von Licht am Ende des Tunnels geblendet – aber es sind dann auch nur Glitzersteine und leider nicht die Laserpointer der Sturmgewehre von Wega-Polizisten, denen er dann wieder Verdienstabzeichen anheften könnte.

Dabei haben wir noch keinen Gedanken an Schulschließungen veschwendet, an Watschen androhende Ex-Nationalratspräsidenten, an kulturtümelnde ÖVP-Provinzler oder an Grüne Abgeordnete, die übers Dritte Reich witzeln. Aber so etwas würde der Rhinestone Cowboy auch nicht tun.

Und wenn wir dann aufwachen, finden wir uns noch immer auf diesem Krautacker wieder.

Hier ist das Prachtstück:

Hallo Krisen-Murmeltiertag!

Es ist Krisen-Murmeltiertag: Wir haben das Jahr 0,5 ac (anno coronae), und alle Projekte, die im März und April auf den Herbst verschoben wurden, sind im September kurz für zwei oder drei Wochen zum Leben erwacht, um jetzt wieder verschoben zu werden. Auf unbestimmte Zeit. Natürlich haben wir keinen Lockdown und keine Unternehmensschließungen. Wir haben nur unklare Regelungen für Veranstaltungen, die Messen praktisch unmöglich machen – oder sehr viel Risikobereitschaft von den Veranstaltern verlangen.

Wir haben eine verwirrende Informationslage, die EU-Nachbarn dazu bringt, Wien zum Risikogebiet zu erklären. Weshalb Partner schon noch einreisen dürften – die haben aber kein Lust dazu, weil sie nach ihrer Rückkehr (zB nach Deutschland) erstmal in Quarantäne müssten.

Wir haben Unternehmen, die ihre Reserven auf ein halbes Jahr aufgeteilt haben, und sich jetzt der Nulllinie auf ihren Konten nähern.

Wir haben Härtefallfonds-Zahlungen, die immer langsamer (aber immerhin noch) abgewickelt werden.

Wir haben Fixkostenzuschüsse, bei denen jeder jemanden kennt, der niemanden kennt, der daraus bereits Zahlungen erhalten hätte.

Wir haben Förderungs- und Investitionsprogramme, die mit dem Ausschluss von Eigenleistungen, der Ignoranz gegenüber immateriellen Kapitalwerten und der Unterordnung unter politische Frohbotschaften an der Realität von Unternehmen vorbeigehen.

Wir haben PolitikerInnen und ExpertInnen die davon faseln, dass Freiheit über Hilfe stehen müsse – und doch die ersten sind, die Unterstützung für ihre Branche einfordern. Mit Freiheit meinen sie im übrigen, dass ihnen niemand im Weg stehen soll.

Im Frühling haben wir noch, während andere Brot gebacken, Heizkörper geputzt oder Yoga geübt haben, Kosten gekürzt, neue Produkte entwickelt, uns nach neuen Märkten umgesehen und Digitalisierung und andere Hoffnungstrends ausgebaut.

Und jetzt?

Ideen gibts natürlich immer noch, die werden mehr. Das Geld wird weniger.

Zombiezucht?

Walking Dead ist schon länger uninteressant. Die Dichte an Negans und Lucilles hat unter den CosplayerInnen auch deutlich abgenommen, der Superbösewicht und sein stacheldrahtumwickelter Baseballschläger laufen kaum noch auf Cons herum.

Trotzdem redet man wieder oft von Zombies. Diesmal verdanken wir das nicht Nerds und Comics, sondern ÖkonomInnen und allen, die sich dafür halten. Sie werfen UnternehmerInnen, die jetzt in der Krise Unterstützungsuchen vor, Zombiekult zu betreiben: Sie seien nämlich darauf aus, etwas nicht mehr lebensfähiges mit aller Gewalt am Leben erhalten zu wollen. Geschäftsmodelle, die nun nicht mehr funktionieren, seien Untote, von denen man sich besser trennen solle.

Die Idee der Zombieconomy ist alt. Sie jetzt in der Krise wieder auszugraben, ist ein wenig riskant. Als erstes müssten wir ja dann Gastronomie, Hotellerie und jegliche Form von Zusammenkünften über Bord werfen. Alles ist dank Virus unangemessen und von Streetfood bis Streaming gibt es funktionierende Alternativkonzepte.  Vielleicht hilft ja auch ein Blick zurück auf die Geschichte der Zombies. In der populär gewordenen Form tauchten Zombies zum ersten Mal in William Seabrooks „Magic Island“ auf, einem etwas fiktionalisierten Reisebericht über Haiti. Zombies waren scheinbar willenlose, leicht steuerbare Menschen, die am Rande der Gesellschaft existierten. Die rationalisierte Entstehung für ihren Zustand: Es waren Delinquenten, die zur Strafe und um sie unschädlich zu machen, mit Drogen und vielleicht ein wenig Magie in diesen Zustand versetzt worden waren.

Entgegen allen Vorstellungen von Gewalt und Blutrausch, die das moderne Zombiekonzept bestimmen, waren Zombies also eine Variante der Sicherheitsverwahrung, möglicherweise auch der Sklaverei – denn die frühen Zombies hatten auch Herren.

Vor diesem Hintergrund lässt sich ganz gut erklären, warum ich einen ganz anderen Blick auf Zombiezucht in der Wirtschaftspolitik habe. Förderprogramme wie wir sie kennen, sind in der Regel Werkzeuge zur Zombiezucht. Sie sind in der Regel zu spät und zu konkret. Eine öffentliche Institution hat einen Trend erkannt, beschrieben und in ein Programm gegossen. Das passiert im Nachhinein, Webb schon viele Unternehmen in dieser Schiene erfolgreich waren. Mit Förderungen werden dann viele weitere Unternehmen auf den gleichen Weg geschickt – auf dem sich dann schon einiges drängt. Förderbestimmungen und -quoten binden dann Energie und verhindern flexible Entwicklung. Bis Programme beschrieben und verabschiedet, Förderanträge geschrieben und genehmigt sind, hinken geförderte Projekte in der Regel ihrer Zeit zwei Jahre hinter.

Wäre es also besser, ganz auf Förderungen zu verzichten? Offene Programme, die mehr inhaltlichen Entscheidungsspielraum bei den Unternehmen lassen, wären ein Schritt. Förderungen, die auf lebensnahe und zeitgemäße Entscheidungen anwendbar wären, ebenso.   Gerade in Krisenzeiten könnte es ja sinnvoll sein, mehr auf UnternehmerInnen, ihre Einschätzungen, Erfahrungen und Perspektiven zu achten. Die reflexartig heraufdräuenden Vorwürfe einer wiedererstarkenden Zombieconomy dagegen sind eher selbst Wiedergänger einer vergangenen Zeit – und selbst wenig mehr als Zombies. Umso mehr, als der Großteil der Förderungen hier eher Schadenersatz als Prämie sind.

Was Förderungen im übrigen nicht leisten und auch nicht leisten sollen, ist Absicherung. Soziale Absicherung ist ein Feld, auf dem sich besonders deutlich zeigt, wie unangemessen und unzeitgemäß politische Konzepte heute sind.